Donnerstag, 30. März 2023

Mystik und Meditation im Spiegel von Paul Gerhardt und Gerhard Tersteegen

 


I.  Das Band der Mystik :  
    Paul Gerhardt oder Die Kirchenlieder des Standhaften
     (Vgl. Gerhard Rödding in FAZ 19.03.2007)

 I.1.  Die Bedeutung der Lieder Gerhardts:  "Evangelische" Mystik

"Was klassisch ist", so Hans-Georg Gadamer in "Wahrheit und Methode", "das ist herausgehoben aus der Differenz der   wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks - es ist auf eine unmittelbare Weise zugänglich." Kann man in diesem Sinne einige wenige der etwa 120 bekannten Lieder des vor  vierhundert Jahren am 12. März 1607 im sächsische Gräfenhainichen geborenen Dichters Paul Gerhardt klassisch nennen? Die Frage drängt sich auf, wenn man nur einige Titel  nennt: "O Haupt, voll Blut und Wunden" mit seiner ergreifenden  Verarbeitung in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, "Ich  steh' an deiner Krippen hier", zu dem Bach in den Schemelli-Liedern die Melodie erfand, oder auch "Befiehl du  deine Wege" und "Nun ruhen alle Wälder".

Warum haben diese Lieder Paul Gerhardts die Zeiten überdauert, so dass sie uns noch unmittelbar zugänglich sind? Diese Frage  muss man umso mehr stellen, als seine dichtenden Zeitgenossen längst vergessen sind, obwohl sie zu Lebzeiten hochgeehrt und viel berühmter waren als Paul Gerhardt. Man denke an Paul Fleming oder Georg Philipp Harsdörffer, an Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau oder Philipp von Zesen und all die anderen, die Günter Grass in seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte" zum Kolloquium anreisen lässt. Die Lieder des evangelischen Theologen haben 350 Jahre fast mühelos überwunden und selbst konfessionelle Grenzen gesprengt, denn sie sind heute selbstverständlicher Bestandteil auch katholischer Gesangbücher.

Paul Gerhardt hat im streng lutherischen Wittenberg Theologie studiert und ist von dieser orthodoxen Grundlage seines Denkens niemals abgewichen, von der manche Theologen des neunzehnten Jahrhunderts meinten, sie stehe für den Rückfall evangelischer Theologie in die mittelalterliche Scholastik. An dieser Universität kam er mit der Neubesinnung auf die deutsche Sprachkultur in Berührung, die seit 1624 von Martin Opitz' "Buch von der Deutschen Poeterey" ausgegangen war. In dessen Gefolge unterwies in Wittenberg der Professor Augustus Buchner die Studiosi in Rhetorik und Poesie, bei dem sie nicht nur für Predigt und freie Rede unverzichtbare Sprachfiguren korrekter Prosa lernten, "wolredenheit", wie man sagte, sondern auch das elegante Setzen von Versen. Im Zuge dieses Aufbruchs gehörte das Dichten zur gesellschaftlichen Kultur, die bei jeder nur denkbaren Gelegenheit, bei Amtseinführungen und Magisterpromotionen, bei Hochzeiten und in Trauerfällen in Blüte stand. Dichten war kein Ausdruck  subjektiver Gefühle, sondern die stilvolle Darbietung eines  Grußes oder auch die Darstellung eines Sachverhaltes in überzeugender Sprache, jedenfalls ein erlernbares Handwerk. Da man in späterer Zeit diese literarischen Produkte mit den Augen des "Jungen Werther" las, ist manchem unendliches Leiden nicht erspart geblieben. Man empfand diese frühbarocken  Dichtungen als konstruiert und hölzern, ohne Individualität   und persönliche Gefühle. Unter dieses Verdikt fielen auch Paul Gerhardts Gedichte, mit denen Goethe nicht viel anfangen konnte, und dessen Urteil war für die Schulmeister des neunzehnten Jahrhunderts unantastbar.

I.2.  Sprachformen der mittelalterlichen Mystik

Eines jedoch unterscheidet Paul Gerhardt von anderen Dichtern. Er übernahm Bilder und Sprachformen aus der mittelalterlichen Mystik, wie er dort auch Textgrundlagen für seine Lieder fand, für manche auch dies ein Rückfall ins Mittelalter. So fußt das Lied "O Haupt, voll Blut und Wunden" auf dem lateinischen  Gedicht "salve caput cruentatum" des Abtes Arnulf von Löwen aus dem dreizehnten Jahrhundert, eines Zisterziensers im  Gefolge des Bernhard von Clairvaux, des Vaters der mittelalterlichen Mystik. Der siebenteilige Liedzyklus dient der Betrachtung des Kruzifixus und wendet sich an die einzelnen Gliedmaßen Jesu, an die Füße, an die Knie, an die Hände und schließlich an das Haupt Jesu. Man muss sich den  Beter vorstellen, wie er vor dem Kreuz kniet, sogar den Corpus umarmt und Tränen fließen lässt. Denn er möchte eins werden mit dem Gekreuzigten, eine unio mystica, erotische Assoziationen nicht ausgeschlossen.

Paul Gerhardt hat den gesamten Zyklus übertragen, aber nur das letzte Glied blieb bis heute lebendig und wurde zum herausragenden Passionslied nicht nur der lutherischen Kirche. Dabei allerdings sind die Korrekturen nicht zu übersehen, die der Dichter vornahm. Er mäßigt die mystische Glut, wahrt die  Distanz zwischen Gott und Mensch, zwischen dem einmaligen Geschehen am Kreuz und dem Beter, indem er Arnulfs Text ins moderato überführt. Hier kam ihm sowohl die handwerkliche Dichtkunst wie auch seine in der lutherischen Orthodoxie verwurzelte Grundhaltung zugute. Aber die Verbindung von mystischer Sprache mit orthodoxen Inhalten schuf der evangelischen Kirche das eigentliche Passionslied, das später viele Nachahmer finden sollte.

Auch andere der Mystik entnommene Bilder erweckt der Dichter zu neuem Leben. Da muss man vor allem das Sonnensymbol nennen, ein Bild für den auferstandenen Christus: "Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ." Oder die "Süßigkeit", kein oberflächlich kitschiges Bild, sondern eine alte  Bezeichnung für Gottes Gnade, die wie Honig fließt, "Dein Mund hat mich gelabet mit Milch und süßer Kost". Und dann in vielen Varianten die Schönheit Gottes als Ausdruck seiner Vollkommenheit. Und schließlich das Zwiegespräch mit dem Kind in der Krippe als Mittel mystischer Vergegenwärtigung des Weihnachtsgeschehens.

I.3.  Frühbarocke Dichtkunst, lutherische Orthodoxie
       und mystische Sprache – und die Musik

Paul Gerhardt hat es verstanden, frühbarocke Dichtkunst, lutherische Theologie und mystische Sprache aus mittelalterlichen Quellen in einer einzigartigen Synthese zu verbinden, was in dieser Weise keinem anderen gelungen ist. Trotzdem wären auch diese Lieder lediglich barocke Gedichte geblieben, wenn dem Dichter in seiner Berliner Zeit nicht ein genialer Musiker, der Kantor Johann Crüger, begegnet wäre, der  für sie Melodien komponierte oder ältere fand. Vorbild waren ihm dafür nicht der damals aus Italien herüberschwappende Aria-Gesang, sondern das einfache ältere Volkslied. So wurde die Melodie zu "Mein G'müt ist mir verwirret, das macht ein  Mägdlein zart" dem Passionslied "O Haupt voll Blut und Wunden" zugeordnet, und Heinrich Isaacs "Innsbruck, ich muss dich lassen" dem Abendlied "Nun ruhen alle Wälder". Alle diese Melodien wurden von den Menschen angenommen und gesungen, so dass spätere Komponisten kaum eine Chance hatten, etwas Neues durchzusetzen. Johann Crüger war es auch, der Paul Gerhardts Lieder als Erster drucken ließ. Von 1647 gab er unter dem Titel "Praxis pietatis melica" ein Liederbuch heraus, das fünfundvierzig Auflagen erlebte und in dem fast alle Lieder Paul Gerhardts zum ersten Male erschienen. In der Verschmelzung der Texte des Dichters mit diesen Melodien haben die Lieder die Zeiten überdauert.

I.4.  Paul Gerhardt, der Große Kurfürst FriedrichWilhelm I.
       und die Emigration

Paul Gerhardt, über dessen Leben es auf weiten Strecken nur  wenige Quellen gibt, wurde zu einem aktenkundigen Fall und trat ins helle Licht der brandenburgisch-preußischen Geschichte. Das kurfürstliche Haus war bereits mehr als fünfzig Jahre zuvor von der lutherischen zur calvinistischen Konfession übergewechselt, um sich den nördlichen Niederlanden anzupassen,
(vgl. Konfessionswechsel von Kurfürst Johann Sigismund 1613 [Brandenburg-Lexikon])  auf deren Unterstützung man hoffte, als es galt, die klevische Erbschaft zu erwerben. Das erregte schon damals ziemliche Unruhe, die nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder aufflackerte. Den Großen Kurfürsten jedoch störte theologischer Streit bei der Durchsetzung seiner innenpolitischen Ziele. Er wollte aus seinem ererbten Länderhaufen einen Staat machen, in dem drei Konfessionen in Toleranz nebeneinander leben sollten, ein Novum in damaliger Zeit. Allerdings wurden bei Hofe Männer reformierter Konfession bevorzugt, was bei der lutherischen Mehrheit Misstrauen erregte. Vor allem verbot der Kurfürst seinen Pfarrern die öffentliche Polemik und strich überdies aus den lutherischen Bekenntnisschriften die Teile, die Anlass zu konfessionellem Streit boten. Um diese Politik in jedem einzelnen Fall durchzusetzen, verlangte er von jedem Pfarrer eine entsprechende Unterschrift. Wie immer passten sich die meisten dem Druck der Obrigkeit an und unterschrieben.

Die Pfarrer von St. Nikolai, wo Paul Gerhardt amtierte, und einige andere weigerten sich, forderten Gewissensfreiheit und wollten sich  nicht vorschreiben lassen, was sie zu predigen hätten, so dass es in Berlin zu erheblicher Unruhe kam. Friedrich Wilhelm reagierte hart und entfernte alle aus dem Amt, die nicht unterschreiben wollten, auch Paul Gerhardt, obwohl dieser die Einkünfte aus seiner Stelle weiterhin bezog. Da der Dichter aber nicht zu den Kampfhähnen gehörte, sondern eher still seinen Dienst verrichtete und in der Stadt überaus beliebt war, kam der Unmut über diese Maßnahme besonders deutlich zum Ausdruck, so dass sich sowohl der Magistrat wie die brandenburgischen Landstände in mehreren Bittschriften an den Kurfürsten wandten, er möge Paul Gerhardt wieder in sein  Amt einsetzen. Nach längerem Zögern entsprach der Kurfürst dieser Bitte. Allerdings hat der Dichter das großzügige Angebot nicht  angenommen, sondern emigrierte ins Ausland, nach Lübben im  Spreewald, das damals zu Sachsen gehörte, wo die brandenburgischen Edikte nicht galten. Hier tat er noch fast  sieben Jahre bis zu seinem Tode am 27. Mai 1676 pfarramtlichen Dienst.

I.5.  Das Verstummen des Dichters
       und die bleibende Bedeutung der Lieder

Freilich verstummte die dichterische Stimme. Seit dem großen Konflikt gibt es kein Gedicht mehr von ihm. Der Eingriff der Staatsmacht in sein geistliches Amt muss den ansonsten folgsamen Untertanen sehr getroffen haben. Die Lieder Paul Gerhardts in ihrer Synthese von lutherischer  Theologie, frühbarocker Dichtkunst und mystischer Bilderwelt,  verbunden mit einfachen Melodien, haben ihre Bedeutung  keineswegs nur für den innerkirchlichen Gebrauch, sondern sind  ein einzigartiges Zeugnis deutscher Dichtkunst. Obwohl vieles nur mit Hilfe historischen Verstehens erschlossen werden kann  und mancher Gedankengang unserer Zeit fremd ist, gibt es doch einige Lieder, die auch heute noch unmittelbar zugänglich sind  und darum klassisch genannt werden können.

 

II.  Gerhard Tersteegen
     (25.11.1697 in Moers bis 03.04.1769 in Mülheim/Ruhr)

 

Gerhard Tersteegen wurde als siebtes von acht Kindern in einem von reformierter Frömmigkeit geprägtem Elternhaus geboren. Damals war die Erinnerung an die schrecklichen Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges noch lebendig. Als zwei Jahre nach seiner Geburt der Spanische Erbfolgekrieg begann, kam von neuem Morden und Sterben über die Völker in Europa. Wenn Tersteegen immer wieder dazu riet, der Bilder alle zu vergessen, hatte er gewiss diese Situation vor Augen: seine Absage an die Welt war wohl zuerst eine Absage an die Welt des Krieges.

Als Tersteegen sechs Jahre alt war, starb sein Vater. Gerhard besuchte die Lateinschule, der Unterricht bestand aus Griechisch, Hebräisch, Latein und täglich vier Stunden Katechismuskunde; aus finanziellen Gründen war dem begabten Jungen ein Studium nicht möglich. Als Sechzehnjähriger ging er nach Mülheim zu seinem ebenso erfolgreichen wie brutalen Schwager in die Kaufmannslehre, versuchte dann zwei Jahre lang ein eigenes Geschäft zu betreiben. Tersteegen machte die Bekanntschaft Erweckter, die ihm Schriften der Mystiker nahebrachten, auch die von Thomas von Kempen. Er war davon so beeindruckt, dass er das Gelesene ins Deutsche übersetzte. Er und sein Mitarbeiter arbeiteten von morgens 6 bis 11 Uhr, hierauf sonderten sie sich ein Stündchen ab, um dem Gebet zu obliegen, von 13 bis 18 Uhr setzten sie die Arbeit fort und verwendeten abermals ein Stündchen zur Absonderung und zum Gebet.

1719 stieg er aus dem ungeliebten Beruf als Kaufmann aus und wurde Seidenbandweber - ein Hungerleiderberuf mit viel Arbeit in verkrümmter Haltung vor dem Webstuhl. Er lebte nun zurückgezogen und Ärmlich, hatte aber endlich Zeit, sich mit seinen geliebten Büchern zu beschäftigen. Am Gründonnerstag 1724 hatte er sein Bekehrungserlebnis, das seine dunklen Jahre beendete. Mit seinem eigenen Blut hielt er seine Verschreibung fest: Meinem Jesus! Ich verschreibe mich dir, meinem einzigen Heiland ... zu deinem völligen und ewigen Eigentum. Ich entsage von Herzen allem Recht und aller Macht über mich selbst. Von diesem Abend an sei dir mein Herz und meine ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert. ... Befehle, herrsche und regiere in mir!

Vier Jahre später machte Tersteegen mit 31 Jahren mit seiner bürgerlichen Existenz endgültig Schluss; er gab seinen Beruf auf, lebte Äußerst bescheiden in einer einfachen Hütte und wirkte als Prediger in der protestantischen Erweckungsbewegung. Er legte in Scheunen und Schuppen die Bibel aus; in seinem ganzen Leben stieg er nur einmal auf eine Kanzel, bei den Mennoniten in Krefeld, denn den Pastoren der Evangelischen Landeskirche war der seltsame Wanderprediger unheimlich: sie beschwerten sich bei der Kirchenleitung über ihn und wollten ihn loswerden, aber das Konsistorium hatte an seiner Lehre nichts auszusetzen. Abends studierte und übersetzte Tersteegen nun erbauliche Bücher, schrieb 24 Biografien von großen Christen, die allesamt katholisch waren, darunter von Franziskus von Assisi und Teresa von Ávila. Im Kurzen Bericht von der Mystik erfahren wir, wie wir uns sein Leben vorstellen können: Mystiker reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlass, der geheime Umgang mit Gott ist ihr ganzes Geheimnis.

Tersteegens Predigten richteten viele Menschen auf; die Zahl seiner Briefe geht in die Tausende. Er besuchte auf vielen Reisen die Menschen, und er wurde zu Hause in seiner Pilgerhütte von ihnen besucht; oft war er von mehr als dreißig bekümmerten Seelen auf einmal umringt. Er ermutigte Zweifelnde, stärkte Zaghafte, gab Nahrungsmittel, die man ihm schenkte, an Arme weiter, wirkte als Laienarzt und verteilte an Bedürftige Heilmittel, die er eigens mixte. 1729 veröffentlichte er unter dem Titel Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen Lieder, die zum Teil noch heute Gemeingut in evangelischen Gemeinden sind; 111 von ihm gedichtete geistliche Lieder sind uns überliefert. Vier Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod lebte er seinen Glauben mit all der Inbrunst, die seine schwache Gesundheit erlaubte.

Tersteegens Schriften wurden weit verbreitet. Friedrich der Große lud auf einer Reise an den Niederrhein den bekannten Schriftsteller zu einem Gespräch ein, das Tersteegen allerdings - wie so oft krankheitshalber - absagen musste. Russische Soldaten haben 1812 am Niederrhein nach Tersteegens Grab gefragt, denn sein Gedicht Ich bete an die Macht der Liebe hat durch die Vertonung eines russischen Komponisten die Menschen dort ergriffen - schon bevor Friedrich Wilhelm III. es zum Abendgebet des preußischen Heeres machte und es zum großen Zapfenstreich deutscher Soldaten wurde.

Das Evangelische Gesangbuch enthält heute acht Lieder von Tersteegen, darunter so bekannte wie Brunn alles Heils, dich ehren wir (EG 140) und Gott ist gegenwärtig (EG 165); im katholischen Gotteslob findet sich Jauchzet, ihr Himmel (GL 144).

Übernommen aus:  Ökumenisches Heiligenlexikon: http://www.heiligenlexikon.de/BiographienG/Gerhard_Tersteegen.htm1

Gott ist gegenwärtig (EG 165)

1.  Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten

Und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Gott ist in der Mitte.

Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge.

Wer ihn kennt, wer ihn nennt,

schlagt die Augen nieder; kommt ergebt euch wieder.

                             2.  Gott ist gegenwärtig, dem die Cherubinen

                             Tag und Nacht gebücket dienen.

                             Heilig, heilig, heilig!

                             singen ihm zur Ehre aller Engel hohe Chöre.

                             Herr, vernimm unsre Stimm,

                             da auch wir Geringen unsere Opfer bringen.

3.  Wir entsagen willig allen Eitelkeiten,

aller Erdenlust und Freuden;

da liegt unser Wille,

Seele, Leib und Leben dir zum Eigentum ergeben.

Du allein sollst es sein,

unser Gott und Herre, dir gebührt die Ehre. (vgl. Jes 6,3)

                             4.  Majestätisch Wesen, möcht ich recht dich preisen

                             und im Geist dir Dienst erweisen.

                             Möcht ich wie die Engel

                             immer vor dir stehen und dich gegenwärtig sehen.

                             Lass mich dir für und für

                             trachten und gefallen, liebster Gott, in allem.

5.  Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben,

aller Dinge Grund und Leben,

Meer ohn Grund und Ende,

Wunder aller Wunder: ich senk mich in dich hinunter.

Ich in dir, du in mir,

lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.

                             6. Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte,

                             Herr, berühren mein Gesichte.

                             Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
                             und der Sonne stille halten,

                             lass mich so, still froh

                             deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.

7. Mache mich einfältig, innig, abgeschieden,

sanft und still in deinem Frieden;

mach mich reines Herzens,

dass ich deine Klarheit schauen mag in Geist und Wahrheit;

lass mein Herz  überwärts

wie ein’ Adler schweben und in dir nur leben.

                             8. Herr, komm in mir wohnen, lass mein' Geist auf Erden

                             dir ein Heiligtum noch werden;

                             komm, du nahes Wesen

                             dich in mir verkläre, dass ich dich stets lieb und ehre.

                             Wo ich geh, sitz und steh,

                             lass mich dich erblicken und vor dir mich bücken.

Gedichtet wahrscheinlich 1729

 

III.  Der Anspruch des Schweigens.
Gedanken zur christlichen Meditation in christlichen Kontexten

III.1. Christliche Meditation im Sog östlicher Meditationsformen?

Was die aus dem fernen und nicht so fernen Osten kommenden Formen der Meditation von den Jüngern Hare Krishnas über die Transzendentale Meditation des Maharishi Mahesh Yogi bis hin zu Yoga-Kursen und Übungen im Stile des Zen-Buddhismus für viele junge Menschen so attraktiv macht, scheint mir darin zu liegen, dass all diese Gruppen, die seriösen wie die recht zweifelhaften, in un­serer westlichen Gesellschaft Defizite entdeckt haben, die unsere herkömmlichen Einrichtungen bis hin zu den Kirchen nicht mehr oder nur unbefriedigend decken. Denn einen Mangel entdecken ist eines, ein Lösungsangebot machen, das als eine Alternative verstanden wird, ein anderes.

In Schule und Beruf, aber auch bei der Art, wie wir unsere Freizeit verbringen, spricht es sich langsam herum, dass wir einem Leistungsdruck, gesellschaftlichen Zwängen und Normen ausgesetzt sind, die viele nach den unterschiedlichsten Auswegen suchen lassen. Vom chemischen Trip mit der lega­len oder illegalen Droge bis hin zur religiösen Ekstase, okkulter Geisterbeschwörung und Schamenen-Beratung  ist heutzutage fast alles möglich.

In solch defizitärer Situation sehnen sich Menschen nach Entspannung, Ruhe und Besinnung und Lebensorientierung. Nach dem vielen, was auf uns eindringt, drohen wir uns selbst zu verlieren, je mehr wir nach Befriedigung und Erfolg für uns jagen. Überdies erfährt mancher - in einer Situation ansteigender Arbeitslosigkeit und bedrohter Zukunft zuweilen recht brutal - dass die Erstrebens-Werte unseres Alltags der Frage nach dem Sinn unseres Lebens nicht standhalten. So haben seit mehreren Jahren asiatische Meditationsformen zusehends auch in unserem Lande an Boden gewonnen. Die Wellen wirken bis in die Volkshochschulen hinein, deren Yogakurse seit vielen Jahren gut besucht sind. Des Öfteren machen spektakuläre religiöse Gruppierungen mit fernöstlichem Touch und unterschiedliche Guru-Bewegungenr bis in die Gerichtssäle hinein immer wieder von sich reden. Der Suchende be­gegnet einer Fülle von Gruppen, die ihm alle seinen Seelenfrieden und oft genug noch mehr versprechen, wenn er sich ihnen völlig ausliefert.

Die Weltanschaungsbeauftragten der Landeskirchen und die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin (EZW), die über ausgezeichnetes Informationsmaterial verfügen, beobachten aufmerksam und zum Teil mit Sorge diese Entwicklung, weil die Unterscheidung der Geister so schwerfällt. Denn ob das Heil bei solchen Adaptionen aus dem Osten oder beim Nacherleben indigener Spiritualität  (Amerikas oder Zentralasiens) kommt, steht noch dahin, insbesondere wenn sich manche exotische Blüte im Blumengarten der Meditation als Sumpfblüte erweist.

Versuchen nun christliche Gruppen und Kirchen mitzuhalten, wenn sie den Begriffe wie Meditation oder auch Yoga aufnehmen? Überhaupt lässt sich schwer beschreiben, inwiefern sich christliche Meditation (von bestimmten für einzelne Religionen typischen Ritualen) unterscheidet oder gar unterscheiden muss, Im Horizont des zunehmenden und auch notwendigen Dialogs der Religionen, aber auch wachsender Säkularisierung geraten die unterschiedlichen Spiritualitäten vor erhebliche Herausforderungen. 

Von spirituellen Modetrends, aber auch wachsender Fundamentalismen in den Religionen und eben auch im Christentum abgesehen,  melden sich in der Begegnung mit mystischen Strömungen in allen Religionen ursprüngliche menschliche Erfahrungen und Visionen vehement zu Worte, die zumal in den evangelischen Kirchen als der sogenannten Kirche des Wortes immer noch ein wenig mit dem Geruch des Schwärme­rischen, Sektiererhaften behaftet waren.

Auf katholischer Seite wurden dagegen geistliche Übungen, Meditation und Gebet in einer sehr verinnerlichten Weise stärker gepflegt als in den Kirchen der Reformation. Aber hier haben sich die konfessionellen Unterschiede weitgehend aufgelöst.

So brauchen in den evangelischen Kirchen neben der weiterhin einzufordernden intellektuellen Redlichkeit der Theologie meditative Element und Hinwendung zu mystischen Traditionen insgesamt noch mehr Raum, als das bisher geschehen ist. 

Denn im christlichen Glauben hat die Meditation im weiten Kontext des Gebets (der Worte, aber auch des Schweigens) seinen festen Platz, wie an den Geschichten Jesu abzulesen ist, der sich des Öfteren über längere Zeit in die Stille der Berge oder der Wüste zurückzog, um zu fasten und zu beten (zum Beispiel Mt. 14, 13.23, besonders aber die Versuchungsgeschichte Mt. 4,1-11).

Mir scheint allerdings, dass erst der Anstoß aus dem Osten kommen musste, dass in der 2. Hälfte es 20. Jahrhunderts erst Tau­sende nach Indien pilgern mussten und manch seltsamer Guru mit noch seltsameren Geschäftspraktiken Unruhe stiften musste, ehe nicht nur wenige, sondern eine größere Anzahl von Christen in unseren Kirchen sich wieder auf diese verschüttete mystischen Quellen unseres Glaubens besannen. Das Vergessen war zusätzlich durch eine überbordende zuweilen ihre Basis vergessende sozialreformerische Tätigkeit begleitet. Damit war ein Gleichgewicht zerstört worden, das die Mönchsorden sich immer wieder vor Augen hielten: Ora et labora! Bete und arbeite!

III.2.  Meditation zur Lebensorientierung

Es steht außer Frage, dass Meditations­übungen, besonders die seriösen und nicht mit leichter Hand zu erlernenden, etwa die des Zen-Buddhismus, tatsächlich hilfreich sein können. Ein Weg zur Selbstwerdung und Selbstfindung wird hier gebahnt, zuweilen jedoch in einer Weise, die westlichem Denken diametral entgegengesetzt ist. Meditationsübungen östlicher Her­kunft ohne das zeitweise Sich-Einlassen die damit verbundene religiöse Basis, halte ich für nahezu unmöglich, sofern sie nicht zu spiritueller Gýmnastik degradiert wird..

Da aber in einer leistungsgeprägten Ge­sellschaft das Bedürfnis wächst, Orientierung zu finden und alternative Lebensstile zu erproben, lohnt es sich auf der Basis eines allerdings unkonventionellen, - jedoch durchaus der eigenen Traditionen bewusst -  neue Zugänge der Selbstwerdung zu eröffnen. So sollten Angebote im Horizont der christlichen Tradition nicht  verschwiegen werden. Es bringt nichts, sich auf das Trittbrett des des jeweils spirituellen Zeit-Zuges zu springen. Dies ist allein schon deshalb gar nicht nötig,  weil sich eine gewisse Erleichterung für jeden Menschen, auch für den nicht christlich geprägten dadurch anbietet, dass es eine Reihe von (religiösen) Grunderfahrungen gibt, auf die jede Weise der Meditation zurückgreift. Ich würde dazu rechnen:

v  Vorformen der Meditation, die jeder auf Grund seiner Lebensgeschichte individuell und spontan praktiziert hat, wie das Sich-Versenken und Stillewerden in einer besonderen oder nach einer bzw. vor einer schwierigen Situation.

v  Körperhaltung, insbesondere die Beachtung des Atems.

v  Das absichtslose Schweigen und das Aufnehmen der Stille.

v  Das Sich-Entspannen, Loslassen und Auslaufenlassen,
von all dem, was beschwert und drückt.

v  Den Weg der Meditation Schritt für Schritt und Stufe für Stufe weitergehen, ohne zu glauben, damit das Entschei­dende (wie Erlösung, Heil, Erleuch­tung, Nirwana) herbeizwingen zu kön­nen, aber in der Hoffnung auf das Unbedingte, Unverfügbare und Entscheidende den Lebensrhythmus verändern und damit hoffen, ein anderer werden.

Wer in dieser Weise mit seinem Leben »tabula rasa« macht, gerät  unweigerlich in eine betende Besinnung, die in alle Bereiche des Lebens dringt und sie verändert.

Das Jesuswort: Wer sich selbst verliert, der wird sich finden bzw. wer sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es finden (Mt. 10,39) nimmt zum einen Grunderfahrungen der Meditierenden in aller Welt auf, zum andern aber wird der, der sich selbst aufgibt, der sich selbst drangibt, um nicht irgendetwas, sondern dem Geheimnis "Gott" bzw. einer unfassbaren Wirklichkeit näher zukommen,, auch sich selbst auf neue Weise finden.
Man kann es auch so sagen: Die manchmal in verdichteter Meditation gefürchtete Leere wird nicht zum Tummelplatz obskurer Geister. Das Aufbrechen des Unbewussten, der Begeg­nung mit dem Archetypischen erhält vom christlichen Glauben her in  Gestalt Jesu von Nazareth eine Leitmarkierung.

Diejenigen, die sich auf solche Meditation einlassen, müssen keinerlei religiöse Vorleistungen erbringen, aber indem sie sich bewusst  Stille einlassen, werden sie - um es bildlich zu sagen - im Schweigen den langen Atem Gottes spüren. Christliche Meditation versinkt darum nicht im personlosen Nichts, aber dies bisherigen Gottesbilder werden zweitrangig. Und irgendwann wird das meditative Schweigen sein Wort finden: Die Psalmen der Bibel, die Gebete vieler Glaubender, unbekannter und berühmter, sind Beispiele genug dafür.

Mit der Meditation, auch der christlichen, lässt sich also die eigene Lebensgeschichte nicht absichern, das eigene Lebensskript nicht eigenmächtig umschreiben, aber die Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis und die Entdeckung, dass das Symbol des lebendigen Christus Orientierung bieten kann,  wirkt das Leben verändernd. Der hieraus sich entwickelnde Glaube wird sich nicht dogmatisch engführen lassen, sondern im Schweigen, in der Stille-Begegnung findet der Glaube sein Wort, es ist das Wort der Liebe. Es ist ein Wort des veränderten Lebensstiles.

Es gibt auf katholischer und evangelischer Seite heutzutage Beispiele dafür, Kommunitäten und christliche Gruppen versuchen, die Konsequenzen nicht nur zu bereden, sondern zu leben.

Der Aufbruch aus den Zwängen einer abgesicherten Existenz in das Wagnis, sich auf eine umfassendere Wirklichkeit einzulassen, ist meist kein plötzliches Geschehen, sondern es vollzogen sich etwas, was nicht ohne Signalwirkung auf unsere Gesellschaft bleibt, so wie es der Dalai Lama ausgedrückt hat: Der Friede beginnt in dir

Nicht spirituelle Anstrengungen zur mystische Einung mit dem Göttlichen sind darum das Ziel  Meditation, sondern das sich "Ein-Lassen", das  "Lassen" des Ichs nach Meister Eckhart. So wird schließlich die Innen- und Außenseite des Lebens verwandelt und Neuwerdung ermöglicht.
Wie sang doch Gerhard Tersteegen?

Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so, still froh
deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.

Der ursprüngliche Text aus Abschnitt III erschien unter dem Titel: Der Anspruch des Schweigens. Gedanken zur christlichen Meditation im DtPfBl 79. Jg. , Nr. 74 (2. Heft, Dezember 1979, S. 770-771 und wurde mehrfach überarbeitet/verändert.

Ergänzendes:

Reinhard Kirste

Relpäd/Meditation und Mystik,  bearbeitet 14.08.09
und  30.03.2023

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