Dienstag, 28. März 2023

Eckhard Freyer: Der Krieg in der Ukraine - Hintergründe und aktuelle Bezüge

Martin Schulze Wessel: 
Der Fluch des Imperiums. 
Die Ukraine, Polen und der Irrweg
der russischen Geschichte.  

München: C.H. Beck 2023, 352 S., 20 Abb.
 
--- ISBN 978-3-406-80049-8 ---

Neben der hier angekündigten Rezension erscheint es
mir notwendig, auf folgende Zusammenhänge
- nicht nur aus ökonomischer Sicht -
aufmerksam zu machen:

1. Wirkungsgeschichtliche Anmerkungen

Dieses Buch des Osteuropa-Experten bietet exzellente Einblicke in wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge der Osteuropapolitik mit Schwerpunkten auf der Ukraine, Polen und Russland.
Im Horizont dieser in Europa lange nicht mehr so dagewesenen Kriegssituation lassen sich gewissermaßen alte Weisheitsworte abwandeln: 
Sic transit gloria mundi! Abwandlung eines Wortes von Thomas von Kempen: „O quam cito transit gloria mundi!“(„O wie schnell vergeht der Ruhm der Welt!“) oder etwa die Bibelstelle, 
1. Johannes 2,17 auf die  Europäische Union bezogen: „Die Welt vergeht und ihre Begierde“ in der Fassung der Vulgata: „Mundus transit et concupiscentia eius“ (2,17 Vul).

Aber konkret nun aus ökonomischer Sicht: 
»Aus einer rein wirtschaftlichen Logik heraus hätte es diesen Krieg nie geben dürfen«. Diese Einschätzung des Krieges durch den Historiker Martin Schulze Wessel: ist für mich als Ökonom noch mehr Unverständlichkeiten. Nicht umsonst hatten Sberbank und russische Zentralbank wegen Sanktionen usw. Bedenken gegen den Angriff angemeldet.

2. Die Fortsetzung eines Irrwegs russischer Geschichte

Michael Thumann: REVANCHE.
Wie Putin das bedrohlichste Regime
der Welt geschaffen hat. 
München: C.H. Beck 2023,
2. Aufl., 288 S., Abb.  Rezension >>>

Wladimir Putin glaubt, 
dass er der richtige Repräsentant seiner Nation ist. Aber man kann sich leicht auch eine andere Figur aus seinem Umfeld an der Staatsspitze vorstellen, die einen ähnlich aggressiven Weg einschlägt. Wessel zeigt in seinem Buch, wie das Ausgreifen in die Ukraine und die Teilung Polens seit dem 18. Jahrhundert einen Irrweg in der russischen Geschichte begründeten, der als „Fluch des Imperiums“ bist heute fortwirkt. Deutschland hat sich nach 1945 von seinem "Fluch des Imperiums" befreit und sich in Richtung Westen geöffnet. Russland steht dieser Weg noch bevor. Vor dem 24. Februar 2022 schien Putins Regime vielen Beobachtern vor allem am eigenen Machterhalt und der persönlichen Bereicherung interessiert zu sein. Doch der neuerliche Angriff auf die Ukraine, die Brutalität der Kriegsführung und die Hasspropaganda in den Staatsmedien lassen sich damit nicht wirklich erklären. Es ist das 
Identitätsproblem Russlands, das sich aus seiner imperialen Vergangenheit speist, eben der Fluch des Imperiums: die eng verflochtene Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen im Kontext der internationalen Politik. Dabei geht es nicht nur um imperiale Herrschaftsansprüche, sondern auch um einen ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert herausbildete, und in dem Deutschland lange auf Seiten Russlands stand. Was Deutschland nach 1945 gelang, steht Russland noch bevor: die Abkehr vom Imperium.

3. Politische Sprachreglementierungen

Russland hat aufgrund der Entwicklungen in Georgien ehemalige Sowjetrepubliken vor einer Annäherung an den Westen gewarnt. Sergej Lawrow, russischer Außenminister sagte am 10.2.23 im russischen Fernsehen: „Mir scheint, dass alle Länder rund um die Russische Föderation ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus ziehen sollten, wie gefährlich es ist, einen Weg in Richtung (...) der Interessenzone der Vereinigten Staaten einzuschlagen.“
Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS berichtete dazu, dass Putin das bereits bestehende „Gesetz über den formellen Gebrauch des Russischen“ verschärft hat. Demnach ist es russischen Regierungsbeamten ab sofort verboten, bei der Ausübung ihrer Aufgaben Fremdwörter zu verwenden, für die es auch einen entsprechenden russischen Begriff gibt: Bei der Verwendung von Russisch als Staatssprache der Russischen Föderation ist es nicht erlaubt, Wörter und Ausdrücke zu verwenden, die nicht den Normen des modernen Russisch entsprechen ... mit Ausnahme von Fremdwörtern, für die es keine weit verbreiteten entsprechenden Entsprechungen gibt auf Russisch“, heißt es in dem Text zur Gesetzesnovelle. Eine Liste der Fremdwörter, die noch verwendet werden dürfen, soll separat veröffentlicht werden. Aber Deutsch ist in der russischen Sprache sehr präsent: Bekanntermaßen haben in der russischen Sprache zahllose Fremdwörter seit Alters her einen festen Platz – auch sehr viele deutsche: Von „buterbrod“ (Butterbrot oder Sandwich) über „parikmacher“ (Friseur) bis hin zu „bjurger“ (Bürger), „potschtamt“ (Postamt), „marschrutka“ (Richtung) oder „schtempel“ (Stempel).

Aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die russische Sprache längst zu einem hochpolitischen Thema geworden. Seit Beginn des Überfalls vor einem Jahr gilt eine Sprachregelung, die auch Kriegshandlungen betrifft – bei Verstößen dagegen drohen hohe Strafen. Auch diese Strafen werden drastisch verschärft: Während bisher eine „Diskreditierung“ der russischen Armee mit fünf Jahren Haft bestraft werden kann, soll das künftig für alle kämpfenden Einheiten gelten, also auch für die Privatarmee Wagner. Gleichzeitig wird das Strafhöchstmaß von fünf auf bis zu sieben Jahre Haft angehoben. Die Lesung der Strafverschärfung in der Duma (Parlament) ist abschließend am 14. März. Statt dem Wort „Krieg“ sollen die Wörter „Befreiung“, „Befreiungsmission“, „Spezialoperation“ verwendet werden. Begründung: Diese Begriffe würden keine „Panik“ auslösen. Dabei hat Putin selbst in seiner Rede am 21. Februar 2023 das „verbotene Wort“ verwendet und müsste konsequenterweise jetzt eigentlich bestraft werden. In einer Rede zur Lage der Nation behauptete er, der Westen sei es gewesen, der „den Krieg begonnen“ habe.

Auch die Formulierungen „Militäroperation“, „Eroberung durch das russische Militär“ sind tabu, wie die Plattform globalvoices.org auflistet. Gebiete in der Ukraine werden auch nicht „erobert“, nicht einmal „unter Kontrolle genommen“, sondern prinzipiell „befreit“. Für die russische Armee gibt es auch keinen „Rückzug“. Der Verlust von Gebieten wie im November 2022 im Fall der Stadt Cherson sei für russische Mediennutzer als Geste des guten Willens“ zu umschreiben.Es darf auch in russischen Medien nicht von der „Gegenoffensive der Streitkräfte der Ukraine“ gesprochen werden, sondern von „verzweifelten Angriffen“.
Die russische Anthropologin Alexandra Arkhipova zitiert auf globalvoices.org aus einem Leitfaden für russische Medien: „Gefährliche Themen ganz vermeiden; wählen Sie als Ersatz Wörter, die nichts mit dem Tod von Menschen und Krieg zu tun haben; den Feind dämonisieren.“ Weil es keinen Krieg gegeben darf, hat die russische Sprachpolizei natürlich auch das Wort „Front“ verboten. „Kontaktlinie“ heißt das jetzt in Putins Neusprech. Wenn Russen bei der Einberufung fragen, „werde ich jetzt an die Front geschickt“, dann wird ihnen barsch geantwortet: „Nein, du gehst die Kontaktlinie verteidigen.“

Putin verschärft das Gesetz gegen "verbotene Wörter" in der russischen Sprache
(Redaktionsnetzwerk Deutschland, 12.03.2023)

AberDie «Spezialoperation», die Putin vom Zaun brach, ist Russlands Krieg. Es ist ein Krieg, der nicht ausschließlich mit dem Blick auf die Gegenwart verstanden werden kann. Denn es geht nicht nur um rational fassbare Interessen der Clique, die in Russland das Sagen hat“Mit dem Komplex von imperialen und nationalistischen Vorstellungen, die im 19. Jahrhundert geprägt wurden, haben wir es noch heute zu tun. Sie wirken sich im gegenwärtigen Krieg verheerend auf die Ukraine aus, und sie hindern Russland daran, einen Platz in einer multilateralen europäischen und globalen Ordnung einzunehmen, der der eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung förderlich ist. 

Hier sei besonders auf Schulze Wessel verwiesen (S. 11 und S. 19):  Die Begründung für den Krieg "basiert auf historischen Versatzstücken – die heilige gemeinsame Vergangenheit von Russen und Ukrainern in der mittelalterlichen Rus’, die Dämonisierung der ukrainischen Führung als Fortsetzer Banderas und als fünfte Kolonne eines aggressiven Westens. Sie ist ein ideologisches Konstrukt aus historischen Zitaten, das in Russland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Tradition hat".

4. Sanktionen gegen Russland und die Statistikzensur - die wirtschaftlichen Folgen 

Nach den ersten Kriegsmonaten war der Internationale Währungsfonds (IWF) zunächst davon ausgegangen, dass die russische Wirtschaft um 8,5 Prozent schrumpfen würde. Tatsächlich waren es minus 2,2 Prozent. Für Kritiker der Strafmaßnahmen war das schon damals der Beweis: Die Sanktionen gegen Russland würden nicht wirken.
Dennoch: Die Strafmaßnahmen wirken – und treffen Russland stärker als den Westen.
Aber: Für Putin sind die Wirtschaftsdaten darum auch eine Kriegswaffe. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass er sie nicht fälschen würde. Auch deshalb führte der Kreml 2022 eine Statistikzensur ein. Es werden kaum Wirtschaftsdaten, keine Daten über internationale Reserven, keine Handels- und Produktionszahlen veröffentlicht. Die Folge: Es gibt keine Transparenz. Russlands Statistiken bilden  einen zentralen Bestandteil seines Informationskrieges: 2022 durch gestiegene Erträge aus dem Öl- und Gashandel zusätzliche Einnahmen im Staatshaushalt von 10 Prozent. Doch die Staatsausgaben stiegen durch den Krieg jedoch um 20 Prozent.

Weil die Hauptkunden in Europa und in den USA fehlen, muss Putin seine Rohstoffe nun an China/Indien verkaufen; und diese nutzen die russische Notlage aus: Russland muss sie zu Billigpreisen verschleudern. Dadurch sinken auch die Weltmarktpreise, zum Nachteil Moskaus.

Laut dem finnischen Forschungsinstitut "Centre for Research on Energy and Clean Air" könnte der Kreml durch den Ölbann und die Preisobergrenze 160 Millionen Euro am Tag verlieren. Die Steuereinnahmen aus Öl und Gas sind im Februar 2023 gegenüber dem Vorjahr um 46 Prozent auf 521 Milliarden Rubel (6,91 Milliarden US-Dollar) gefallen. Die Einnahmen aus Rohöl und Erdölprodukten – die im vergangenen Monat mehr als zwei Drittel der Energiesteuereinnahmen ausmachten – gingen laut Berechnungen des US-Senders Bloomberg um 48 Prozent auf 361 Milliarden Rubel (4,8 Milliarden US-Dollar) zurück:
Im 1. Quartal 2023 wird für die russische Wirtschaft die Kriegslast immer schwerer. Die aktuellen Zahlen zeigen für die russische Ökonomie, die zum Großteil auf den Export von Rohstoffen angewiesen ist. Die Landeswährung Rubel schien stabil zu bleiben, eine Hyperinflation blieb aus. Aber auf internationalen Kapitalmärkten wird die russische Währung kaum noch gehandelt und – wenn überhaupt – kann sie nur gegen chinesische Yuan eingetauscht werden. Das verzerrt den Rubel-Kurs gegenüber dem Euro und dem Dollar.

Es ging deshalb darum, die russischen Finanzbeziehungen mit dem Westen zu kappen. Diese Ziele werden wahrscheinlich erreicht. Die russische Zentralbank und die meisten Geschäftsbanken im Land sind vom internationalen Zahlungsverkehr abgeklemmt. Die US-Regierung geht davon aus, dass Russland bis 2030 bis zu 20 Prozent seines BIP verlieren könnte. Die Sanktionen verlangsamen Produktion und Handel und das Umgehen der Strafmaßnahmen ist zwar über Drittstaaten möglich und für den Westen ärgerlich, aber es kostet russischen Unternehmen viel Zeit und Energie. Die Lücken zwischen dem Westen und Russland wird ökonomisch dadurch immer größer.

Das Ölgeschäft ist mittlerweile ein riesiges Verlustgeschäft für Putin, weil der Preis der Förderung die Kosten nicht mehr deckt. Denn Russland kann nicht so billig produzieren wie zum Beispiel Länder im Mittleren Osten. Schon jetzt ist die russische Wirtschaft durch Subventionen aus Putins sogenanntem Wohlstandsfond aufgeblasen; und ein maßgeblicher Teil in der Wertschöpfung des BIP kommt von der Rüstungsindustrie. 
Mehr als tausend ausländische Unternehmen haben Russland 2022 verlassen. Putin vor einigen Tagen: "Alles Gute! Sie verlieren unseren Markt, werden enorme Verluste erleiden. Es ist ihre Entscheidung." Wenn jemand glaube, dass "alles bei uns zusammenbrechen und auseinanderfallen wird - nein: Nichts ist zusammengebrochen oder auseinandergefallen".

--- Wie die Russland-Sanktionen wirken (ARD, Tagesschau, 22.02.2023)
--- Putins unverhoffte Gewinne (ZEIT online, 13.03.2023)

Auch die Zahl der ausländischen Besucher brach um 96 Prozent ein.
Statt fünf Millionen im Vor-Corona-Jahr kamen
2022 wegen der Sanktionen - und erschwerend wegen der strikten Corona-Beschränkungen Chinas - nur noch 200.000 Besucher, so die offiziellen Zahlen des russischen Tourismus-Verbands. Dazu ist der europäische Luftraum für russische Airlines 
geschlossen, und die Straßen für die meisten russischen Speditionen gesperrt.

Um 70 Prozent brach die Autoproduktion 2022 in Russland ein, damit auf ein historisches Tief. Auch die mehrfach verschärften Erdölsanktionen scheinen zu funktionieren: 23 Milliarden Euro Defizit im russischen  Staatshaushalt (Stand: Januar 2022). Auch Goldreserven wurden verkauft. Die Sanktionen haben für erhebliche Wohlstandsverluste in der Bevölkerung gesorgt, während sich die Oligarchen und Reiche auch jetzt westliche Produkte leisten können. Sie finden ebenfalls Reisemöglichkeiten, weil es trotz Sanktionslisten viele Ausnahmen gibt.

Neben den eigenen Recherchen sei darum verwiesen auf:
Institut der Deutschen Wirtschaft – IW-Kurzbericht 13/2023: 
Nach einem Jahr Krieg – Der Schein einer stabilen russischen Wirtschaft trügt

Erschienen: 16.03.2023

Reinhard Bingener / Markus Wehner: Die Moskau-Connection.
DAS SCHRÖDER-NETZWERK UND
DEUTSCHLANDS WEG IN DIE ABHÄNGIGKEIT.

München: C.H. Beck 2023, 304 S., Abb., Karte
--- ISBN 
978-3-406-79941-9
Inhaltsverzeichnis & Leseprobe >>>
                                    


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