Martin Schulze Wessel:
Der Fluch des Imperiums.
Die Ukraine, Polen und der Irrweg
der russischen Geschichte.
München: C.H. Beck 2023, 352 S., 20 Abb.
--- ISBN 978-3-406-80049-8 ---
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auf der Rezensionsseite
der Interreligiösen Bibliothek (IRB)
Neben der hier angekündigten Rezension erscheint es
mir notwendig, auf folgende Zusammenhänge
- nicht nur aus ökonomischer Sicht -
aufmerksam zu machen:
1. Wirkungsgeschichtliche Anmerkungen
Dieses Buch des Osteuropa-Experten bietet exzellente Einblicke in wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge der Osteuropapolitik mit Schwerpunkten auf der Ukraine, Polen und Russland.
Im Horizont dieser in Europa lange nicht mehr so dagewesenen Kriegssituation lassen sich gewissermaßen alte Weisheitsworte abwandeln: Sic transit gloria mundi!
Abwandlung eines Wortes von Thomas
von Kempen: „O quam cito transit gloria mundi!“(„O wie
schnell vergeht der Ruhm der Welt!“) oder etwa die Bibelstelle, 1. Johannes 2,17 auf die Europäische Union bezogen: „Die Welt vergeht und ihre Begierde“ in der Fassung der Vulgata:
„Mundus transit et concupiscentia eius“ (2,17 Vul).
Aber konkret nun aus ökonomischer Sicht: »Aus
einer rein wirtschaftlichen Logik heraus hätte es diesen Krieg nie
geben dürfen«. Diese Einschätzung des Krieges durch den Historiker Martin Schulze Wessel: ist für
mich
als Ökonom noch
mehr Unverständlichkeiten. Nicht umsonst hatten
Sberbank und russische Zentralbank wegen Sanktionen usw. Bedenken gegen den
Angriff angemeldet.
2. Die Fortsetzung eines Irrwegs russischer Geschichte
Michael Thumann: REVANCHE. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H. Beck 2023, 2. Aufl., 288 S., Abb. Rezension >>> |
Wladimir Putin glaubt,
dass er der richtige Repräsentant seiner Nation ist. Aber man kann sich leicht auch eine andere Figur aus seinem Umfeld an der Staatsspitze vorstellen, die einen ähnlich aggressiven Weg einschlägt. Wessel zeigt in seinem Buch, wie das Ausgreifen in die Ukraine und die Teilung Polens seit dem 18. Jahrhundert einen Irrweg in der russischen Geschichte begründeten, der als „Fluch des Imperiums“ bist heute fortwirkt. Deutschland hat sich nach 1945 von seinem "Fluch des Imperiums" befreit und sich in Richtung Westen geöffnet. Russland steht dieser Weg noch bevor. Vor dem 24. Februar 2022 schien Putins Regime vielen Beobachtern vor allem am eigenen Machterhalt und der persönlichen Bereicherung interessiert zu sein. Doch der neuerliche Angriff auf die Ukraine, die Brutalität der Kriegsführung und die Hasspropaganda in den Staatsmedien lassen sich damit nicht wirklich erklären. Es ist das Identitätsproblem Russlands, das sich aus seiner imperialen Vergangenheit speist, eben der Fluch des Imperiums: die eng verflochtene Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen im Kontext der internationalen Politik. Dabei geht es nicht nur um imperiale Herrschaftsansprüche, sondern auch um einen ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert herausbildete, und in dem Deutschland lange auf Seiten Russlands stand. Was Deutschland nach 1945 gelang, steht Russland noch bevor: die Abkehr vom Imperium.
3. Politische Sprachreglementierungen
Russland
hat
aufgrund
der Entwicklungen in Georgien ehemalige Sowjetrepubliken vor einer Annäherung an den Westen gewarnt. Sergej Lawrow,
russischer Außenminister sagte am
10.2.23
im russischen Fernsehen:
„Mir scheint, dass alle Länder rund um die Russische Föderation
ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus ziehen sollten, wie gefährlich
es ist, einen Weg in Richtung (...) der Interessenzone der
Vereinigten Staaten einzuschlagen.“
Die
staatliche russische Nachrichtenagentur TASS
berichtete dazu,
dass Putin das bereits bestehende „Gesetz über den formellen
Gebrauch des Russischen“ verschärft hat. Demnach ist es russischen
Regierungsbeamten ab sofort verboten, bei der Ausübung ihrer
Aufgaben Fremdwörter zu verwenden, für die es auch einen
entsprechenden russischen Begriff gibt: „Bei
der Verwendung von Russisch als Staatssprache der Russischen
Föderation ist es nicht erlaubt, Wörter und Ausdrücke zu
verwenden, die nicht den Normen des modernen Russisch entsprechen ...
mit Ausnahme von Fremdwörtern, für die es keine weit verbreiteten
entsprechenden Entsprechungen gibt auf Russisch“, heißt es in dem
Text zur Gesetzesnovelle. Eine Liste der Fremdwörter, die noch
verwendet werden dürfen, soll separat veröffentlicht werden. Aber
Deutsch
ist in der russischen Sprache sehr präsent: Bekanntermaßen haben in
der russischen Sprache zahllose Fremdwörter seit Alters her einen
festen Platz – auch sehr viele deutsche: Von „buterbrod“
(Butterbrot oder Sandwich) über „parikmacher“ (Friseur) bis hin
zu „bjurger“ (Bürger), „potschtamt“ (Postamt), „marschrutka“
(Richtung) oder „schtempel“ (Stempel).
Aufgrund
des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die russische
Sprache längst zu einem hochpolitischen Thema geworden. Seit Beginn
des Überfalls vor einem Jahr gilt eine Sprachregelung, die auch
Kriegshandlungen betrifft – bei Verstößen dagegen drohen hohe
Strafen. Auch
diese Strafen werden drastisch verschärft: Während bisher eine
„Diskreditierung“ der russischen Armee mit fünf Jahren Haft
bestraft werden kann, soll das künftig für alle kämpfenden
Einheiten gelten, also auch für die Privatarmee Wagner.
Gleichzeitig wird das Strafhöchstmaß von fünf auf bis zu sieben
Jahre Haft angehoben. Die Lesung der Strafverschärfung in der Duma
(Parlament) ist abschließend am 14. März. Statt dem Wort „Krieg“
sollen die Wörter „Befreiung“, „Befreiungsmission“,
„Spezialoperation“ verwendet werden. Begründung: Diese Begriffe
würden keine „Panik“ auslösen. Dabei hat Putin selbst in seiner
Rede am 21. Februar 2023 das „verbotene Wort“ verwendet und
müsste konsequenterweise jetzt eigentlich bestraft werden. In einer
Rede zur Lage der Nation behauptete er, der Westen sei es gewesen, der
„den Krieg begonnen“ habe.
Auch
die Formulierungen „Militäroperation“, „Eroberung durch das
russische Militär“ sind tabu, wie die Plattform globalvoices.org
auflistet. Gebiete in der Ukraine werden auch nicht „erobert“,
nicht einmal „unter Kontrolle genommen“, sondern prinzipiell
„befreit“. Für die russische Armee gibt es auch keinen
„Rückzug“. Der Verlust von Gebieten wie im November 2022 im Fall
der Stadt Cherson sei für russische Mediennutzer als Geste des guten
Willens“ zu umschreiben.Es darf auch in russischen Medien nicht von
der „Gegenoffensive der Streitkräfte der Ukraine“ gesprochen
werden, sondern von „verzweifelten Angriffen“.
Die russische
Anthropologin Alexandra Arkhipova zitiert auf globalvoices.org
aus einem Leitfaden für russische Medien: „Gefährliche Themen
ganz vermeiden; wählen Sie als Ersatz Wörter, die nichts mit dem
Tod von Menschen und Krieg zu tun haben; den Feind dämonisieren.“
Weil es keinen Krieg gegeben darf, hat die russische Sprachpolizei
natürlich auch das Wort „Front“ verboten. „Kontaktlinie“
heißt das jetzt in Putins Neusprech. Wenn Russen bei der Einberufung
fragen, „werde ich jetzt an die Front geschickt“, dann wird ihnen
barsch geantwortet: „Nein, du gehst die Kontaktlinie verteidigen.“
Putin verschärft das Gesetz gegen "verbotene Wörter" in der russischen Sprache
(Redaktionsnetzwerk Deutschland, 12.03.2023)
Aber „Die «Spezialoperation», die Putin vom Zaun brach, ist Russlands Krieg. Es ist ein Krieg, der nicht ausschließlich mit dem Blick auf die Gegenwart verstanden werden kann. Denn es geht nicht nur um rational fassbare Interessen der Clique, die in Russland das Sagen hat“. Mit dem Komplex von imperialen und nationalistischen Vorstellungen, die im 19. Jahrhundert geprägt wurden, haben wir es noch heute zu tun. Sie wirken sich im gegenwärtigen Krieg verheerend auf die Ukraine aus, und sie hindern Russland daran, einen Platz in einer multilateralen europäischen und globalen Ordnung einzunehmen, der der eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung förderlich ist.
Hier sei besonders auf Schulze Wessel verwiesen (S. 11 und S. 19): Die Begründung für den Krieg "basiert auf historischen Versatzstücken – die heilige gemeinsame Vergangenheit von Russen und Ukrainern in der mittelalterlichen Rus’, die Dämonisierung der ukrainischen Führung als Fortsetzer Banderas und als fünfte Kolonne eines aggressiven Westens. Sie ist ein ideologisches Konstrukt aus historischen Zitaten, das in Russland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Tradition hat".
4. Sanktionen gegen Russland und die Statistikzensur - die wirtschaftlichen Folgen
Nach
den ersten Kriegsmonaten war der Internationale Währungsfonds (IWF)
zunächst davon ausgegangen, dass die russische Wirtschaft um 8,5
Prozent schrumpfen würde. Tatsächlich waren es minus 2,2 Prozent.
Für Kritiker der Strafmaßnahmen war das schon damals der Beweis:
Die Sanktionen gegen Russland würden nicht wirken.
Dennoch: Die
Strafmaßnahmen wirken – und treffen Russland stärker als den
Westen.
Aber: Für
Putin sind die Wirtschaftsdaten darum auch eine Kriegswaffe. Es wäre
naiv, davon auszugehen, dass er sie nicht fälschen würde. Auch
deshalb führte der Kreml 2022 eine Statistikzensur ein. Es werden
kaum Wirtschaftsdaten, keine Daten über internationale Reserven,
keine Handels- und Produktionszahlen veröffentlicht. Die Folge: Es
gibt keine Transparenz. Russlands Statistiken bilden einen zentralen
Bestandteil seines Informationskrieges: 2022 durch gestiegene Erträge
aus dem Öl- und Gashandel zusätzliche Einnahmen im Staatshaushalt
von 10 Prozent. Doch die Staatsausgaben stiegen durch den Krieg
jedoch um 20 Prozent.
Weil die Hauptkunden in Europa und in den USA fehlen, muss Putin seine Rohstoffe nun an China/Indien verkaufen; und diese nutzen die russische Notlage aus: Russland muss sie zu Billigpreisen verschleudern. Dadurch sinken auch die Weltmarktpreise, zum Nachteil Moskaus.
Laut
dem finnischen Forschungsinstitut "Centre for Research on Energy
and Clean Air" könnte der Kreml durch den Ölbann und die
Preisobergrenze 160 Millionen Euro am
Tag verlieren. Die Steuereinnahmen aus Öl und Gas sind im Februar
2023 gegenüber dem Vorjahr um 46 Prozent auf 521 Milliarden Rubel
(6,91 Milliarden US-Dollar) gefallen. Die Einnahmen aus Rohöl und
Erdölprodukten – die im vergangenen Monat mehr als zwei Drittel
der Energiesteuereinnahmen ausmachten – gingen laut Berechnungen
des US-Senders Bloomberg um 48 Prozent auf 361 Milliarden Rubel (4,8
Milliarden US-Dollar) zurück:
Im
1. Quartal 2023 wird
für die russische Wirtschaft die Kriegslast immer schwerer. Die
aktuellen Zahlen zeigen
für
die russische Ökonomie, die zum Großteil auf den Export von
Rohstoffen angewiesen ist. Die
Landeswährung Rubel schien stabil zu bleiben, eine Hyperinflation
blieb aus. Aber auf internationalen Kapitalmärkten wird die
russische Währung kaum noch gehandelt und – wenn überhaupt –
kann sie nur gegen chinesische Yuan eingetauscht werden. Das verzerrt
den Rubel-Kurs gegenüber dem Euro und dem Dollar.
Es ging deshalb darum, die russischen Finanzbeziehungen mit dem Westen zu kappen. Diese Ziele werden wahrscheinlich erreicht. Die russische Zentralbank und die meisten Geschäftsbanken im Land sind vom internationalen Zahlungsverkehr abgeklemmt. Die US-Regierung geht davon aus, dass Russland bis 2030 bis zu 20 Prozent seines BIP verlieren könnte. Die Sanktionen verlangsamen Produktion und Handel und das Umgehen der Strafmaßnahmen ist zwar über Drittstaaten möglich und für den Westen ärgerlich, aber es kostet russischen Unternehmen viel Zeit und Energie. Die Lücken zwischen dem Westen und Russland wird ökonomisch dadurch immer größer.
Das
Ölgeschäft ist mittlerweile ein riesiges Verlustgeschäft für
Putin, weil der Preis der Förderung die Kosten nicht mehr deckt.
Denn Russland kann nicht so billig produzieren wie zum Beispiel
Länder im Mittleren Osten. Schon jetzt ist die russische Wirtschaft
durch Subventionen aus Putins sogenanntem Wohlstandsfond aufgeblasen; und ein maßgeblicher Teil in der Wertschöpfung des BIP kommt von
der Rüstungsindustrie.
Mehr
als tausend ausländische Unternehmen haben Russland 2022
verlassen. Putin vor einigen Tagen: "Alles Gute! Sie verlieren
unseren Markt, werden enorme Verluste erleiden. Es ist ihre
Entscheidung." Wenn jemand glaube, dass "alles bei uns
zusammenbrechen und auseinanderfallen wird - nein: Nichts ist
zusammengebrochen oder auseinandergefallen".
--- Wie die Russland-Sanktionen wirken (ARD, Tagesschau, 22.02.2023)
--- Putins unverhoffte Gewinne (ZEIT online, 13.03.2023)
Auch
die
Zahl der ausländischen Besucher brach um 96 Prozent ein.
Statt fünf
Millionen im Vor-Corona-Jahr kamen 2022
wegen der Sanktionen - und erschwerend wegen der strikten
Corona-Beschränkungen Chinas - nur noch 200.000 Besucher, so die offiziellen Zahlen des russischen Tourismus-Verbands. Dazu ist
der europäische
Luftraum für russische Airlines geschlossen, und
die Straßen für die
meisten russischen Speditionen gesperrt.
Um 70
Prozent brach die Autoproduktion 2022 in Russland ein, damit auf ein
historisches Tief. Auch die mehrfach verschärften Erdölsanktionen
scheinen zu funktionieren: 23 Milliarden Euro Defizit im russischen Staatshaushalt (Stand: Januar 2022). Auch Goldreserven wurden verkauft. Die
Sanktionen haben für erhebliche Wohlstandsverluste in der
Bevölkerung gesorgt, während sich die Oligarchen und Reiche auch
jetzt westliche Produkte leisten können. Sie finden ebenfalls Reisemöglichkeiten, weil es trotz Sanktionslisten viele Ausnahmen
gibt.
- Russia’s Revenue From Oil and Gas Almost Halved in February
(Bloomberg News, 03.03.2023) - Assessing the Impact of International Sanctions on Russian Oil Exports
(SSRN, 01.03.2023) - Russland und Ukraine - Geschichte eines Krieges
(David Beck / Pascal Siggelkow, SWR 2 Wissen, 23.02.2023)
Nach einem Jahr Krieg – Der Schein einer stabilen russischen Wirtschaft trügt
Reinhard Bingener / Markus Wehner: Die Moskau-Connection.
DAS SCHRÖDER-NETZWERK UND
DEUTSCHLANDS WEG IN DIE ABHÄNGIGKEIT.
München: C.H. Beck 2023, 304 S., Abb., Karte
--- ISBN 978-3-406-79941-9
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Redaktion: Interreligiöse Bibliothek (IRB)
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