Montag, 11. Januar 2021

Johannes Lähnemann: Predigt zu Lukas 2,40-52 ---- Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Predigt am Sonntag, 3. Januar 2021, in der Neuwerk-Kirche Goslar

Südostseite der Neuwerk-Kirche Goslar (wikipedia)

Lukas 2,40-52

40 Das Kind (Jesus) aber wuchs und wurde kräftig, erfüllt von Weisheit, und die Gnade Gottes war auf ihm.

41 Seine Eltern zogen jedes Jahr nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie gemäß ihrer Gewohnheit hinauf zum Fest, 43 Als nun die Tage vollendet waren und sie zurückkehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten es nicht, 44 sie nahmen aber an, dass er in der Reisegesellschaft war. Sie zogen eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. 45 Als sie ihn nicht fanden, wandten sie sich zurück nach Jerusalem und suchten ihn. 46 Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn im Tempel fanden, wo er mitten unter den Lehrern saß; er hörte ihnen zu und stellte Fragen. 47 Es staunten aber alle, die ihm zuhörten über sein Verständnis und seine Antworten. 48 Als sie ihn so sahen, waren sie entsetzt, und seine Mutter sprach zu ihm: „Kind, warum hast du uns dies angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Ängsten gesucht“. 49 Da sprach er zu ihnen: „Warum sucht ihr mich? Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?“ 50 Aber sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete. 51 Dann ging er mit ihnen und kam nach Nazareth, und er war ihnen gehorsam. Aber seine Mutter bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Glasfenster in der Christuskirche der Theodor Schneller-Schule in Amman/Jordanien.

Liebe Gemeinde,

zu der Geschichte, die wir eben gehört haben, habe ich uns ein Bild mitgebracht, das ich besonders gern mag. Es führt uns mitten hinein in die Erzählung: Jesus steht hervorgehoben in der Mitte, mit hellem Gewand, aufrecht, in sprechender Haltung, um ihn die Gelehrten, aufmerksam auf das bezogen, was sie mit Jesus erleben. Neugierig erscheinen sie, nachdenklich, staunend. Darunter steht das Wort aus dem Bibeltext, auf das sich das Bild bezieht: „…er hörte ihnen zu und stellte Fragen“. Es ist die Situation eines ernsthaften Gesprächs, eines Dialogs, ja man kann sagen, eine Situation wechselseitigen Lernens.

Ein wenig muss ich Ihnen zu diesem Bild erzählen:
Es zeigt eine Geschichte des Kindes Jesus, gestaltet für Kinder – auf einem Glasfenster in der Christuskirche der Theodor Schneller-Schule in Amman/Jordanien. In dieser Schule werden Kinder aus bedürftigen Familien, z.T. aus dem benachbarten palästinensischen Flüchtlingslager, unterrichtet. Sie können auch eine Berufsausbildung erhalten. Christliche und muslimische Kinder besuchen die Schule gemeinsam und lernen gemeinsam. Es ist eine echte Friedensarbeit. Die Kinder lieben dieses Bild. Dabei hat es eine besondere Geschichte. Schon vor 110 Jahren wurde es aus Deutschland gestiftet, und zwar vom Kindergottesdienst des Mariendoms in Kolberg. Hergestellt wurde es in unserer Nachbarschaft, in einer Glasmalerei in Quedlinburg am Harz. Vorlage dafür waren die „Zeichnungen aus dem Leben des Heilandes“ von Heinrich Hoffmann (1824-1911), Professor an der Königlichen Akademie der Künste in Dresden. Im Stil ist das Glasfenster geprägt von der liebevollen, die biblischen Geschichten ausmalenden Weise der damaligen Zeit. Es zierte zusammen mit anderen Fenstern das Syrische Waisenhaus in Jerusalem, die Vorgängerschule der Theodor Schneller-Schule in Amman, die im zweiten Weltkrieg von den deutschen Trägern verlassen werden musste. Es konnte mit anderen Glasbildern aus der Kirche in Jerusalem ausgebaut und nach Amman gebracht werden.  

Der zwölfjährige Jesus im Tempel: Was ist an dieser Geschichte so besonders? Es ist die einzige Erzählung aus der Kindheit und Jugend Jesu, die Eingang gefunden hat in die Bibel. Zwischen der Geburt Jesu und seinem ersten Auftreten, als er sich von Johannes dem Täufer taufen lässt, haben wir sonst keine Geschichte mit Einzelheiten über das Leben des jungen Jesus. Das erste hinreichend sichere Datum seines Lebens ist überhaupt wohl die Taufe Jesu durch Johannes. Das Markusevangelium, das älteste Evangelium, beginnt deshalb auch erst damit. Die Vorgeschichten, die wir im Matthäus- und im Lukasevangelium finden, sind so verschieden, dass man daraus keinen historischen Ablauf rekonstruieren kann. Dabei haben diese Geschichten eine große theologische Bedeutung. Sie leiten den Weg Jesu inhaltlich ein. Sie werfen ein Licht voraus auf den weiteren Weg Jesu. Wir könnten sie als Überschrift-Geschichten bezeichnen: bei Lukas etwa die Erwählung des jungen Mädchens Maria, die in ihrem Lobgesang schon ausdrücken kann, wie Gott sich der Armen und Elenden annimmt. Die Geburt Jesu in der Krippe, in der kleinen Stadt Bethlehem ganz am Rande des römischen Weltreichs. Kaiser Augustus, der für seine Steuerschätzung die Menschen auf die Reise schickt, ahnt nicht, dass er damit dafür sorgt, dass das Jesuskind am richtigen Ort geboren wird, aus dem der von den Propheten versprochene Retter kommen soll.

Und nun die Erzählung vom 12-jährigen Jesus im Tempel. Was will sie uns über Jesus sagen? Und was können wir daraus lernen?

Ich möchte das in drei Punkten entfalten:

  1.   Jesus – das hörende und fragende Kind
  2.  Jesus – der lernende Lehrer 
  3.   Lernen mit Jesus

 1. Jesus – das hörende und fragende Kind           

Unsere Geschichte wird von zwei Versen eingerahmt, die von der voraufgehenden Erzählung zu ihr überleiten und sie am Ende abrunden. Sie scheinen sehr allgemein gehalten zu sein, sagen aber doch viel darüber aus, wie Jesus aufgewachsen ist.

Am Anfang: „40 Das Kind (Jesus) aber wuchs und wurde kräftig, erfüllt von Weisheit, und die Gnade Gottes war auf ihm.“

Am Schluss: „52 Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“

In beiden Versen ist von Weisheit und Gnade die Rede. Darin steckt auch das Wissen, dass Jesus in einer jüdischen Familie groß geworden ist, mit all dem, was zu einem intensiven jüdischen Glaubensleben gehörte: Da wurde der Sabbat gefeiert, da befolgte man die Mose gegebenen Gebote, da kannte man die Worte der Propheten, da betete man mit den Liedern der Psalmen. Es wurde eifrig gelernt in frommen jüdischen Familien. Dabei sind auch die Erwachsenen gefordert. Im 5. Buch Mose wird uns solche eine Lernsituation vorgeführt. Da heißt es: „Wenn dich aber dein Sohn heute oder morgen fragen wird und sagen: Was sind das für Zeugnisse, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat? So sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand“ (Dt 6,20f.). Wenn es in unserem Text heißt: Jesus hörte zu und stellte Fragen, dann wird damit gesagt, dass Jesus auf der Grundlage dessen, was er in seiner Familie gelernt und erfahren hat, von Anfang an das Gespräch gesucht hat, dass er nicht einfach nur gelehrt hat, sondern den Austausch suchte, dass er neugierig war auf das, was die Gesetzeslehrer sagten und dass er sie mit seinem Wissensdurst ins Staunen brachte. Kein Wunder, dass seine Eltern, als sie ihn endlich im Tempel gefunden haben, entsetzt sind, dass sie ihm Vorwürfe machen, weil er sie so in Sorge versetzt hat. Seine Antwort – „Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss“ – können sie erst einmal nicht begreifen. Lukas aber, der uns diese Geschichte überliefert, weiß, dass bei Jesus von Anfang an eine ganz besondere, eine einzigartige Beziehung zu Gott als seinem Vater besteht.   

Jesus – das fragende Kind. Das hält uns einen Spiegel vor: Wie gehen wir selbst mit Kinderfragen um? Nehmen wir sie ernst? Staunen wir über das, was sie wissen wollen? Oder sind wir immer die Besserwisser? Lassen wir uns auch einmal neugierig und kritisch befragen? Oft wollen sie gerne wissen: Warum lebt ihr so, wie ihr lebt? Wie war das früher für euch? Was habt ihr erfahren? Wie habt ihr euch verhalten? Was habt ihr gelernt? Was ist euch wichtig? Sehen Kinder nicht manches klarer als wir selbst, wenn es um unsere Gewohnheiten, unsere Lebensformen geht? So fragen uns etwa in der Bewegung „Fridays for Future“ junge Menschen unüberhörbar, wie wir uns verhalten, damit wir durch unsere Lebensformen und unser Verhalten die Zukunft unserer Kinder und unserer Erde nicht sträflich aufs Spiel setzen.

2. Jesus, der lernende Lehrer

Ein englischer Kollege von mir hat kürzlich ein Buch herausgebracht unter dem Titel: „Jesus – the learning teacher“ = „Jesus, der lernende Lehrer“. Ich finde, das ist ein ausgezeichneter Titel. Er trifft etwas, das ich immer wieder entdecke, wenn ich Jesus auf seinen Spuren durch die Evangelien folge. Die Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel ist das Anfangsbeispiel dafür, wie Jesus fragend und lernend ein einzigartiger Lehrer wird. Er tritt nicht als fertiger Alleswisser auf. Er kommt als Erwachsener zuerst zu Johannes dem Täufer. Er hört dessen Predigt, mit der er die Menschen im Blick auf das kommende Gericht Gottes zur Buße und Umkehr auffordert. Jesus nimmt das ernst. Er lässt sich von Johannes taufen und stellt sich damit an die Seite derer, die sich von Gott zur Umkehr von unheilvollen Wegen rufen lassen. Aber während Johannes mit einer drohenden Botschaft auftritt, schildert Lukas, wie Jesus mit einer frohen Botschaft auftritt. In der Synagoge von Nazareth schlägt er das Buch vom Propheten Jesaja auf und liest daraus vor: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Dieses Prophetenwort wird zum Leitfaden für Jesu Wirken: Er predigt die Nähe und Liebe Gottes, von der er selbst erfüllt ist, vorrangig zu denen, die diese Liebe besonders brauchen: die Armen, die Blinden, die Zerschlagenen. Wort und Tat sind dabei eine Einheit. Auf diesem Weg kommt Jesus selbst in Situationen, die ihn nötigen, Neues zu lernen. Ein besonderes Beispiel ist, wie Jesus von einer nichtjüdischen, einer heidnischen Frau angefleht wird, ihre von einem Dämon besessene Tochter zu heilen. Jesus will das zunächst ablehnen, weil er sich zuerst zu den Armen seines Volkes gesandt sieht. Er gebraucht das harte Wort: „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen“. Aber dann gewinnt ihn die Frau, indem sie sein Wort aufnimmt und sagt: „Gewiss, Herr. Aber die Hunde unter dem Tisch zehren von den Brosamen der Kinder.“ Jesus ist von diesem verblüffenden Argument, vor allem aber von Größe des Vertrauens, ja des Glaubens dieser Frau getroffen und gewonnen. Er heilt die kranke Tochter der Frau – und lernt auf diesem Wege, dass sein Auftrag über die Grenzen seines Volkes hinaus geht. Immer wieder wird Jesu Lehren und Handeln von Gesprächen und Entdeckungen begleitet, und dabei entwickelt er eine besondere Begabung als Erzähler von Gleichnisgeschichten, in denen er seine Zuhörerinnen und Zuhörer zeigt, wie unbegrenzt die Liebe Gottes ist. Der größte Lernweg Jesu aber ist der Weg, der ihn in das Leiden, in die Erfahrung des Verrates, ja in den Tod hinein führt. Da ist er ganz menschlich, ganz verzagt, wie sein Gebet im Garten Gethsemane zeigt. Er weiß, dass er Gott als seinen Vater auch in dieser äußersten Not anrufen kann so wie schon die Beter der Psalmen.  Er steht so an der Seite aller Leidenden, aller derer, die in Ausweglosigkeit geraten, all derer, die eine schreckliche Todeserfahrung machen müssen. Und auf eben diese Erfahrung antwortet Gott mit dem Ostermorgen, mit dem unerwarteten neuen Leben, das das größte Hoffnungslicht in die Welt setzt und seine Jüngerinnen und Jünger ermutigt und stärkt, seine Botschaft von der unbegrenzten Liebe Gottes weiter zu tragen.

3.   Lernen mit Jesus

Von Jesus lernen, ja, mit ihm lernen: Können wir das? – Jesus als das hörende und fragende Kind, Jesus als der lernende Lehrer! Was heißt das für uns?

Hören, das heißt: nicht alles schon wissen, nicht über alles urteilen, bevor wir gehört haben. Andere nicht überfallen mit dem, was wir immer schon wissen, sondern aufmerken, wahrnehmen, auch staunen über das, was uns in der Welt begegnet, was uns in den anderen Menschen begegnet. Fragen bedeutet, nicht alles selbstverständlich hinnehmen, sondern sich kundig zu machen. Das bedeutet dann aber auch: Lügen Lügen nennen, vertrauenswürdigen Fakten zur Geltung zu helfen. Dafür müssen wir uns gerade in der Corona-Krise stark machen. Dass sie eine große Lern-Herausforderung ist, haben wir alle erfahren: Wie bleiben wir in Kontakt, wenn die Kontakte radikal eingeschränkt werden? Wie nutzen wir die digitalen Möglichkeiten, die so vor 30 Jahren noch nicht denkbar waren? Wie stehen wir denen bei, die in vorderster Front in der Pflege und der Intensiv-Medizin arbeiten? Wie unterstützen wir die, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind? Können wir nicht denen, die isoliert sind, mit Telefonaten, Grüßen, Briefen Mut machen? Wovon Jesus erfüllt war und was er in immer weitere Kreise hinein realisiert hat, ist: die Menschen mit den Augen der Liebe Gottes zu sehen und danach zu handeln.

Am bedeutendsten aber ist der letzte Schritt im Lernen Jesu: sich Gott anvertrauen auch in Not und Anfechtung, angesichts von Leiden und Ausweglosigkeiten. Hoffen und Handeln über die Realitäten von Krankheit, Verlassenheit, ja auch den Tod hinaus. Das lässt uns nicht in Resignation verfallen, auch wenn uns gegenwärtig so viele Ungewissheiten und Verzagtheiten auf der Erde begegnen. Wir stehen bei, ermutigen und trösten, helfen und unterstützen, so wie wir es können – und dürfen uns getragen wissen von der Liebe Gottes, so wie sie in Jesus Wirklichkeit geworden ist.

Ob das alles der 12-jährige Jesus schon geahnt und gewusst hat? Das ist eine Frage, die wir so nicht beantworten können. Aber er hat gehört und gefragt, der Anfang eines großen Lernweges, den er vor und für uns gegangen ist. Die Helligkeit, in die ihn der Künstler auf unserem Bild mitten unter die Gelehrten gestellt hat, drückt aus: Von diesem Kind geht eine große Verheißung und Hoffnung für uns alle aus.

Prof. Dr. Johannes Lähnemann, Goslar
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Neuwerk-Kirche, Innenraum (Foto: Sabine Lähnemann)

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