Predigt am Sonntag, 3. Januar 2021, in der Neuwerk-Kirche Goslar
Südostseite der Neuwerk-Kirche Goslar (wikipedia) |
Lukas 2,40-52
40
Das Kind (Jesus) aber wuchs und wurde kräftig, erfüllt von Weisheit, und die
Gnade Gottes war auf ihm.
41
Seine Eltern zogen jedes Jahr nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf
Jahre alt war, gingen sie gemäß ihrer Gewohnheit hinauf zum Fest, 43 Als nun die
Tage vollendet waren und sie zurückkehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem,
und seine Eltern wussten es nicht, 44 sie nahmen aber an, dass er in der
Reisegesellschaft war. Sie zogen eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den
Verwandten und Bekannten. 45 Als sie ihn nicht fanden, wandten sie sich zurück
nach Jerusalem und suchten ihn. 46 Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn
im Tempel fanden, wo er mitten unter den Lehrern saß; er hörte ihnen zu und
stellte Fragen. 47 Es staunten aber alle, die ihm zuhörten über sein
Verständnis und seine Antworten. 48 Als sie ihn so sahen, waren sie entsetzt,
und seine Mutter sprach zu ihm: „Kind, warum hast du uns dies angetan? Siehe,
dein Vater und ich haben dich mit Ängsten gesucht“. 49 Da sprach er zu ihnen:
„Warum sucht ihr mich? Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein
muss?“ 50 Aber sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete. 51 Dann
ging er mit ihnen und kam nach Nazareth, und er war ihnen gehorsam. Aber seine
Mutter bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an
Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Glasfenster in der Christuskirche der Theodor Schneller-Schule in Amman/Jordanien. |
Liebe Gemeinde,
zu der Geschichte, die wir eben gehört
haben, habe ich uns ein Bild mitgebracht, das ich besonders gern mag. Es führt
uns mitten hinein in die Erzählung: Jesus steht hervorgehoben in der Mitte, mit
hellem Gewand, aufrecht, in sprechender Haltung, um ihn die Gelehrten,
aufmerksam auf das bezogen, was sie mit Jesus erleben. Neugierig erscheinen sie,
nachdenklich, staunend. Darunter steht das Wort aus dem Bibeltext, auf das sich
das Bild bezieht: „…er hörte ihnen zu und stellte Fragen“. Es ist die Situation
eines ernsthaften Gesprächs, eines Dialogs, ja man kann sagen, eine Situation
wechselseitigen Lernens.
Ein wenig muss ich Ihnen zu diesem
Bild erzählen:
Es zeigt eine Geschichte des Kindes Jesus, gestaltet für Kinder
– auf einem Glasfenster in der Christuskirche der Theodor Schneller-Schule in
Amman/Jordanien. In dieser Schule werden Kinder aus bedürftigen Familien, z.T.
aus dem benachbarten palästinensischen Flüchtlingslager, unterrichtet. Sie
können auch eine Berufsausbildung erhalten. Christliche und muslimische Kinder besuchen
die Schule gemeinsam und lernen gemeinsam. Es ist eine echte Friedensarbeit. Die
Kinder lieben dieses Bild. Dabei hat es eine besondere Geschichte. Schon vor
110 Jahren wurde es aus Deutschland gestiftet, und zwar vom Kindergottesdienst
des Mariendoms in Kolberg. Hergestellt wurde es in unserer Nachbarschaft, in
einer Glasmalerei in Quedlinburg am Harz. Vorlage dafür waren die „Zeichnungen
aus dem Leben des Heilandes“ von Heinrich Hoffmann (1824-1911), Professor an
der Königlichen Akademie der Künste in Dresden. Im Stil ist das Glasfenster
geprägt von der liebevollen, die biblischen Geschichten ausmalenden Weise der
damaligen Zeit. Es zierte zusammen mit anderen Fenstern das Syrische Waisenhaus
in Jerusalem, die Vorgängerschule der Theodor Schneller-Schule in Amman, die im
zweiten Weltkrieg von den deutschen Trägern verlassen werden musste. Es konnte
mit anderen Glasbildern aus der Kirche in Jerusalem ausgebaut und nach Amman
gebracht werden.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel: Was
ist an dieser Geschichte so besonders? Es ist die einzige Erzählung aus der Kindheit
und Jugend Jesu, die Eingang gefunden hat in die Bibel. Zwischen der Geburt
Jesu und seinem ersten Auftreten, als er sich von Johannes dem Täufer taufen
lässt, haben wir sonst keine Geschichte mit Einzelheiten über das Leben des
jungen Jesus. Das erste hinreichend sichere Datum seines Lebens ist überhaupt
wohl die Taufe Jesu durch Johannes. Das Markusevangelium, das älteste
Evangelium, beginnt deshalb auch erst damit. Die Vorgeschichten, die wir im
Matthäus- und im Lukasevangelium finden, sind so verschieden, dass man daraus
keinen historischen Ablauf rekonstruieren kann. Dabei haben diese Geschichten
eine große theologische Bedeutung. Sie leiten den Weg Jesu inhaltlich ein. Sie
werfen ein Licht voraus auf den weiteren Weg Jesu. Wir könnten sie als Überschrift-Geschichten
bezeichnen: bei Lukas etwa die Erwählung des jungen Mädchens Maria, die in
ihrem Lobgesang schon ausdrücken kann, wie Gott sich der Armen und Elenden
annimmt. Die Geburt Jesu in der Krippe, in der kleinen Stadt Bethlehem ganz am
Rande des römischen Weltreichs. Kaiser Augustus, der für seine Steuerschätzung
die Menschen auf die Reise schickt, ahnt nicht, dass er damit dafür sorgt, dass
das Jesuskind am richtigen Ort geboren wird, aus dem der von den Propheten
versprochene Retter kommen soll.
Und nun die Erzählung vom 12-jährigen
Jesus im Tempel. Was will sie uns über Jesus sagen? Und was können wir daraus
lernen?
Ich möchte das in drei Punkten entfalten:
- Jesus
– das hörende und fragende Kind
- Jesus
– der lernende Lehrer
- Lernen
mit Jesus
1. Jesus – das hörende und fragende Kind
Unsere Geschichte wird von zwei
Versen eingerahmt, die von der voraufgehenden Erzählung zu ihr überleiten und
sie am Ende abrunden. Sie scheinen sehr allgemein gehalten zu sein, sagen aber
doch viel darüber aus, wie Jesus aufgewachsen ist.
Am Anfang: „40 Das Kind (Jesus) aber
wuchs und wurde kräftig, erfüllt von Weisheit, und die Gnade Gottes war auf
ihm.“
Am Schluss: „52 Und Jesus nahm zu an
Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“
In beiden Versen ist von Weisheit und
Gnade die Rede. Darin steckt auch das Wissen, dass Jesus in einer jüdischen
Familie groß geworden ist, mit all dem, was zu einem intensiven jüdischen
Glaubensleben gehörte: Da wurde der Sabbat gefeiert, da befolgte man die Mose
gegebenen Gebote, da kannte man die Worte der Propheten, da betete man mit den
Liedern der Psalmen. Es wurde eifrig gelernt in frommen jüdischen Familien.
Dabei sind auch die Erwachsenen gefordert. Im 5. Buch Mose wird uns solche eine
Lernsituation vorgeführt. Da heißt es: „Wenn dich aber dein Sohn heute oder
morgen fragen wird und sagen: Was sind das für Zeugnisse, Gebote und Rechte,
die euch der HERR, unser Gott, geboten hat? So sollst du deinem Sohn sagen:
Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten
mit mächtiger Hand“ (Dt 6,20f.). Wenn es in unserem Text heißt: Jesus hörte zu
und stellte Fragen, dann wird damit gesagt, dass Jesus auf der Grundlage dessen,
was er in seiner Familie gelernt und erfahren hat, von Anfang an das Gespräch
gesucht hat, dass er nicht einfach nur gelehrt hat, sondern den Austausch
suchte, dass er neugierig war auf das, was die Gesetzeslehrer sagten und dass
er sie mit seinem Wissensdurst ins Staunen brachte. Kein Wunder, dass seine
Eltern, als sie ihn endlich im Tempel gefunden haben, entsetzt sind, dass sie
ihm Vorwürfe machen, weil er sie so in Sorge versetzt hat. Seine Antwort –
„Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss“ – können sie erst
einmal nicht begreifen. Lukas aber, der uns diese Geschichte überliefert, weiß,
dass bei Jesus von Anfang an eine ganz besondere, eine einzigartige Beziehung zu
Gott als seinem Vater besteht.
Jesus – das fragende Kind. Das hält
uns einen Spiegel vor: Wie gehen wir selbst mit Kinderfragen um? Nehmen wir sie
ernst? Staunen wir über das, was sie wissen wollen? Oder sind wir immer die
Besserwisser? Lassen wir uns auch einmal neugierig und kritisch befragen? Oft wollen
sie gerne wissen: Warum lebt ihr so, wie ihr lebt? Wie war das früher für euch?
Was habt ihr erfahren? Wie habt ihr euch verhalten? Was habt ihr gelernt? Was
ist euch wichtig? Sehen Kinder nicht manches klarer als wir selbst, wenn es um
unsere Gewohnheiten, unsere Lebensformen geht? So fragen uns etwa in der Bewegung
„Fridays for Future“ junge Menschen unüberhörbar, wie wir uns verhalten, damit
wir durch unsere Lebensformen und unser Verhalten die Zukunft unserer Kinder
und unserer Erde nicht sträflich aufs Spiel setzen.
2. Jesus, der lernende Lehrer
Ein englischer Kollege von mir hat
kürzlich ein Buch herausgebracht unter dem Titel: „Jesus – the learning
teacher“ = „Jesus, der lernende Lehrer“. Ich finde, das ist ein ausgezeichneter
Titel. Er trifft etwas, das ich immer wieder entdecke, wenn ich Jesus auf
seinen Spuren durch die Evangelien folge. Die Geschichte vom 12-jährigen Jesus
im Tempel ist das Anfangsbeispiel dafür, wie Jesus fragend und lernend ein einzigartiger
Lehrer wird. Er tritt nicht als fertiger Alleswisser auf. Er kommt als
Erwachsener zuerst zu Johannes dem Täufer. Er hört dessen Predigt, mit der er
die Menschen im Blick auf das kommende Gericht Gottes zur Buße und Umkehr auffordert.
Jesus nimmt das ernst. Er lässt sich von Johannes taufen und stellt sich damit
an die Seite derer, die sich von Gott zur Umkehr von unheilvollen Wegen rufen
lassen. Aber während Johannes mit einer drohenden Botschaft auftritt, schildert
Lukas, wie Jesus mit einer frohen Botschaft auftritt. In der Synagoge von
Nazareth schlägt er das Buch vom Propheten Jesaja auf und liest daraus vor:
„Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu
verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei
sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu
entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Dieses
Prophetenwort wird zum Leitfaden für Jesu Wirken: Er predigt die Nähe und Liebe
Gottes, von der er selbst erfüllt ist, vorrangig zu denen, die diese Liebe
besonders brauchen: die Armen, die Blinden, die Zerschlagenen. Wort und Tat
sind dabei eine Einheit. Auf diesem Weg kommt Jesus selbst in Situationen, die
ihn nötigen, Neues zu lernen. Ein besonderes Beispiel ist, wie Jesus von einer
nichtjüdischen, einer heidnischen Frau angefleht wird, ihre von einem Dämon
besessene Tochter zu heilen. Jesus will das zunächst ablehnen, weil er sich
zuerst zu den Armen seines Volkes gesandt sieht. Er gebraucht das harte Wort: „Es
ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen“.
Aber dann gewinnt ihn die Frau, indem sie sein Wort aufnimmt und sagt: „Gewiss,
Herr. Aber die Hunde unter dem Tisch zehren von den Brosamen der Kinder.“ Jesus
ist von diesem verblüffenden Argument, vor allem aber von Größe des Vertrauens,
ja des Glaubens dieser Frau getroffen und gewonnen. Er heilt die kranke Tochter
der Frau – und lernt auf diesem Wege, dass sein Auftrag über die Grenzen seines
Volkes hinaus geht. Immer wieder wird Jesu Lehren und Handeln von Gesprächen
und Entdeckungen begleitet, und dabei entwickelt er eine besondere Begabung als
Erzähler von Gleichnisgeschichten, in denen er seine Zuhörerinnen und Zuhörer
zeigt, wie unbegrenzt die Liebe Gottes ist. Der größte Lernweg Jesu aber ist
der Weg, der ihn in das Leiden, in die Erfahrung des Verrates, ja in den Tod
hinein führt. Da ist er ganz menschlich, ganz verzagt, wie sein Gebet im Garten
Gethsemane zeigt. Er weiß, dass er Gott als seinen Vater auch in dieser
äußersten Not anrufen kann so wie schon die Beter der Psalmen. Er steht so an der Seite aller Leidenden,
aller derer, die in Ausweglosigkeit geraten, all derer, die eine schreckliche
Todeserfahrung machen müssen. Und auf eben diese Erfahrung antwortet Gott mit
dem Ostermorgen, mit dem unerwarteten neuen Leben, das das größte
Hoffnungslicht in die Welt setzt und seine Jüngerinnen und Jünger ermutigt und
stärkt, seine Botschaft von der unbegrenzten Liebe Gottes weiter zu tragen.
3. Lernen mit Jesus
Von Jesus lernen, ja, mit ihm lernen:
Können wir das? – Jesus als das hörende und fragende Kind, Jesus als der
lernende Lehrer! Was heißt das für uns?
Hören, das heißt: nicht alles schon wissen,
nicht über alles urteilen, bevor wir gehört haben. Andere nicht überfallen mit
dem, was wir immer schon wissen, sondern aufmerken, wahrnehmen, auch staunen
über das, was uns in der Welt begegnet, was uns in den anderen Menschen
begegnet. Fragen bedeutet, nicht alles selbstverständlich hinnehmen, sondern
sich kundig zu machen. Das bedeutet dann aber auch: Lügen Lügen nennen,
vertrauenswürdigen Fakten zur Geltung zu helfen. Dafür müssen wir uns gerade in
der Corona-Krise stark machen. Dass sie eine große Lern-Herausforderung ist,
haben wir alle erfahren: Wie bleiben wir in Kontakt, wenn die Kontakte radikal
eingeschränkt werden? Wie nutzen wir die digitalen Möglichkeiten, die so vor 30
Jahren noch nicht denkbar waren? Wie stehen wir denen bei, die in vorderster
Front in der Pflege und der Intensiv-Medizin arbeiten? Wie unterstützen wir
die, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind? Können wir nicht
denen, die isoliert sind, mit Telefonaten, Grüßen, Briefen Mut machen? Wovon
Jesus erfüllt war und was er in immer weitere Kreise hinein realisiert hat,
ist: die Menschen mit den Augen der Liebe Gottes zu sehen und danach zu
handeln.
Am bedeutendsten aber ist der letzte
Schritt im Lernen Jesu: sich Gott anvertrauen auch in Not und Anfechtung,
angesichts von Leiden und Ausweglosigkeiten. Hoffen und Handeln über die Realitäten
von Krankheit, Verlassenheit, ja auch den Tod hinaus. Das lässt uns nicht in
Resignation verfallen, auch wenn uns gegenwärtig so viele Ungewissheiten und
Verzagtheiten auf der Erde begegnen. Wir stehen bei, ermutigen und trösten,
helfen und unterstützen, so wie wir es können – und dürfen uns getragen wissen
von der Liebe Gottes, so wie sie in Jesus Wirklichkeit geworden ist.
Ob das alles der 12-jährige Jesus
schon geahnt und gewusst hat? Das ist eine Frage, die wir so nicht beantworten
können. Aber er hat gehört und gefragt, der Anfang eines großen Lernweges, den
er vor und für uns gegangen ist. Die Helligkeit, in die ihn der Künstler auf
unserem Bild mitten unter die Gelehrten gestellt hat, drückt aus: Von diesem
Kind geht eine große Verheißung und Hoffnung für uns alle aus.
Neuwerk-Kirche, Innenraum (Foto: Sabine Lähnemann) |
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