Dienstag, 12. Januar 2021

Klaus Otte (1935-2020): Interreligiöse Hermeneutik als Grenzen überschreitende Kommunikation

Ein Beitrag von Reinhard Kirste

… Hermeneutik ist – schlicht gesagt – wesentlich mehr als Textauslegung. Vielmehr treten nicht nur Text und Hörer/in, sondern alle, die sich gemeinschaftlich auf Traditionen einlassen, miteinander in Kontakt,
um ein besseres Verstehen des Anderen zu ermöglichen.
Das fordert auch zu einer Klärung im Blick auf die eigene Stand-Ort-Bestimmung heraus. So wird im Verstehensprozess aus einem Standpunkt eine orientierende Bewegung, ein Geh-Punkt. Hermeneutik ist damit gerade im Kontext der religiösen Traditionen und heiligen Texte der Religionen
auf vergegenwärtigende Umsetzung angelegt.

Der systematische evangelische Theologe Klaus Otte (1935-2020) [1], gehörte durch sein Jahrzehnte langes Engagement und durch religiöse Grenzen überschreitende Begegnungen zu den wichtigen interreligiösen Brückenbauern. Er hatte in einem Aufsatz über interreligiösen Dialog und Hermeneutik im Jahr 2002 geschrieben [2]

„Dialog im Sinne eines weitgefassten kommunikativen Geschehens zwischen Menschen unterschied­lichster Herkunft und Kultur einerseits und Hermeneutik als Lehre vom gegenseitigen Kommunizieren im humanen und auch übrigen Bereich alles Realen andererseits haben seit jeher eine äußere und eine innere Beziehung zueinander gehabt. Die äußere rein praktische Beziehung verweist auf historisch feststellbare Prozesse zwischen verschiedenen Kultur- und Religionsbereichen in Vergan­genheit und Gegenwart. Die im Hin und Her zwischen den Kulturen und Religionen zugleich dem Sein gemäß vollzogenen dialogischen Vorgänge waren sowohl Sache des gelebten Lebens, als auch immer wieder Aufgabe der Reflexion, die wir umfassend als Hermeneutik kennen …. Dialog und Hermeneutik hängen insofern miteinander zusammen, als das wirklich dialogische Prinzip von der hermeneutischen Sorgfalt der Beteiligten abhängt und eine realistische Verstehenslehre immer nur vom lebendigen Vollzug dessen Stichhaltigkeit und tragende Logik erfährt, was sich im inneren Wesen des Verstehens und Durchstehens tatsächlich abspielt. Ein ausschließlich auf Hören und Sagen aufgebautes Konstrukt von dialogischer Hermeneutik reicht vermutlich nicht aus.“

Eine Reflexion zwischen Wissenschaft und Praxis erfordert allerdings, verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Dazu gehört, den Ursprüngen der Hermeneutik nachzugehen. Diese finden sich in der Mythologie und in der Art, wie der Götterbote Hermes Göttliches unter die Menschen bringt und zugleich die Reisenden als Beschützer begleitet. Seine „Götterkunde“ wurde über die Handelsstraßen der damaligen Welt weiter verbreitet und prägte natürlich auch die theologische Entwicklung des Christentums in der Antike. Eine keineswegs immer friedliche Kommunikation und oft mehr Polemik als Dialog in der Begegnung von Menschen verschiedener Denk- und Glaubensweisen signalisieren aber zumindest, dass im Blick auf die Gegenwart auch dazu gehört, „die Möglichkeit einer universalen Hinterfragung des jeweiligen Seinsverständnisses in tradierten Werten und Normen im Hinblick auf ein universal-gemeinsames Erfahren von Wahrheit und Realität“.[3] Kurzum: interreligiöser Dialog und Hermeneutik bedingen einander und ermöglichen, die eigene religiöse Tradition zu transzendieren. Dadurch werden heilige Texte nicht stereotyp und damit „unzeitgemäß“ wiederholt, sondern für ein besseres Verstehen sachgemäß und zeitgemäß zur Sprache gebracht. Hermeneutik ist ein Prozess, der Ökumene sichtbar und im täglichen Leben erlebbar macht. …

Es sei … an die hermeneutischen Bemühungen der Jahre nach dem 2. Weltkrieg erinnert. Hier wurde in der Frage nach der Wahrheit die Sprache zum Schlüsselelement universaler Verstehensfähigkeit. Es war ein auch interreligiös sich auswirkender Durchbruch, den Hans-Georg Gadamer mit seinem berühmten Werk von 1960 „Wahrheit und Methode“ leistete.[4]

So wurden im weiteren Verlauf sozialgeschichtlich/politische, feministische, religionspluralistische, global-befreiungstheologische Auslegungen von Texten und Situationen erarbeitet. Sie zeigen nicht nur im europäischen und amerikanischen Raum eine universale Dimension. Es wurde damit zugleich offenkundig,  dass eine deduktive Theologie, die von kerygmatisch fixierten oder fixierbaren Sätzen ausgeht, immer weniger Chancen der Verständlichkeit hat.

Das Zusammendenken interreligiös sich weitender Auslegungen gerade auch religiöser Texte  könnte sich zu einer planetarischen interreligiösen Hermeneutik entwickeln. Gewiss, das ist noch nicht Realität, sondern die Vision eines weltumspannenden aufeinander Zugehens, aber es gibt bereits genügend vor-Denker und Vor-Reiter, die im Sinne der Gleich-Wertigkeit der Religionen (nicht Gleichartigkeit) Verstehensveränderungen in Bewegung setz(t)en, die auf eine Versöhnung – keineswegs auf eine Vereinigung der Religionen zielen. TheologInnen verschiedener religiöser Traditionen aus Asien, Afrika und Lateinamerika haben hier teilweise ungewohnte Wege entwickelt. Dies zeigen interreligiöse Brückenbauer, von denen hier nur an wenige Persönlichkeiten erinnert sei - wie auf Seiten des Islam Farid Esack aus Südafrika, für den Buddhismus der Dalai Lama und auf christlicher Seite etwa Aloysius Pieris aus Sri Lanka und José María Vigil aus Panama.[5]

Klaus Otte hat über diese hermeneutische Hoffnungsbewegung eher mystisch gesprochen: „Die somit avisierten hermeneutischen Momente des Seinsvollzugs entstehen aus dem interkulturellen und interreligiösen Zusammenspiel und zugleich auch aus einem vertieften Selbstverständnis in meiner religiösen Tradition. Aus dem interreligiösen Dialog findet das diskutable Sein seine Dynamik und sachgerechte Logik. Der Dialog und somit das Geschehen von Dasein unterliegen eben nicht der menschlichen Machbarkeit, welche vor den Problemen >Differenz und Divergenz< letztlich kapitulieren muss, sondern erfahren sich aus dem Geheimnis geboren, das man in der lateinischen Sprachtradition ‚Religion’ nennt. Die allem zugrunde liegende Frage nach der Identität des Menschen und der Dinge unterliegt ebenfalls im Prozess des phänomenologischen Erscheinens nicht der rationalen Definition, sondern dem Geheimnis der >Religion<“. Klaus Ottes Hermeneutik ist darum logischerweise eine interreligiöse Hermeneutik, die den absoluten Standpunkt zugunsten eines kontinuierlichen Verstehensprozesses hinter sich gelassen hat. Er macht zugleich deutlich, dass in einer globalisierten Welt keine Religion mehr für sich leben kann, sondern nur in Beziehung mit anderen. Interreligiöse Begegnung ist darum Herausforderung und Bereicherung zugleich, m.a.W. die anderen religiösen Anschauungen sind notwendig im Sinne der Komplementarität als des ergänzenden Verstehens durch den Anderen.

Damit gibt Klaus Otte mit seinem „hermeneutisch relevanten Vorwagen“[6] bewusst dem Geheimnis einer umfassenderen Realität Raum, denn Religion erweist sich als “unbestreitbare Wirklichkeit immer wieder erfahrbar und dennoch undefinierbar“.[7]
Das mahnt zur Bescheidenheit aller theologischen Auslegungsversuche ...

 Kurzfassung des Beitrags: 
 Interreligiöse Hermeneutik als Grenzen überschreitende Kommunikation.
Abgedruckt in: OTTE, Christa / OTTE-VAROLGIL, Katharina / KAGERMANN-OTTE, Eva Maria (Hg.): 
Ein Dialog in Raum und Zeit.
Interkultureller und interreligiöser Dialog – 
Feld zwischen Gemeinde und Universität. 
Für Klaus Otte zum 80. Geburtstag.
Hennef: Amator Veritas Verlag 2015, S. 197–200

Der originale Beitrag von 2015 bei academia.edu >>>



  Anmerkungen


Mehr zu Klaus Otte(1935-2020) ---  (wikipedia) >>>

Klaus Otte hat durch die Entwicklung einer interreligiöse-Hermeneutik im Kontext systematischer Theologie
viele geprägt, die ihm im Laufe seines Lebens begegnet sind.
Dazu gehört auch der Schweizer Pfarrer Jakob Vetsch (geb. 1954).

[1]  Biografische Übersicht zu  Klaus Otte bei der Deutschen Ostasienmission (DOAM):
http://www.doam.org/index.php/archiv/personen/781-archiv-person-person-otte

[2]  Interreligiöser Dialog und Hermeneutik.
Eine Hinführung zur Kommunikation zwischen den Religionen aus erlebter Praxis.
In: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.):
Neue Herausforderungen für den interreligiösen Dialog. Religionen im Gespräch, Bd. 7 (RIG 7).
Balve 2002, S. 314

[3]  aaO 317

[5]  Den entscheidenden Durchbruch religionspluralistischer Theologie dürfte der englische Theologe und          
Religionswissenschaftler John Hick geleistet haben,
vgl. dazu: http://religiositaet.blogspot.de/search?q=John+Hick
Dass dies aber kein speziell christliches Phänomen ist, sondern entsprechende Entwicklungen auch in anderen Religionen schon lange vorangetrieben wurden, zeigt ein Blick auf eine Reihe „ Interreligiöser Brückenbauer“:     , http://textmaterial.blogspot.de/2012/11/bruckenbauer-des-interreligiosen-dialogs.html 

[6]  aaO 326

[7]  aaO 328 

Relpäd/Hermeneutik-Otte-kurz, bearb. 27.12.2015, bearb.. 12.01.2020

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen