Freitag, 22. Juni 2018

Antworten der Religionen bei Krankheit und Sterben


Hinduismus: Dem Kreislauf der Wiedergeburten entrinnen können?
Der Umgang mit Krankheit wird im Hinduismus durch die beiden Pole Karma und Reinkarnation geprägt. Karma im Sinne von Tatfolge wirkt sich positiv aus, wenn der Dharma, d.h. das tugendhafte Gesetz gehalten wird. „Das Karma haftet am feinstofflichen Körper, der den Tod überdauert und für die Kontinuität zwischen den verschiedenen Verkörperungen des Atman (Selbst) im Geburtenkreislauf sorgt.“ (Hutter, Heller, Figl 2003: 635).
So muss je nachdem wie die bisherigen Leben verlaufen sind, mit entsprechenden Freuden und Leiden – gerade auch in den außerirdischen Existenzen – gerechnet werden. Dies kann bedeuten, dass eine gewisse Ergebenheit in das Leiden und damit auch in die Krankheit für viele Glaubende die Folge ist. Diese wird erst überwunden, wenn aus den personhaften, individuellen Wiedergeburten der Weg in das wahre (unindividuelle) Selbst vollzogen ist.

Buddhismus: Überwindung des Leidens – Pfade zur Befreiung
Der Buddhismus nimmt den Gedanken vom Kreislauf der Wiedergeburten, vom Rad des Lebens, das sich unaufhörlich dreht, wieder auf, aber anders als im Hinduismus wird das unvergängliche geistige Prinzip im Menschen zugunsten eines anderen Wirklichkeitsverständnisses der menschlichen Existenz zurück gewiesen: Während der Körper verwest, verkörpert sich die „Seele“ im Sinne einer mentalen Daseinsenergie in anderen Körpern. Die Neuformation des Menschen nach dem Tod wird jedoch in den einzelnen Richtungen unterschiedlich gesehen. Letztlich geht es jedoch um das Erwachen, das Erreichen der Buddhanatur, so dass die geistigen Bestandteile des Menschen, die Essenz des Geistes schließlich zur Überwindung des Todes führt und die Todlosigkeit bzw. das Nirvana erreicht wird.
Buddhas Lehre vom Leiden hatte den Sinn, entmutigenden Fatalismus aufzuweichen, weil es nach der hinduistischen Lehre für viele Menschen offensichtlich keinen Entrinnen mehr aus dem ewigen Kreislauf der Widergeburten gab (Figl 2003: 638f).
Im praktischen Leben des Buddhisten kann so die Hoffnung der Überwindung des Leidens konkrete Gestalt von Buddha-Paradiesen annehmen, entscheidend aber bleibt, dem Leiden entrissen zu werden und die Befreiung der Todlosigkeit bzw. des Nirvana zu erlangen, d.h. Krankheit auch als eine Möglichkeit anzunehmen, den Lebenssinn zu schulen und auch so zum Leben zu erwachen.
Im Jahre 2004 hat die Deutsche Buddhistische Union (DBU) einen Kongress zu Alter, krankheit und Tod durchgeführt, in dem deutlich wurde, welche Möglichkeit von „spiritual“ and „medical care“ bis zur buddhistischen Sterbebegleitung in Betracht kommen und wie sie Schritt für Schritt realisiert werden könnten (Buddhismus aktuell 3/2004: 17-19: Wilfried Reuter: Was Heilung wirklich bedeutet).

Judentum: Die Trennung von Gott aufheben
Der Umgang des Judentums mit dem Leiden hat eine Geschichte, deren Veränderungen sich bereits in den biblischen Büchern nachvollziehen lassen. Sehr früh taucht auch der Zusammenhang von Schuld und Vergeltung, Sühne und Vergebung auf, aber letztlich soll nur jeder für seine eigen Sünde verantwortlich sein (Dt 24,16, 2 Kön 14,6). Mit dem Buch Hiob wird das von Gott kommende Leiden existentiell dramatisch personalisiert, in der weiteren Entwicklung auch in den Talmudkommentaren jedoch in die Richtung, dass Entsagung im Leiden nicht aufkommt, sondern Anruf Gottes zur Veränderung die Gedankenrichtung ausmacht, eine Tendenz, die durch die Shoah allerdings einen erheblichen Bruch hervorbrachte und sich in der religiösen Alltagspraxis unterschiedlich auswirkt, besonders bei den Menschen, die in ihren Familien noch Menschen haben bzw. hatten, die die Hölle der KZs durchleiden mussten.
Ohne auf weitere Details einzugehen, sei angemerkt, dass in der heutigen Praxis des Umgangs mit Leiden, Sterben und Tod bleiben überwiegend die Normen und Rituale der jüdischen Orthodoxie wirksam sind (Lau 1990, 332ff, 341ff).

Chinesische Religionen mit Taoismus und Konfuzianismus
China darf durchaus als ein Schmelztiegel vieler unterschiedlicher religiöser Traditionen betrachtet werden. Die Einflüsse traditionaler Religionen Zentralasiens mit starken schamanistischen Elementen gehören ebenso dazu wie die vorbuddhistischen Hauptströmungen des Taoismus und Konfuzianismus, ebenso wie der eingewanderte Buddhismus und Islam, aber auch schon im 5. Jahrhundert das nestorianische Christentum – von den späteren christlichen Missionsbewegungen einmal abgesehen. Der Fokus soll darum auf den beiden Hauptströmungen Taoismus und Konfuzianismus deshalb liegen, weil diese Gedankengebäude und Verhaltensorientierungen bis in die Gegenwart selbst bei säkularisierten Chinesen hineinwirken. Da der Einfluss Chinas aber auch stark in den Nachbarregionen war und ist, gehören u.U. auch Menschen aus Kambodscha, Vietnam und Korea mit in diesem Kontext. Bei Europäern sind teilweise die Grundmuster der Balance von Yin und Yang und esoterische Elemente in den Vordergrund gerückt, so wie das I Ging teilweise im Westen verstanden wird.

Taoismus: Die Wirklichkeit neu sehen lernen
Neben dem Grundmuster von Yin und Yang, den Laotse zugeschriebenen Schriften mit dem Tao te King ist der nach ihm lebende Weise Chuang Tzu mit der von ihm erweiterten Lehre von der Stärke, die in der Schwäche wohnt, bekannt geworden: So wie sich das Schilfrohr vom stärksten Sturmwind nicht geknickt werden kann, so ist das Ziel des Lebens die Harmonie, das Tao. Krankheit und Leid sind durch die Werturteile der Menschen bedingt. So gilt es die Freiheit zu suchen, ehe das Urteil und die Schwierigkeiten Macht gewinnen. „Wenn wir auf die Dinge schauen im Licht des Tao, ist nichts am besten, nichts am schlechtesten. Jedes Ding, in seinem eigenen Licht besehen, hebt sich heraus auf seine eigene Weise … Aber als Ganzes gesehen ragt kein einziges Ding hervor als ‚besser’.“  (Bancroft 1974: 194f).

Konfuzianismus: Die Welt ordnen, den Menschen vervollkommnen
Der Konfuzianismus, der sich ja bis hin zu Staatstheorien entwickelte, stellt sehr intensiv die Frage nach dem Wert des Menschen, seines Selbstbewusstseins, der Bedeutung des Gewissens, des ethischen Handelns und des Selbst-Transzendierens im Sinne einer Geistigkeit, die sich im sog. Himmelskult ihr rituelles Muster gesucht hat. Dabei spielt die Vorstellung eines persönlichen Gottes eine untergeordnete Rolle. Konfuzius „hat einen ethischen Humanismus mehr und mehr Raum gegeben“ (Ching 1989: 182). Es bleibt auch eine Spannung zwischen Kult, Ritus und Meditation bestehen. Der immer wieder auftretende Gedanke einer idealen Gesellschaft geht in Richtung der großen Einheit bzw. der großen Gleichheit (Ching: aaO 208). Ziel also ist eine harmonische  Balance zwischen Aktivität und Passivität, in die auch die Fragen nach Leiden, Krankheit und Sterben einzuordnen sind.

Japanische Religionen: Sich neu orientieren
Christian Oberländer hat auf die Spannung zwischen traditioneller Medizin und modernem Krankheitsverständnis in Japan besonders hingewiesen und er resümiert: „Der Blick auf die langfristige Entwicklung von Japans ‚traditioneller’ Kanpô-Medizin relativiert exemplarisch die Frage nach dem Medizin- und Krankheitsverständnis, weil er erkennen lässt, dass es ursprünglich kein einheitliches, quasi außerhistorisches ‚traditionelles’ Krankheitsverständnis gab, sondern dass das historische Krankheitsverständnis vielfältig war und im Laufe des Modernisierungsprozesses umfangreiche Veränderungen durchlaufen hat“ (Zeitschrift für medizinische Ethik 2003: 286). Damit lassen sich im Blick auf japanische Patienten kaum irgendwelche allgemeine Orienteierungshilfen geben, sondern beim jeweiligen Patienten spielt sein biografischer Hintergrund, seine persönliche Entwicklung und sein gegenwärtiger Glaubensschwerpunkt in der religiös pluralen Vielfalt, Japans die auffälligste Rolle.

Zoroastrismus (Parsismus): Das Böse besiegen, zum Licht kommen
Diese dualistisch geprägte Religion – und damit die ständige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis – kommt aus dem Mittleren Osten. Muslimische Iraner und Iraker haben durchaus zoroastrische Elemente in ihrem Glaubensverständnis verinnerlicht. Der Zoroastrismus schien durch die islamische Invasion in das Zweistromland, den Iran und Indien fast zum Verlöschen verurteilt zu sein, erholte sich jedoch wieder – gerade in der Gegenwart. In Deutschland treten die Anhänger Zarathustras allerdings nur vereinzelt auf, während im indischen und englischen Raum diese Gruppe etwas stärker vertreten ist, allerdings in recht verschiedenen Ausformungen, so dass sich traditionelle und moderne Elemente im Blick auf den Dualismus, die Befolgung bestimmter Regeln und individuelles Verhalten oft auch mischen (Kreybroek 1993: 298ff). Da die Rituale z.B. bei Sterben und Tod sehr kompliziert sind, haben westliche Zoroastrier einen Teil dieser Riten verlassen, ziehen im Blick auf die Bestattung jedoch in der Regel die Verbrennung vor (vgl. Nigosian 2001: 101-103).

Jainismus: Die Welt überwinden
Der etwa zeitlich parallel zum Buddhismus entstehende Jainismus (Dundas 1992)) gilt als Religion des Mitleidens (compassion) und eines konsequent gelebten ökologischen Verhaltens und strenger vegetarischer Ernährung, sozusagen auf dem Weg der Askese zum Heil. Auch hier spielen Vorstellungen der Reinkarnation eine beachtliche Rolle. Auf diesem Weg zur Vollendung wird der Leib eher als ein Hindernis empfunden. Der Sieg über die Leidenshaften ist auch ein Sieg über das Leiden. Am Leiden geht man zugrunde, sofern man nicht aus dem Kreislauf des Karma herauskommt: „There must always remain the possibility of responding to spiritual prompting and awakening or suddenly experiencing fear of the round of rebirth” (Dundas: 87). Angesichts der konsequent gelebten Gewaltlosigkeit aller Jains ist jede Behandlung herausgefordert, den kranken Jain in seinem durch Krankheit herausgeforderten Läuterungsprozess zu begleiten, so dass die Seele eine höhere spirituelle Ebene erreicht.

Christentum: Leiden als Durchgang zur Gemeinschaft mit Gott
Durch die Passion und Kreuzigung Jesu hat das Leiden im Kontext des Heils eine herausragende Bedeutung gewonnen und schwankt zwischen schicksalhaft bis moralisch böse. Kaum eine andere Religion hat auch die Frage: Warum kann Gott dass Leid zulassen? so intensiv thematisiert wie das Christentum (Theodizeefrage). Aber immer steht im Hintergrund, dass das Leiden für den Glauben und das Heil nutzbar gemacht werden soll. Die Briefe des Paulus, Augustins Gedanke vom Leiden als von Gott zugelassener Mangel des Guten wirken in der gesamten Christentumsgeschichte nach, ebenso wie der Ansatz des Irenäus, der das Leiden als Teil des Bösen sieht, um beim Menschen einen Lernprozess in Gang zu setzen, der ihn (wieder) zu Gott zurückführen wird.
Bei der Vielfältigkeit des Christentums ist zu berücksichtigen, dass neben den großen Kirchen (katholische, evangelische und orthodoxe Kirchen) besonders die Zeugen Jehovas, die Christengemeinschaft, die Mormonen, die Neuapostolische Kirche, die Quäker, die Siebenten-Tags-Adventisten, die Rastafaris und – sofern man sie wirklich vollständig dem Christentum zuordnen will – die Zigeuner (Sinti und Roma hauptsächlich als die größten Gruppen) Verhaltensweisen und Riten entwickelt haben, die unterschiedlich auf die theologischen Vorgaben reagieren.
Für das Christentum insgesamt hat m.E. Walter Hollenweger den Dienst am Kranken auf den Punkt gebracht:
„Der Christ weiß sehr wohl. Es gibt gesunde Sünder und kranke Heilige. Weder führt der Glaube notwendigerweise zur Heilung, noch ist die Krankheit notwendigerweise die Folge von Unglauben. Christen verharren im Gebet und im Gottvertrauen in gesunden und in kranken Tagen … Das Christliche am Gebet für die Kranken ist die Einsicht, dass das Gebet keine unfehlbare Medizin ist, die garantiert wirkt, wenn alles andere versagt.“ So geht es Hollenweger nicht darum, „Gottes Eingriff zu beweisen, sondern den christlichen Gemeinden Mut zu machen, die leibhafte, materielle Seite ihres Gottesdienstes ernst zu nehmen.“ (Hollenweger 1988: 58.59)

Islam: Sich von Gott gehalten wissen
Im Islam spielt die Heilsgeschichte keine besondere Rolle. Der Gläubige ist in die Hand des allmächtigen und barmherzigen Gottes hinein gegeben, so dass von daher auch Leiden im Prinzip mit Gelassenheit getragen werden können, denn die Freunde Gottes brauchen keine Angst zu haben (Sure 10,62). Es scheint so, dass muslimische Patienten sich insgesamt leichter mit Leiden und Krankheit abfinden, als Menschen, die selbst säkularisiert, aus der christlichen Tradition kommen. Dennoch wird man wohl nicht einfach von Schicksalsergebenheit oder Schicksalsgläubigkeit reden dürfen.
Interessant jedoch ist, dass die Schia gegenüber der Sunna das Leidensmotiv wesentlich verstärkt, das in manchem dem christlichen Märtyrergedanken nahe kommt.
In Großbritannien hatte sich die islamische Seite schon früh auf die veränderte Situation unter Migrationsbedingungen eingestellt und die Islamic Foundation in Großbritannien hatte ein Begleitbuch herausgegeben, das sowohl grundsätzliche Überlegungen mit hoher inner-islamischer Konsensfähigkeit als auch praktische Orientierung bietet, weil es Menschen auf der Erfahrungsebene anspricht, die mit Andersgläubigen in ihrem Berufsalltag zu tun haben (McDermott 1980). Gerade beim Islam zeigt sich die Bandbreite religiöser Traditionen, die zwischen dem starren Festhalten an althergebrachten Traditionen und Flexibilisierung gegenüber einer neuen kulturellen Situation schwankt, wie sie viele Migranten durch ihre Einwanderung erlebt haben und im Umgang mit der autochthonen stark säkularisierten Gesellschaft in Deutschland immer wieder erleben (vgl. auch Borek 1999: 131ff). Ina Wunn hat mir ihrer ausführlichen Untersuchung „Muslimische Patienten“ in Hannover und Umgebung gezeigt, wo die speziellen Bedürfnisse muslimischer Patientinnen und Patienten liegen. Sie hat eine Reihe islamischer Gesprächspartner, aber auch konkrete „Fälle“ bearbeitet und kommt zu dem ermutigenden Schluss: „Bezüglich der besonderen Anforderungen der Religion sind einerseits die großen Häuser so weltläufig, ist andererseits der Islam so beweglich, dass tatsächliche Konfrontationen zwischen den Erfordernissen von Medizin und Pflege und religiösen Pflichten nicht auftreten. Das heißt jedoch nicht, dass es keinen Spielraum für Verbesserungen gäbe“ (Wunn 2006: 199), z.B. im Blick auf die weibliche Schamhaftigkeit, die Hygiene, die Ernährung bis hin zu intensiveren und kompetenten Gesprächsangeboten aus der eigenen islamischen Gemeinde.

Sikhismus: Haushalterschaft und Verantwortung
Der streng monotheistisch ausgerichtete Sikhismus ist eine Religion der Hingabe, auf der die völlige Befreiung erreicht wird. Die Symbole dieser Hingabe wirken in die alltägliche und zeremoniale Praxis bis in die Kleidung hinein (Turban, Kurzschwert) hinein. Entscheidend ist jedoch die medizinische und soziale Sorge und Verantwortung, die in Indien etwa dazu geführt hat, das es eine , so dass es viele von Sikhs betriebene Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen gibt (Cole / Singh Sambhi 1995: 150f). „Aus dem Ichgefühl entsteht die Welt … und vergisst man Gottes Namen, so muss man Leid erfahren. Wer dem Guru folgt, vertieft sich in die wirkliche Erkenntnis und verbrennt sein Ichgefühl im Wort. Rein ist er an Leib und Sinn, rein ist seine Rede, er gehet in den Wahren Gott ein“ (so Guru Nanak in: Thiel-Horstmann 116)

Baha’i: Die von Gott gegebene Menschenwürde achten
Angehörigen der Baha’i-Religion kommen aus unterschiedlichen Ländern (hauptsächlich Iran) oder sind deutsche Konvertiten. Da diese Religion keine besonders von der christlichen Tradition abweichende Riten bei der Behandlung von Kranken und Sterbenden entwickelt hat, ist eigentlich nur der Kontakt mit Menschen der Religion vom Arzt bzw. vom Krankenhaus her zu halten, um auf etwaige kulturelle Besonderheiten Rücksicht zu nehmen (vgl. Adamson / Hainsworth 1998).

Traditionale Religionen
Vertreter traditionaler Religionen werden nur in wenigen Fällen in einem deutschen Krankenhaus auftauchen, dennoch sollte man sich aber klarmachen, dass Kranke aus Zentralasien, China, Afrika und Amerika Elemente religiösen Verhaltens mitbringen, die den Einfluss der Heimatkultur zeigen.  Heil und Heilung bilden in den meisten Kontexten einen unauflöslichen Zusammenhang (vgl. Lee-Linke 2006). Es sei nur daran erinnert, dass ein wie auch immer gearteter Ahnenglaube unmittelbar auf den Krankheitsverlauf und den Gesundungsprozess einwirkt, aber auch die Art des Sterbens mit bestimmt.
Dazu ein Beispiel aus einem Gebet gegen Krankheit aus Sibirien:

            „Vater, sende weg Kinderkrankheiten
            von dem, der jetzt betet!
            Mutter, beschütze vor dem Bösen
            Denjenigen, der jetzt betet!
            Wasche ihn mit kaltem Quellwasser,
            hebe seinen Kopf empor vom Kissen,
            lass es ihm besser gehen von Tag zu Tag,
            lass ihn frisch atmend vom Bette sich erheben!
            Heile alle Krankheiten schnell,
            reinige die Eingeweide!
            Stelle wieder her acht Geberationen!
            So zu Mitternacht habe ich in gutem Herzen
            Und mit guten Worten um jegliches Ding gebetet“ (di Nola 1984: 50).

Alternative Heilungsverständnisse
Nicht an eine bestimmte Religion gebunden, aber angesichts des Einflusses einer Fülle religiöser Strömungen in den Alltag des heutigen Menschen, spielen auch alternative Heilungsformen eine immer größere Rolle. Die Bandbreite reicht von anthroposophischen Ansätzen über Heilkräuterkunde bis zu esoterischen und magischen Praktiken, die teilweise bewusst an traditionale Religionen anknüpfen und durch den Besuch von Schamanen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika noch verstärkt werden.
Walter Hollenweger hat jedoch schon sehr früh darauf hingewiesen – und die zunehmende Praxis von Heilungsgottesdiensten innerhalb und außerhalb der Kirchen (z.B. in charismatischen Gruppen sowie in vielen religiösen Traditionen) zeigt dies an – dass sich hier ein Feld bisher noch kaum systematisch wahrgenommener Möglichkeiten auftut.
„Die Frage ist nicht mehr, ob es Heilung jenseits unserer Plausibilitätsstrukturen gibt. Ihre Tatsächlichkeit ist erwiesen. Die Frage ist vielmehr, in welchem kulturellen Kontext, im Umfeld von welchem Menschen- und Wirklichkeitsverständnis solche Heilungen geschehen und verstanden werden können. Mit anderen Worten: Wie gehen wir mit ihnen medizinisch und theologisch verantwortlich um.“ (Hollenweger 1988:  51)

Auszug aus: Reinhard Kirste: Begleitung von Krankheit und Sterben:
Religionswissenschaftlich fundierte Möglichkeiten -
Voraussetzungen und Anregungen.

in: Mic
hael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.): Handbuch der Religionen (HdR) ©
Bamberg: Mediengruppe Oberfranken 1997ff, hier: HdR I-19, EL 23/2010   




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