LEBRUN, Françoise (Text) /
BIENFAIT, Andrée u.a (Illustrationen):
Die Geheimnisse der wundersamen Nacht. Weihnachtslegenden.
BIENFAIT, Andrée u.a (Illustrationen):
Die Geheimnisse der wundersamen Nacht. Weihnachtslegenden.
Lahr: Kaufmann /
Stuttgart: Klett
1996, 39 S., Abb.
1996, 39 S., Abb.
Das wunderbare
Spinnennetz
(aaO
S. 5–15)
Seit
mehreren Tagen schon strömten unzählige Menschen in das beschauliche Bethlehem,
um sich in die Steuerlisten des römischen Kaisers Augustus eintragen zu lassen.
Jeder musste sich an seinem Heimatort eintragen lassen und so kam es auch, dass
Josef mit seiner hochschwangeren Frau Maria nach Bethlehem kam. Die Nacht
mussten sie im Stall einer Herberge im Stroh zwischen dem Vieh verbringen, da
die Herbergen in der Stadt restlos überfüllt waren. In eben jener Nacht geschah
es, dass Maria ihr Kind gebar. Josef wollte sofort Hilfe holen für die Mutter
und ihr Neugeborenes, aber fand zu so später Stunde niemanden mehr bis auf ein
junges, in ein Tuch gehülltes Mädchen. Sie folgte ihm bald, ohne auch nur ein
Wort zu sagen. Beim Betreten des Stalls, als sich das Tuch leicht zurückschob,
bemerkte Maria voller Mitleid, dass das Mädchen keine Arme hatte. Daraufhin
wartete sie, bis das Mädchen sich auf den Boden in den Stroh gesetzt hatte, und
legte ihr das kleine, neugeborene Kind in den Schoß. Das Kleinkind fing sofort
an zu lachen und streckte seine Ärmchen dem jungen Mädchen entgegen. Und siehe
da: Sie hatte zwei Arme und zwei Hände und half Maria dabei, das Kind zu
versorgen.
Es war
auch diese Nacht, in der Engel allen Menschen verkündeten, dass der Retter der
Welt, der König aller Könige, in Bethlehem geboren war. Und auch Hirten
verbreiteten diese frohe Botschaft im Lande. So kam es nicht von ungefähr, dass
König Herodes davon erfuhr – von der Geburt eines Rivalen. Niemand außer ihm
sollte König sein, und so beschloss er kurzerhand, das Kind töten zu lassen.
Dem
Josef erschien aber ein Engel im Traum, der ihn vor Herodes warnte und
aufforderte, mit Maria und dem Kind nach Ägypten zu fliehen. Und so verließen
sie Bethlehem und machten sich auf in das Gebirge. Die Soldaten des Herodes
waren ihnen jedoch unerbittlich auf den Fersen. Als die Fliehenden schon fast
die Hoffnung aufgegeben hatten, erblickten sie eine Höhle. Sofort krochen Josef
und Maria mit dem kleinen Kind im Arm hinein und suchten dort Schutz. Eine Spinne,
die in der Höhle wohnte, erblickte das Kind, wie es ahnungslos im Arm seiner
Mutter lag. Sie lief zum Eingang und spann in kürzester Zeit ein Spinnennetz.
Gerade als das Netz fertig gesponnen war, kamen zwei Soldaten auf der Suche
nach dem Kind zur Höhle und wollten sie untersuchen. Einer näherte sich dem
Höhleneingang, doch sofort fiel ihm das nagelneue Spinnennetz auf, in dem auch
noch die Spinne saß. Niemand hätte die Höhle folglich betreten können, ohne
dabei das Netz zu zerstören. Und so machten sich die beiden Soldaten geschwind
wieder auf den Weg.
Als die
Luft endlich rein war, verließen Josef und Maria mit dem Kind ganz vorsichtig
die Höhle, um ja das kunstvolle Spinnennetz nicht zu vernichten. Lediglich ein
winziger Faden vom Netz blieb an Marias Tuch hängen. Diesen Faden trug der Wind
davon ins Land. Seit jeher nennt man nun die silbrig glänzenden Spinnenfäden,
die man an schönen Herbsttagen auf den Feldern und an den Pflanzen hängen
sieht, Marienfäden. In den frühen Morgenstunden glitzern Tautropfen an ihnen
als Erinnerung an Marias Freudentränen über die wunderbare Rettung.
Die letzte Besucherin
(aaO
S. 29–31)
Es war
am Ende jener Nacht, als der Stern, der die Geburt des Kindes angezeigt hatte,
zu verblassen begann und auch der letzte der drei Könige gegangen war; Maria
schüttete nochmal das Stroh in der Krippe auf, damit das Kind auch endlich
einschlafen konnte. Da öffnete sich langsam und ganz behutsam die Stalltür, als
hätte ein Lufthauch sie geöffnet. Auf der Schwelle stand eine alte und
runzelige Frau, die keine Schuhe trug und in Lumpen gekleidet war. Ihr Gesicht
sah aus wie ausgetrocknete Erde. Sie war krumm und uralt. Maria erschrak bei
dem Anblick der Frau und ließ sie nicht aus den Augen. Ochs und Esel hingegen
kauten weiter auf dem Stroh herum und sahen die Besucherin ohne Erstaunen an,
die sich nun langsam der Krippe mit dem schlafenden Kind näherte. Als sie bei
der Krippe angelangt war und sich herabbeugte, da öffnete das Kind plötzlich
seine Augen. Und mit Erstaunen musste Maria feststellen, dass sich die Augen
ihres Kindes und die der alten Besucherin ähnlich waren. Beide Augenpaare waren
erfüllt vom Glanz der Hoffnung. Die Frau kniete sich nun vor der Krippe nieder
und fing an, etwas in ihren Tüchern und Lumpen zu suchen. Maria beobachtete die
Alte weiterhin voller Misstrauen, schwieg aber. Die Tiere jedoch schauten, als
würden sie wissen, was geschehen würde. Es dauerte schier endlose Zeit, bis die
Frau gefunden hatte, wonach sie suchte.
Endlich
zog die Alte etwas hervor, hielt es verborgen in ihrer Hand und dann legte sie
es zum Kind in die Krippe. Nun trat Maria einen Schritt vor. Die Neugier packte
sie. Sie wollte wissen, was das für ein Geschenk war – nach all den Schätzen
der Drei Könige und den Opfergaben der Hirten. Sie reckte sich, konnte es aber
nicht erkennen. Es dauerte wieder eine Ewigkeit, dann erhob sich die Besucherin
– wie erleichtert von einer schweren Last. Sie richtete sich auf, ihre
Schultern und Rücken waren nun nicht mehr gekrümmt. Ihr Gesicht hatte sich auf
wundersame Weise verjüngt. Kerzengerade stand sie im Stall, bevor sie in der
Nacht verschwand, aus der sie gekommen war. Nun konnte Maria ihr
geheimnisvolles Geschenk betrachten. Es war die Frucht aus dem Paradiesgarten,
von der die alten heiligen Schriften berichten. Sie glänzte in den Händen des
Kindes.
Swen Nico Brust
Erneut
nacherzählt:
Im Rahmen des Seminars: Interreligiöses Lernen
mit Heiligen Schriften und Erzählungen aus den Weltreligionen
(TU Dortmund, WiSe 2016/2017)
Im Rahmen des Seminars: Interreligiöses Lernen
mit Heiligen Schriften und Erzählungen aus den Weltreligionen
(TU Dortmund, WiSe 2016/2017)
TU-DO-WiSe
2016-2017/Weihnachtslegenden, 22.12.2016
CC
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