Donnerstag, 22. Dezember 2016

Zwei Weihnachtslegenden


Vorlage:
LEBRUN, Françoise  (Text) /
BIENFAIT, Andrée u.a (Illustrationen):
Die Geheimnisse der wundersamen Nacht. Weihnachtslegenden.
Lahr: Kaufmann / Stuttgart: Klett
1996, 39 S., Abb.

Das wunderbare Spinnennetz 
(aaO S. 5–15)
Seit mehreren Tagen schon strömten unzählige Menschen in das beschauliche Bethlehem, um sich in die Steuerlisten des römischen Kaisers Augustus eintragen zu lassen. Jeder musste sich an seinem Heimatort eintragen lassen und so kam es auch, dass Josef mit seiner hochschwangeren Frau Maria nach Bethlehem kam. Die Nacht mussten sie im Stall einer Herberge im Stroh zwischen dem Vieh verbringen, da die Herbergen in der Stadt restlos überfüllt waren. In eben jener Nacht geschah es, dass Maria ihr Kind gebar. Josef wollte sofort Hilfe holen für die Mutter und ihr Neugeborenes, aber fand zu so später Stunde niemanden mehr bis auf ein junges, in ein Tuch gehülltes Mädchen. Sie folgte ihm bald, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Beim Betreten des Stalls, als sich das Tuch leicht zurückschob, bemerkte Maria voller Mitleid, dass das Mädchen keine Arme hatte. Daraufhin wartete sie, bis das Mädchen sich auf den Boden in den Stroh gesetzt hatte, und legte ihr das kleine, neugeborene Kind in den Schoß. Das Kleinkind fing sofort an zu lachen und streckte seine Ärmchen dem jungen Mädchen entgegen. Und siehe da: Sie hatte zwei Arme und zwei Hände und half Maria dabei, das Kind zu versorgen.
Es war auch diese Nacht, in der Engel allen Menschen verkündeten, dass der Retter der Welt, der König aller Könige, in Bethlehem geboren war. Und auch Hirten verbreiteten diese frohe Botschaft im Lande. So kam es nicht von ungefähr, dass König Herodes davon erfuhr – von der Geburt eines Rivalen. Niemand außer ihm sollte König sein, und so beschloss er kurzerhand, das Kind töten zu lassen.
Dem Josef erschien aber ein Engel im Traum, der ihn vor Herodes warnte und aufforderte, mit Maria und dem Kind nach Ägypten zu fliehen. Und so verließen sie Bethlehem und machten sich auf in das Gebirge. Die Soldaten des Herodes waren ihnen jedoch unerbittlich auf den Fersen. Als die Fliehenden schon fast die Hoffnung aufgegeben hatten, erblickten sie eine Höhle. Sofort krochen Josef und Maria mit dem kleinen Kind im Arm hinein und suchten dort Schutz. Eine Spinne, die in der Höhle wohnte, erblickte das Kind, wie es ahnungslos im Arm seiner Mutter lag. Sie lief zum Eingang und spann in kürzester Zeit ein Spinnennetz. Gerade als das Netz fertig gesponnen war, kamen zwei Soldaten auf der Suche nach dem Kind zur Höhle und wollten sie untersuchen. Einer näherte sich dem Höhleneingang, doch sofort fiel ihm das nagelneue Spinnennetz auf, in dem auch noch die Spinne saß. Niemand hätte die Höhle folglich betreten können, ohne dabei das Netz zu zerstören. Und so machten sich die beiden Soldaten geschwind wieder auf den Weg.
Als die Luft endlich rein war, verließen Josef und Maria mit dem Kind ganz vorsichtig die Höhle, um ja das kunstvolle Spinnennetz nicht zu vernichten. Lediglich ein winziger Faden vom Netz blieb an Marias Tuch hängen. Diesen Faden trug der Wind davon ins Land. Seit jeher nennt man nun die silbrig glänzenden Spinnenfäden, die man an schönen Herbsttagen auf den Feldern und an den Pflanzen hängen sieht, Marienfäden. In den frühen Morgenstunden glitzern Tautropfen an ihnen als Erinnerung an Marias Freudentränen über die wunderbare Rettung.

Die letzte Besucherin (aaO S. 29–31)
Es war am Ende jener Nacht, als der Stern, der die Geburt des Kindes angezeigt hatte, zu verblassen begann und auch der letzte der drei Könige gegangen war; Maria schüttete nochmal das Stroh in der Krippe auf, damit das Kind auch endlich einschlafen konnte. Da öffnete sich langsam und ganz behutsam die Stalltür, als hätte ein Lufthauch sie geöffnet. Auf der Schwelle stand eine alte und runzelige Frau, die keine Schuhe trug und in Lumpen gekleidet war. Ihr Gesicht sah aus wie ausgetrocknete Erde. Sie war krumm und uralt. Maria erschrak bei dem Anblick der Frau und ließ sie nicht aus den Augen. Ochs und Esel hingegen kauten weiter auf dem Stroh herum und sahen die Besucherin ohne Erstaunen an, die sich nun langsam der Krippe mit dem schlafenden Kind näherte. Als sie bei der Krippe angelangt war und sich herabbeugte, da öffnete das Kind plötzlich seine Augen. Und mit Erstaunen musste Maria feststellen, dass sich die Augen ihres Kindes und die der alten Besucherin ähnlich waren. Beide Augenpaare waren erfüllt vom Glanz der Hoffnung. Die Frau kniete sich nun vor der Krippe nieder und fing an, etwas in ihren Tüchern und Lumpen zu suchen. Maria beobachtete die Alte weiterhin voller Misstrauen, schwieg aber. Die Tiere jedoch schauten, als würden sie wissen, was geschehen würde. Es dauerte schier endlose Zeit, bis die Frau gefunden hatte, wonach sie suchte.
Endlich zog die Alte etwas hervor, hielt es verborgen in ihrer Hand und dann legte sie es zum Kind in die Krippe. Nun trat Maria einen Schritt vor. Die Neugier packte sie. Sie wollte wissen, was das für ein Geschenk war – nach all den Schätzen der Drei Könige und den Opfergaben der Hirten. Sie reckte sich, konnte es aber nicht erkennen. Es dauerte wieder eine Ewigkeit, dann erhob sich die Besucherin – wie erleichtert von einer schweren Last. Sie richtete sich auf, ihre Schultern und Rücken waren nun nicht mehr gekrümmt. Ihr Gesicht hatte sich auf wundersame Weise verjüngt. Kerzengerade stand sie im Stall, bevor sie in der Nacht verschwand, aus der sie gekommen war. Nun konnte Maria ihr geheimnisvolles Geschenk betrachten. Es war die Frucht aus dem Paradiesgarten, von der die alten heiligen Schriften berichten. Sie glänzte in den Händen des Kindes.
Swen Nico Brust
Erneut nacherzählt:
Im Rahmen des Seminars: Interreligiöses Lernen
mit Heiligen Schriften und Erzählungen aus den Weltreligionen
(TU Dortmund, WiSe 2016/2017)


TU-DO-WiSe 2016-2017/Weihnachtslegenden, 22.12.2016 

 CC 


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