Montag, 29. Juni 2020

Till Kinzel: Besprechung des Buches "Marsilio Ficino in Deutschland und Italien"


Jutta Eming und Michael Dallapiazza (Hg.), unter Mitarbeit von
Falk Quenstedt und
Tilo Renz:


Marsilio Ficino in Deutschland und Italien
Renaissance-Magie zwischen Wissenschaft und Literatur 
Reihe: Episteme in Bewegung 7 - Wiesbaden : Harrassowitz,
2017, VIII, 291 S.  (kein Register)
 --- ISBN 978-3-447-10828-7---  

Der Literaturwissenschaftler  Till Kinzel  (TU Berlin) hat eine konzise und angenehm durchstrukturierte Rezension dieses Titels unter academia.edu veröffentlicht, der hier übernommen wurde.

Der Originaltext bei academia.edu:  
  • Besprechung in "Einsichten" mit englischer, französischer und spanischer Zusammenfassung (in Vorbereitung): 

Besprechung von Till Kinzel:
Marsilio Ficino in Deutschland und Italien 
Unter den Denkern der italienischen Renaissance ist Marsilio Ficino (1433 - 1499) einer der bedeutendsten,1 der nicht zuletzt auch für die Platon-Rezeption der Moderne von großer Bedeutung war und somit auch in die Reihe derjenigen Denker gehört, die der Philosophiegeschichte „Fußnoten zu Platon“ hinzufügten.2 Seine Rezeption in Deutschland wird aber vielleicht nicht zu den allgemein bekannten Tatsachen rechnen dürfen auch wenn es immer wieder Phasen intensiverer Wechselbeziehungen zwischen Italien und Deutschland gab.3 Ficino spielte in der Ideengeschichte der Frühen Neuzeit und auch darüber hinaus eine wichtige Rolle.4 Hier ist auch an den Hermetismus5 zu erinnern.

Der vorliegende Sammelband6 mit Aufsätzen über die Ficino-Rezeption in Deutschland und Italien7 geht zurück auf eine Tagung, die im September 2015 an der FU Berlin stattfand, zugleich in deutsch-italienischer Kooperation (Universität Bologna).


In drei Teilen I. Begriffe und systemische Verknüpfungen, II. Schreibweisen und III. Übersetzungen, Netzwerke und negative Transfers werden exemplarische Studien vorgestellt, die den Beginn eines Dialogs
zwischen Neuplatonismusforschern aus Italien, Deutschland und Frankreich darstellt, denn es wird hier ausdrücklich beklagt, daß eine solche übernationale Zusammenarbeit noch zu wenig praktiziert werde, „was angesichts der europäischen  Verbreitung des Phänomens weder zufriedenstellend noch gerechtfertigt ist“ (S. 3).



Die Forschungen dazu konzentrieren sich auf die „literarisch-künstlerischen, literaturwissenschaftlichen,
wissenschaftshistorischen und philosophisch- theologischen Implikationen von Ficinos Schriften“,
um sie 
vergleichend in den Blick zu nehmen. Daraus resultiert auch das potentielle Interesse der genannten Wissenschaften an dem Band. Indem etwa nach den Schreibweisen gefragt wird, kommen aber auch Schnittstellen von literaturwissen-schaftlicher und philosophischer Forschung zur Sprache. Denn die Verbindung oder das Verhältnis von Dichtung und Philosophie, wie es in der florentinischen akademischen Praxis gestaltet wurde, wird etwa von Bernhard Huss am Beispiel der Petrarca-Vorlesungen G. B. Gellis analysiert, der dessen Anspruch ernst nimmt, seine philosophischen Darlegungen seien „eine notwendige Grundlage einer korrekten Textinterpretation“ auch von lyrischen Texten (S. 203).


Im ersten Teil wird die zentrale Rolle der Magie, die nicht nur für Ficinos Werk konstatiert werden kann, im Kontext des Humanismus erörtert (Stéphane Toussaint), aber es werden auch bestimmte Aspekte von Ficinos Denken selbst diskutiert, so z.B. das Verhältnis von Intellekt und Seele bei Ficino vor dem metaphysischen Hintergrund der Lehre Plotins (Fosca Ma-riani Zini) oder die Rolle des Saturn als Kippbildbei Ficino (Susanne Bei-weis). Saturn hat eine stark schwankende Wirkmacht auf den Melancholiker, als der auch Ficino selbst galt, der unter dem Einfluß dieses Planeten geboren wurde (S. 57). Die umfangreichen Briefe in zwölf Bänden bieten hier anschauliches Quellenmaterial, aber auch sonst finden sich Bezüge sowohl auf einen göttlichen, als auch auf einen bestialischen Saturn (S. 66). Schon Teil der Rezeptionsgeschichte ist die Lektüre Ficinos durch einen christlichen Kabbalisten namens Francesco Zorzi, die auch Anlaß gibt, die Forschungen kritisch zu betrachten, die sich mit dem Verhältnis Ficinos zum Judentum sowie zur Kabbala befaßt haben (S. 69).


Die philosophische Poetik Ficinos wird im Hinblick auf die „Kommunikation“ behandelt, die Gott letztlich mittels der Schönheit mit den Menschen praktiziert (Steffen Schneider). Denn Offenbarung als eine solche Kommunikation zielt darauf, daß die Menschen lernen, „die Wirkung des Einen in der Welt wahrzunehmen“ (S. 87). Zugleich weiß aber Ficino auch viel über das kommunikative Handeln als soziale Praxis, wie schon aus seiner vielfältigen Tätigkeit als Übersetzer, Kommentator, Briefschreiber, Lehrer, Musiker und Philosoph erhellt (S. 87). Zu den hiermit verknüpften Themen gehört etwa auch der furor poeticus, jenes Theorem, das etwa Rabelais zum Anlaß für saftige Parodien und Satiren bot (S. 264), wie es in einem sehr instruktiven Aufsatz von Volkhard Wels dargestellt wird, der sich mit der Rezeption der Enthusiasmustheorie des Neuplatonismus in Italien, Frankreich und Deutschland befaßt sowie mit deren Abbruch um 1600. Ficinos wichtige These vom furor poeticus wurde schon zu seiner Zeit massiv angegriffen, und zwar von keinem Geringeren als Girolamo Savonarola, der anders als Ficino weltliche Dichtung, Malerei und Musik ablehnte, die Ficino zufolge gerade nötig waren, „damit die Seele sich auf dieser Welt an die Idee der Schönheit erinnert und ihren Weg zurück zu Gott antreten kann“ (S. 237).


Anknüpfend an Philosopheme aus der der Symposium-Adaption De amore diskutiert Sergius Kodera die Theorie der Augenstrahlen Ficinos bei Agrippa von Nettesheim, Castiglione, della Porta und Giordano Bruno, während Tilo Renz das „Traumwissen“ bei Ficino und dem Arzt Johann Hartlieb in dessen Alexanderroman-Version vergleicht. Exemplarische Rezeptionsphänomene findet man in der Übersetzung von Ficinos De vita durch den Straßbruger Arzt und Humanisten Johannes Adelphus Muling aus der Zeit um 1500 (Barbara Sasse Tateo), wobei bisher monographische Studien zu dessen Leben und Werk fehlen. Die widersprüchliche Rezeption dieses Textes selbst bietet Anlaß zu einer Art Revision, denn einerseits wurde ihm „eine wichtige Funktion für die Verbreitung der neuplatonischen Melancholie- und Saturnauffassung in Deutschland zugewiesen“, andererseits aber die Über-setzung negativ beurteilt (S. 179). Schließlich wird von Grantley McDonald in knapper Form und in englischer Sprache untersucht, wie Ficino zwischen 1489 und 1509 an der Universität Leipzig rezipiert wurde – also erstaunlich rasch.

Die Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes werden kurz vorgestellt; ein Register ist nicht vorhanden.


Till Kinzel

1    Siehe zur italienischen Philosophie z.B. History of Italian Philosophy / Eugenio Garin. Introd. by Leon Pompa. Transl. from Italian and ed. by Giorgio Pinton. -
Amsterdam [u.a.] : Rodopi, 2008. - Vol. 1 - 2. - LX, 1373 S. ; 24 cm. - (Value inquiry book series; 191:
Values in Italian philosophy). - Einheitssacht.: Storia della filosofia <engl.>.
- ISBN 978-90-420-2321-5 : EUR 290.00 [#0567]. - Rez.: IFB 09-1/2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz278891934rez-1.pdf - Ferner, mit starkem italienischen Einschlag Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350 - 1600) / Thomas Leinkauf. -
Hamburg : Meiner. - 25 cm. - ISBN 978-3-7873-2792-8 : EUR 198.00 [#5164]. -
Bd. 1 (2017). - XXIV, 1060 S. - Bd. 2 (2017). - VIII S., S. 1061 - 1937. -
Rez.: IFB 18-2
http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=8983



2 …Über die Liebe oder Platons Gastmahl / Marsilio Ficino. Mit einer Einl. und Anm. hrsg. von Paul Richard Blum. - Hamburg : Meiner, 2014. - XLVIII, 216 S. ; 19 cm. - (Philosophische Bibliothek ; 642). - Einheitssacht.: Commentarium in conv-vium Platonis de amore <dt.>. - ISBN 978-3-7873-2261-9 : EUR 19.90 [#3815]. - Rez.: IFB 15-1 http://ifb.bsz-bw.de/bsz414637372rez-1.pdf - Siehe auch Fußnoten zu Plato / Werner Beierwaltes. -
Frankfurt am Main : Klostermann, 2011. - IX, 438 S. ; 24 cm. - ISBN 978-3-465-03713-2 : EUR 98.00 [#1867]. -
Rez.: IFB 11-3 http://ifb.bsz-bw.de/bsz338371095rez-1.pdf - Bei Klostermann sind diverse andere Bücher von Beierwaltes erschienen, die sich im weiteren Sinne diesem Neoplatonismus widmen.


3     Philosophia transalpina : deutsch-italienische Wechselwirkungen in der Philosophie der Moderne
- Thomas Buchheim ; Jürgen Noller (Hg.). -
Orig.-Ausg. - Freiburg ; München: Alber, 2015. - 251 S. ; 22 cm. - ISBN 978-3-495-48710-5 : EUR 29.00 [#4254]. -
Rez.: IFB 15-3
http://ifb.bsz-bw.de/bsz442623054rez-1.pdf


4 Vgl. auch Ideengeschichte um 1600 : Konstellationen zwischen Schulmetaphy-sik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation / Wilhelm Schmidt-Biggemann ; Friedrich Vollhardt (Hrsg.). - Stuttgart- Bad Cannstatt : Frommann-Holzboog, 2017. - 338 S. ; 21 cm. - (Problemata ; 158). - ISBN 978-3-7728-2713-6 : EUR 68.00 [#5211]. - Rez.: IFB 17-4 http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=8710 - Insbesondere Robert Fludd stand unter dem Einfluß Ficinos. Siehe auch Utriusque cosmi hi-storia / Robert Fludd. - Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt, Johann Theodor de Bry, 1617 - 1624 / hrsg. und mit ausführlichen Einleitungen ver-sehen von Wilhelm Schmidt-Biggemann. - Stuttgart- Bad Cannstatt : Frommann-Holzboog. - 2017. - 2196 S. : 2068 Ill.,
zahlreiche Tafeln nach Kupferstichen des Originals sowie 2 Falttafeln; 35 cm. - (Clavis pansophiae ; 5,1). -
ISBN 978-3-7728-1627-7: EUR 1980.00.


5 Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit / Peter-André Alt ... (Hg.). -
Göttingen : V & R Unipress, 2010. - 440 S. : Ill. ; 25 cm. - (Ber-liner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung ; 8). -
ISBN 978-3-89971-635-1 : EUR 57.90 [#2115]. -
Rez.: IFB 12-1
http://ifb.bsz-bw.de/bsz329752286rez-1.pdf


6 Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1125645067/04

7 Ergänzend sei verwiesen auf Ficino in Spain / Susan Byrner. - Toronto : University of Toronto Press,
2015. - XIV, 364 S. : Ill. - (Toronto Iberic) - ISBN 978-1-
4426-5056-5. - Inhaltsverzeichnis: https://www.gbv.de/dms/bowker/toc/9781442650565.pdf -
Vgl. die Rezension von
Martin Biersack in: Zeitschrift für historische Forschung.
- 43 (2016), 3, S. 571 – 573

QUELLE

Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft
http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/ http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=9373 http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=9373

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