Wir haben einander noch so viel zu sagen |
Das erinnert unmittelbar an die Gespräch des Phärisäers Nikodemus in
Johannes 3. Dort heißt es: "Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen sehr genau, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er weht. So ist nämlich ein jeder, der aus dem Geist geboren ist" (Joh 3,8).
Es geht hier also darum, die Unverfügbarkeit des Geistes ernst
zu nehmen. Der Nachweis einer wahren von Gott geprägten Geistes-Identität setzt eine
Offenheit voraus, die vorgegebene Grenzen überschreitet. Das tut schon
Nikodemus, indem er Jesus aufsucht, den er eigentlich auf Grund seines
religiösen Moralkodexes gar nicht aufsuchen darf. Allerdings scheut er noch das
Licht, also die Offenheit des Tages. Aber immerhin: Auch Nikodemus fängt an, sich neu zu verstehen, indem er sein Verhalten in Jesus spiegelt. Damit fängt er schon an, ein anderer zu werden. Das Auge kann
sich ja nicht selbst sehen, oder schärfer gesagt: Nur wer das Andere
sucht, das oft genug das Fremde ist, findet das Eigene.
Einen wirklich spannende Erklärung
gibt das Lexikon zur Herkunft des Ausdrucks "Identitätsnachweis". Es wird
beschrieben, dass das Wort ursprünglich aus dem Zollwesen kommt und den
Nachweis bezeichnet, dass Waren, die mehrmals die Grenze überschreiten (z.B.
durch Bearbeitung und Veredlung), dieselben geblieben sind.
Um also wahrhaft Christ oder Christin
zu sein, sind nach dieser Definition offensichtlich Grenzgänge und
Grenzüberschreitungen nötig. Im anderen Fall wäre Christsein etwas Statisches,
Unveränderliches, also letztlich Erstarrtes und Totes. Darauf hat schon Paul
Tillich hingewiesen.
Vgl. seine Dankesrede anlässlich der Überreichung des Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels 1962, S, 7-12: "Grenzen": hier
Jonathan Magonet, ehemaliger Direktor des Leo Baeck Colleges in London, hat von den Risiken gesprochen, die diejenigen eingehen, die sich auf interreligiöse Begegnungen ohne Vorbedingungen einlassen [1]:
»Was ist effektiv geschehen? Eine neue
Weise der Trennung ist in der Welt durch das Wachsen des Dialogs geschaffen
worden. Sie besteht zwischen denen, die den Dialog erfahren haben und dadurch
verändert wurden und jenen, denen dies nicht geschah ... Wie der Prophet
Jesaja, dessen Mund durch reinigende Kohle berührt wurde (Jes 6,7), so sind
die, die die Erfahrungen des Dialogs gemacht haben, Vermittler zwischen zwei
Herrschaftsbereichen (Domänen) geworden, beiden gegenüber verantwortlich, aber
möglicherweise immer von beiden missverstanden«.
Das ist das Risiko der Grenzgänger,
die wagen, über den eigenen Tellerrand zu blicken, mehr noch hinauszugehen, um
sich auf Grund religiöser Vielfalt für den eigenen Glauben erweitern und
bereichern zu lassen.
Mit anderen Worten ließe sich
Christsein auch als dialogische Existenz beschreiben, d.h. in der Begegnung mit
dem Anderen werden nicht Monologe nebeneinander gehalten, sondern es gibt
Bewegung hin und her. Das "Tückische" dieser Bewegungen ist jedoch wie
beim Wind: Das Sausen ist wohl zu hören, aber woher es kommt und wohin es geht,
lässt sich nicht im Vorhinein feststellen.
Im Blick auf eine pluralistische
Weltsituation, entsteht die Herausforderung für Christinnen und Christen, die menschliche Vielfalt als positive Möglichkeit zu entdecken. Dazu gehören auch die
Religionen. Nicht nur um gegenseitige Information geht es dann, sondern um
Begegnung. Und diese Begegnung verändert. Sie belässt mich als Christen, aber
nach der Begegnung bin ich ein anderer - und doch Christ, ergänzt durch die Anderen. Ich möchte das die Komplementarität
eines dialogischen Glaubens nennen.
Kritische Geister (ob denn wirklich
erfüllt vom Heiligen Geist, lassen wir einmal dahin gestellt) wittern hier "Synkretismus",
ein Wort das in der protestantischen Theologie allzu oft den Geschmack der
Vermischung von etwas hat, das eigentlich nicht vermischt werden darf. Und
dies, obwohl uns die Religionswissenschaft versichert, dass faktisch alle
großen Religionen synkretistisch sind. Sie speisen sich mannigfach aus dem
religiösen Grundwasser ihrer Vorgänger und aus den Zuflüssen andersgläubiger
Zeitgenossen.
Aber das Vorurteil hält sich
hartnäckig: Synkretismus ist Verrat am wahren Christentum. Doch das Christentum
hat sich immer wieder verändert und
reformiert. Es hat sehr unterschiedliche Züge angenommen, wie sich z.B. an
westlichen und östlichen Prägungen der christlichen Traditionen sehen lässt. Darum meine ich: Nur Religion,
die zur Revision fähig ist, bleibt lebendige Religion.
In der Offenheit, die der Heilige
Geist nach dem Johannesevangelium symbolisiert und die sich in der Person des
gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus realisiert (aber offensichtlich
keineswegs in ihm allein konzentriert), spricht sich Weisheit aus. Diese Sophia
– es sei das Wortspiel erlaubt – ist nicht nur konkret, sondern synkret. Der Heilige Geist ermutigt und tröstet: Jesus sagt: »Denn wenn ich nicht weggehe,
kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch
senden « (Joh 16,7-8). Der Heilige Geist dient also zur Identitätsstärkung der
verlassenen Jünger und macht zugleich ihr eigenes Glaubensverständnis und damit ihre eigene Identität umfassender und weiter.
[1] J. Magonet: Beim interreligiösen Dialog
Risiken eingehen.
In: R. Kirste, P. Schwarzenau, U. Tworuschka (Hg.): Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne.
Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, S. 108
Überarbeiteter Text aus:
Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen. Interkulturelle Bibliothek, Bd. 7.
Nordhausen: Bautz 2006, S. 121-122
In: R. Kirste, P. Schwarzenau, U. Tworuschka (Hg.): Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne.
Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, S. 108
Überarbeiteter Text aus:
Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen. Interkulturelle Bibliothek, Bd. 7.
Nordhausen: Bautz 2006, S. 121-122
© Reinhard Kirste
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