Dienstag, 10. April 2018

Religiöse Identitätserweiterung im Sinne des Johannesevangeliums

Wir haben einander noch so viel zu sagen
Im Johannes-Evangelium betont Jesus, dass in dem Hause seines göttlichen Vaters viele Wohnungen sind (Joh 14,2). Auch für die Jüngerinnen und Jünger ist dort der entsprechende Platz, den Jesus mit seinem Weggang zum Vater entsprechend herrichten möchte. Das heißt aber auch, dass dort noch andere sein werden, und zwar all jene, die den göttlichen Geist wirken lassen wollen, ohne ihn in irgendeine dogmatische Bahn zu lenken. 
Das erinnert unmittelbar an die Gespräch des Phärisäers Nikodemus in
Johannes 3. Dort heißt es: "Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen sehr genau, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er weht. So ist nämlich ein jeder, der aus dem Geist geboren ist" (Joh 3,8).

Es geht hier also darum, die Unverfügbarkeit des Geistes ernst zu nehmen. Der Nachweis einer wahren von Gott geprägten Geistes-Identität setzt eine Offenheit voraus, die vorgegebene Grenzen überschreitet. Das tut schon Nikodemus, indem er Jesus aufsucht, den er eigentlich auf Grund seines religiösen Moralkodexes gar nicht aufsuchen darf. Allerdings scheut er noch das Licht, also die Offenheit des Tages. Aber immerhin: Auch Nikodemus fängt an, sich neu zu verstehen, indem er sein Verhalten in Jesus spiegelt. Damit fängt er schon an, ein anderer zu werden. Das Auge kann sich ja  nicht selbst sehen, oder schärfer gesagt: Nur wer das Andere sucht, das oft genug das Fremde ist, findet das Eigene.
Einen wirklich spannende Erklärung gibt das Lexikon zur Herkunft des Ausdrucks "Identitätsnachweis". Es wird beschrieben, dass das Wort ursprünglich aus dem Zollwesen kommt und den Nachweis bezeichnet, dass Waren, die mehrmals die Grenze überschreiten (z.B. durch Bearbeitung und Veredlung), dieselben geblieben sind.
Um also wahrhaft Christ oder Christin zu sein, sind nach dieser Definition offensichtlich Grenzgänge und Grenzüberschreitungen nötig. Im anderen Fall wäre Christsein etwas Statisches, Unveränderliches, also letztlich Erstarrtes und Totes. Darauf hat schon Paul Tillich hingewiesen. 

Vgl. seine Dankesrede  anlässlich der Überreichung des Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels 1962, S, 7-12: "Grenzen": hier


Jonathan Magonet, ehemaliger Direktor des Leo Baeck Colleges in London, hat von den Risiken gesprochen, die diejenigen eingehen, die sich auf interreligiöse Begegnungen ohne Vorbedingungen einlassen [1]:
»Was ist effektiv geschehen? Eine neue Weise der Trennung ist in der Welt durch das Wachsen des Dialogs geschaffen worden. Sie besteht zwischen denen, die den Dialog erfahren haben und dadurch verändert wurden und jenen, denen dies nicht geschah ... Wie der Prophet Jesaja, dessen Mund durch reinigende Kohle berührt wurde (Jes 6,7), so sind die, die die Erfahrungen des Dialogs gemacht haben, Vermittler zwischen zwei Herrschaftsbereichen (Domänen) geworden, beiden gegenüber verantwortlich, aber möglicherweise immer von beiden missverstanden«.
Das ist das Risiko der Grenzgänger, die wagen, über den eigenen Tellerrand zu blicken, mehr noch hinauszugehen, um sich auf Grund religiöser Vielfalt für den eigenen Glauben erweitern und bereichern zu lassen.
Mit anderen Worten ließe sich Christsein auch als dialogische Existenz beschreiben, d.h. in der Begegnung mit dem Anderen werden nicht Monologe nebeneinander gehalten, sondern es gibt Bewegung hin und her. Das "Tückische" dieser Bewegungen ist jedoch wie beim Wind: Das Sausen ist wohl zu hören, aber woher es kommt und wohin es geht, lässt sich nicht im Vorhinein feststellen.
Im Blick auf eine pluralistische Weltsituation, entsteht die Herausforderung für Christinnen und Christen, die menschliche Vielfalt als positive Möglichkeit zu entdecken. Dazu gehören auch die Religionen. Nicht nur um gegenseitige Information geht es dann, sondern um Begegnung. Und diese Begegnung verändert. Sie belässt mich als Christen, aber nach der Begegnung bin ich ein anderer - und doch Christ, ergänzt durch die Anderen. Ich möchte das die Komplementarität eines dialogischen Glaubens nennen.
Kritische Geister (ob denn wirklich erfüllt vom Heiligen Geist, lassen wir einmal dahin gestellt) wittern hier "Synkretismus", ein Wort das in der protestantischen Theologie allzu oft den Geschmack der Vermischung von etwas hat, das eigentlich nicht vermischt werden darf. Und dies, obwohl uns die Religionswissenschaft versichert, dass faktisch alle großen Religionen synkretistisch sind. Sie speisen sich mannigfach aus dem religiösen Grundwasser ihrer Vorgänger und aus den Zuflüssen andersgläubiger Zeitgenossen.
Aber das Vorurteil hält sich hartnäckig: Synkretismus ist Verrat am wahren Christentum. Doch das Christentum hat sich immer wieder verändert und reformiert. Es hat sehr unterschiedliche Züge angenommen, wie sich z.B. an westlichen und östlichen Prägungen der christlichen Traditionen sehen lässt. Darum meine ich: Nur Religion, die zur Revision fähig ist, bleibt lebendige Religion.
In der Offenheit, die der Heilige Geist nach dem Johannesevangelium symbolisiert und die sich in der Person des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus realisiert (aber offensichtlich keineswegs in ihm allein konzentriert), spricht sich Weisheit aus. Diese Sophia – es sei das Wortspiel erlaubt – ist nicht nur konkret, sondern synkret. Der Heilige Geist ermutigt und tröstet: Jesus sagt: »Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden « (Joh 16,7-8). Der Heilige Geist dient also zur Identitätsstärkung der verlassenen Jünger und macht zugleich ihr eigenes Glaubensverständnis und damit ihre eigene Identität umfassender und weiter.



[1]  J. Magonet: Beim interreligiösen Dialog Risiken eingehen.
In: R. Kirste, P. Schwarzenau, U. Tworuschka (Hg.): Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne.
Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, S. 108


 Überarbeiteter Text aus:
 Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen. Interkulturelle Bibliothek, Bd. 7.
Nordhausen: Bautz 2006, S. 121-122


© Reinhard Kirste



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