Montag, 3. Februar 2020

Marguerite Porète (1250/60-1310) - Aufbruch in die Freiheit (aktualisiert)

Beginenhof Valenciennes
Die im nordfranzösischen Hennegau (Hainaut) in der Nähe von Valenciennes geborene kompromisslose Mystikerin Marguerite Porète gehört bereits zur Beginen-Bewegung am Niederrhein und in Flandern. Ihr Buch „Der Spiegel der einfachen Seelen“, eines der beliebtesten Meditationsbücher des Mittelalters, wurde zwar als Ketzerbuch verbrannt, verbreitete sich jedoch als anonymes Buch ungeheuer rasch und weit. Marguerite Porète selbst wurde unter großer Anteilnahme der Pariser Bevölkerung 1310 in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Marktplatz und Rathaus von Valenciennes:
Hier ließ der Bischof von Cambrai  um 1300
 das Buch der Marguerite Poréte: Mirouer des simples âmes anéanties
 
[= Spiegel der einfachen Seelen]als häretisch verbrennen.
Aus Kap. 35: Spiegel der einfachen Seelen
Dialog von Seele und Verstand
Handschrift, unbekannter  frz.  Kopist
15./16. Jh., Manuscript Chantilly,
Musée Condé
(Wikipedia),

Schematische Darstellung  des INNEREN WEGES
im „SPIEGEL der EINFACHEN SEELEN“
      Nach und teilweise zitiert aus:
Porète, Margareta: Der Spiegel der einfachen Seelen.
Wege der Frauenmystik.

Aus dem Altfranzösischen übertragen und mit einem Nachwort
 und Anmerkungen versehen von Louise Gnädinger.
Zürich/ München: Artemis 1987, S. 237-239
     Ausgangssituation ist der Sündenzustand: Veränderungen auf dem Weg
zum Gnadenleben
     1.    Zustand im Gnadenleben           
--- der Todsünde absterben (mors mystica 1)              
--- die Gebote halten         
--- Leben gemäss der Natur, nach dem Gesetz,
     nach dem Rat der Menschen
    2.    Zustand im Gnadenleben           
--- der Natur absterben (mors mystica 2)      
--- Leben gemäß den Tugenden    
--- Leben im Verlangen, in der Sehnsucht     
--- Leben nach dem Vorbild Jesu Christi (nach seinem irdischen Leben) 
--- Leben nach den evangelischen Räten (Bergpredigt)

      --- Leben nach einer monastischen Regel, in geistlichen Übungen        
--- Leben nach dem Geiste, d.h. in der Bemühung um geistiges
     bzw. geistliches Leben (von der Vernunft und dem Willen bestimmt).

     In diesem Stadium des spirituellen Weges erkennt die Seele ihren eigenen Zustand erst notdürftig (1. Zustand), jedenfalls ganz unzulänglich (2. Zustand), denn sie hält sich selbst immer noch für etwas. Sie misst ihrem Eigensein, das in Wirklichkeit gar kein eigentliches Sein, sondern lediglich ein Seinhaben, eine aus Herablassung und Huld, nicht etwa aus Schuldigkeit, gewährte Teilhabe am wesentlichen Sein ist, noch eine falsche Bedeutung bei. In Wirklichkeit ist die Seele in diesem Zustand im Nichtsein, also ein Nichts; sie ist verloren (da sie einst im Sein war), zugrunde gegangen (périz). Sie bleibt verloren, wenn sie durch falsche Selbsteinschätzung, durch Eigenwillen und selbstüberhebliche Anmassung dabei verharrt.
3.    Zustand im Gnadenleben           
Gefallen finden an den sogenannten guten Werken und den Werken der Vollkommenheit.           
Dieses Gefallen jedoch ist bestimmt von Selbstbezogenheit und Eigenwillen    
sowie von eigensüchtiger Anhäng­lichkeit an eben diese Werke.         
Der Kampf gegen den (eigenen) Willen des Geistes beginnt.
Zunehmende Erkenntnis und Einsicht in die Unvollkommenheit des eigenen Zustands.
4.    Zustand im Gnadenleben           
Fortgeschrittensein im Leben des Geistes: Übungen in den höheren Formen der Meditation und geistlichen Betrachtung - aber stets noch mit Eigenwillen, d.h. mit ich-orientierten Ambitionen und Gott fremdem Leistungsdrang verbunden.        
Bis zum Ende dieser Etappe im geistlichen Leben handelt die Seele nach der Art eines Sklaven, Tagelöhners, Knechts oder Händlers: das Trachten nach eigener Leistung und nach Lohn ist bestimmend.       
Dem Spiegel der einfachen Seelen gemäß erfolgt in diesem Stadium bei wachsender nicht reflexiven Erkenntnis - Erkenntnis „ohne sich“ - der Tod der Vernunft (mors mystica 3). Bis dahin hatte sich die Seele von der Vernunft in diskursiv gewonnenen Schlüssen unterweisen und beraten lassen. Jetzt übernimmt einzig die Liebe die Führung: sie erweist sich nämlich nicht nur als die Erfüllung des höchsten und alle anderen Gebote zusammenfassenden Gebots, sondern als das Wesen Gottes selbst. Denn nach dem Zeugnis der biblischen Texte im Wortlaut des Apostels Johannes ist Gott die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, ja ist Kind und Sohn/Tochter Gottes. Damit findet der bisherige Zustand des Verirrtseins im Bereich des Uneigentlichen und des Gottfernen (regio dissimilitudinis im Verhältnis zu Gott) und die Verwirrung und Verdüsterung der in Anmassung und Selbstherrlichkeit auf sich selbst abstellenden Vernunft ein Ende.
5.    Zustand im Gnadenleben           
Die Seele stirbt jeglichem Eigenen ab (mors mystica 4); sie besteht in einem blinden vernichtigten Leben, d.h. im Nichterkennen und Nichtwollen, denn sie hat erfahren, dass Gott sie in jeder Beziehung völlig übersteigt. Zwar erfährt sie also, dass Gott ihre intellektuellen und affekthaften Fähigkeiten weitaus übertrifft, doch bezieht sie nun gerade aufgrund dieser „dunklen“ Erkenntnis - dunkel durch die Überhelle des Lichts - ihre Nahrung aus der Herrlichkeit.
6.    Zustand des Gnadenlebens (1. Teil)         
Der göttliche Blitz eröffnet der Seele in einem hinreissenden Erlebnis die Herrlichkeit: verklärtes Leben für kurze Zeit. Das Nichtwollen und Nichterkennen führt zur Einheit mit dem Geliebten. Selbst die Bewegung der Liebe (Sehnsucht, Verlangen) kommt in Gott, in dem Punkt, wo die Seele war, bevor sie geschaffen wurde, zu ihrem Ende. In diesem Sinne führt die Vereinigung mit Gott zur Nichtliebe: durch die Umwandlung in der Liebe, die Gott selbst ist (deificatio), wird die Seele aus Gnade, was Gott ist. Darin besteht die Ruhe und der alles übersteigende Friede, in dem die Seele auf der Erde beschränkte Zeit, in der Herrlichkeit für immer verweilt.        
Die von der Seele in diesem Zustand geübte Indifferenz stellt einen Versuch dar, der Ruhe in Gott gewissermassen Dauer zu verleihen. Die Rückkehr der Seele in ihren Ursprung ist somit, zumindest punktuell, erreicht. Unbeschwert und ohne irgendwelche Rückbezüglichkeit auf sich selbst ist die Seele frei.
7.    Zustand des Gnadenlebens (2. Teil)         
Die Seele lebt durch ihre Freiheit von sich selbst unabhängig und ausserhalb der körperlichen Existenz (der Körper hält mit, soweit es die ihm eigene Beschaffenheit zulässt). Es folgt die Schau der Dreieinigkeit und das Geniessen Gottes in seiner Einheit, d.h. in seiner Gottheit. Dies erfüllt sich erst nach dem Tod im Glorienstand. Damit befindet sich die Seele im Paradies, das ist im Lande des Lebens.
Obschon der spirituelle Weg der einfachen Seelen eine Rückkehr in den Ursprung vor dem Schöpfungsakt, also vor der Zeit ist, wo vollständige Einheit und Ruhe herrschen, vermeidet Marguerite Porète das in der mystischen Theologie schon damals oft bemühte Aufstiegsschema. Sie arbeitet zwar mit der Wegvorstellung, in der auch bei ihr die für die Beginenmystik charakteristische Phase des Verirrens, des planlosen und ziellosen Umherirrens ihren Platz hat. Sie nennt in ihrer geistlichen Topographie auch das Tal der Demut (besonders nachdrücklich), die Ebene der Wahrheit und den Berg der Beschauung. Die Wegabschnitte aber sind mehr Stadien oder Zustände denn Stufen. Der Weg ist damit weit entfernt von einer Erfolgsleiter, und wäre sie noch so sublim. Ihr vorgestellter geistlicher Weg führt durch teilweise schwieriges, wüstenartiges Gelände aus dem Exil und der Verbannung zurück in die Heimat, in das Land des Lebens.
Wie diese Seele frei ist in allen vier Richtungen
„Die Liebe: Die Seele, die solcherart vollkommen ist, ist frei in vier Richtungen. Denn die vier Bereiche müssen im edlen Menschen sein, damit man ihn Edelmann nennen kann. Und so verhält es sich auch im geistlichen Verständnis.
Der erste Bereich, in dem diese Seele frei ist, besteht darin, dass sie sich innerlich keine Vorhaltungen macht, selbst wenn sie die Werke der Tugend nicht ausführt oder wirkt. Ha, bei Gott! Ihr, die ihr mir zuhört, versteht es denn, wenn ihr könnt! Wie wäre es denn bloß möglich, dass die Liebe sich durch die Werke der Tugend betätigte, wenn es zutreffen sollte, dass das Werk aufhört, wenn die Liebe zu wirken beginnt?
Der zweite Bereich besteht darin, dass sie keinerlei Willen mehr habe - nicht mehr als ihn die Toten in ihren Gräbern haben - außer einzig nur den göttlichen Willen. Eine solche Seele kümmert sich weder um Gerechtigkeit noch um Barmherzigkeit. Sie gründet und setzt alles in den alleinigen Willen dessen, den sie liebt. Und dies ist die zweite Richtung, in der diese Seele frei ist.
Die dritte Richtung ist die, dass sie glaubt und daran festhält, dass niemand je gewesen, noch einer sei und je sein werde, der schlechter wäre als sie, dass aber niemals einer mehr geliebt worden sei von jenem, den sie liebt, als sie selbst geliebt ist. Merkt euch dies, doch versteht es nicht falsch!
Der vierte Bereich besteht darin, dass sie glaubt und daran festhält, dass es nicht möglich sei, dass Gott etwas anderes denn Gutes wollen könne. Gleichfalls hält sie daran fest, dass es ebenso unmöglich sei, dass sie etwas anderes wollen könne als seinen göttlichen Willen. Die Liebe hat sie derart mit sich selbst ausgestattet, und sie lässt sie solches von sich behaupten. Sie (die Liebe), die in ihrer Liebe durch ihre Liebe sie (die Seele) zu einer solchen Liebe umgewandelt hat. Und durch ihr Wollen hat sie sie in göttlichem Wollen zu solchem Wollen restlos umgewandelt. Jene (die Liebe) ist aus sich selbst, in sich selbst und für sich selbst so. Und diese (die Seele) glaubt es und hält daran fest. Anders wäre sie nicht frei in allen ihren Bereichen“
(aaO S. 126-127, Fettdruck vom Blog-Autor).



Weitere Literaturauswahl
  • Marguerite Porete: Le mirouer des simples ames.
    Édité par Romana Guarnieri.
    Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis LXIX.
    Turnhout (B): Brepols 1986, 412 pp., indices
  • Marguerite Porète: Le miroir des âmes simples et anéantis.
    Spiritualités vivantes No. 147. Paris: Albin Michel [1997] 2011, 276 pp.
    (neufranzösische Ausgabe)
  • Amy Hollywood: The Soul as Virgin Wife. Mechthild of Magdeburg,
    Marguerite Porete and Meister Eckhart.
    Notre Dame / London 1995, IX, 331 pp., index
  • Catherine M. Müller: Marguerite Porète et Marguerite d'Oingt de l'autre côté du miroir.
    Currents in Comparative Romance Languages and Literatures, Vol. 72.
    New York u.a.: P. Lang 1999, XI, 213 pp., index  
  • Joanne Maguire Robinson: Nobility and Annihilation
    in Marguerite Porete's Mirror of Simple Souls.
    SUNY series in Western Esoteric Traditions.
    Albany, NY: State University of New York Press 2001, XVI, 178 pp., index
  • Franz-Josef Schweizer: Marguerite Porète. In: Johannes Thiele (Hg.):
    Mein Herz schmilzt wie Eis am Feuer. Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters in Porträts. Stuttgart: Kreuz 1988, 299 S.
CC




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