Silvia Bartelheimer / Reinhard Kirste
Frankreich:
Der Integrismus im Streit mit der Laizität
Ein Beitrag zur Fundamentalismus-Debatte
der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts
der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts
1. Frankreich: Das Spektrum der
widerstreitenden Kräfte
In Frankreich findet auf vielen Ebenen
eine Diskussion um die Auseinandersetzung von Religion und Moderne statt. Die
Heftigkeit dieser Diskussion wird durch die Wirkungsgeschichte der
französischen Aufklärung seit der französischen Revolution noch verstärkt. Denn
aufgrund dieser Wirkungsgeschichte ist die Trennung von Staat und Kirche, von
Religion und Politik zu einem Kennzeichen gesellschaftspolitischen und
demokratischen Fortschrittsglaubens geworden.
Wie wichtig die Bestandsaufnahme dieser Diskussion ist,
zeigt die Tatsache, dass Hanna Lücke in ihrer sorgfälig angelegten
Untersuchung „Islamischer Fundamentalismus“ die französischsprachigen
Untersuchungen (bis auf wenige Übersetzungen ins Deutsche oder Englische)
unberücksichtigt läßt. Damit fehlt ein wesentlicher Sektor der „islamischen
Fundamentalismusdebatte“, insbesondere weil die Diskussion in Frankreich zwei
Seiten hat: Einerseits bezieht sie sich auf die Situation in Frankreich,
andererseits ist der Blick auch auf die Länder gerichtet, aus denen viele
EinwanderInnen und Flüchtlinge stammen (Maghreb, Naher und Mittlerer Osten).
Um die Diskussion
zu verstehen, gilt es einige zentrale Begriffe zu erläutern, die so im
Deutschen nicht auftauchen oder andere Konnotationen beinhalten. Deshalb sei
vorweggeschickt, wie wir die angesprochenen Begriffe verwenden wollen:
Integrismus, Fundamentalismus und Islamismus
stehen für die eine Seite, Laizität und
Säkularismus für die andere. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft werden
die drei ersten Begriffen mehr und mehr synonym verwendet. Integrismus (intégrisme)
ist ein Begriff, der ursprünglich gegen die konservative Haltung der
katholische Kirche gerichtet war. Er leitet sich von intégriste ab, das auf das entsprechende spanische Wort
zurückzuführen ist, das historisch Mitglieder einer spanischen Partei
bezeichnete, die den Staat der Kirche unterwerfen wollte. Mit der Zeit wurde
der Begriff auch auf andere Religionen wie den Islam angewandt, wo man ähnliche
Tendenzen wie im Katholizismus entdeckte.
Fundamentalismus (fondamentalisme) ist im Französischen weniger geläufig (vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut Schröter). Dieser Begriff stammt
aus dem Englischen und geht auf eine protestantisch-konservative Bewegung
zurück, die sich im 19. Jahrhundert, vor allem in den USA konstituierte und die
Wortwörtlichkeit der Bibel betonte (Biblizismus), z.B. bei der Schöpfung gegen
die Evolutionstheorie.
In den beiden französischen Begriffen
geht es um den Versuch, die strikte Trennung von Staat und organisierter
Religion zu unterlaufen, weil die Besinnung auf sich selbst auch politisch ein
ganzheitliches Konzept erfordert. Betrifft dies den Islam, so beschreibt man
diese Selbstfindungs- und Abgrenzungstendenzen mit dem Begriff Islamismus (islamisme), also einen Islam, der sich gegenüber modernen Strömungen absetzt. Dabei
geht es nicht um wissenschaftliche Errungenschaften, besonders
naturwissenschaftlicher Art - hier ist der Islamismus erstaunlich
"modern", sondern um die Abwehr westlicher geistesgeschichtlicher
Trends und Geistes-Strömungen, die besonders die Ausklammerung Gottes aus dem
Denken und ein nicht-theistisches Weltbild beinhalten. Islamismus bezieht sich
stärker auf die islamischen Länder. Damit lässt sich ähnlich wie mit dem
Begriff Fundamentalismus die Frontstellung gegenüber den Nichtmuslimen
artikulieren. Man kann den Islamismus nicht nur als eine Variante des
westlichen Fundamentalismus bezeichnen.
Damit würde man eine aus dem westlichen Denken kommende Begriffsstruktur
einfach auf ein islamisches Phänomen übertragen. Die dennoch bestehende
Gemeinsamkeit beider Begriffe liegt in der Kritik säkularer und säkularisierter
Gesellschaften, also des Westens. Während fundamentalistisch-christliche Kreise
jedoch oft ein erstaunlich entspanntes Verhältnis zu kapitalistischen
Wirtschaftsstrukturen haben bis hin zu Ausbeutungsmechanismen in der sog.
Dritten Welt, gibt sich der Islamismus dagegen weitgehend antikapitalistisch,
allerdings unter Hochachtung des Eigentums und des Besitzes als Möglichkeit
ökonomischen Ausgleichs gegenüber ärmeren Bevölkerungsschichten und Völkern.
So versucht man mit einem weiteren
Begriff, unsere gesellschaftliche Gegenwart weltweit zu beschreiben: Moderne und Postmoderne (zur „Moderne“
vgl. auch den Beitrag von Hartmut
Schröter und zu „Postmoderne“ denjenigen von Sybille Fritsch-Oppermann).
Mit Moderne/Modernität (modernité)
versuchen wir, uns auf Kennzeichen der heutigen Gesellschaften zu beziehen, die
sowohl philosophisch wie soziologisch - zumindest teilweise konsensfähig sind:
Die Ursprünge zur Modernitätsdiskussion in Europa müssen bis in die
Renaissance, den Humanismus und die Reformation zurückverfolgt werden, als die
Selbstverständlichkeit des göttlich begründeten „Naturrechts“ in die Krise
geriet. Zwischen einzelnem und Gesellschaft entsteht eine Spannung, die z.B. im
Streit Erasmus - Luther um den freien Willen kreiste. In der Französischen
Revolution wurden nicht nur die Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
an die Spitze der Werteskala gesetzt (teilweise in Abgrenzung zu den 10 Geboten),
sondern als Basis der gesellschaftlichen Neuorientierung diente die Vernunft (raison), die sich aus der kirchlichen
Bevormundung befreite. Durch die im 18./19. Jahrhundert sprunghafte Entwicklung
von Wissenschaft und Technik verstärkt sich die Autonomie der Vernunft, aber
auch ein ständig stärker werdender Fortschrittsglaube. Allerdings gibt es
erhebliche „Rückschläge“ in der demokratisch-politischen-nationalen
Entwicklung. Der wirtschaftliche Aufschwung im Frühkapitalismus führt
gleichzeitig zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten. Ideologisch versuchen
nur die „Linkshegelianer“ und damit der Marxismus und politisch die
Sozialdemokratie diesen gesellschaftlichen Verschlechterungen
entgegenzusteuern. Weil die Religion (in den Kirchen organisiert) auf Seiten
der herrschenden Klassen steht bzw. das Bürgertum repräsentiert, sind viele
philosophische Versuche (wie z.B. bei Nietzsche) antikirchlich und antireligiös
geprägt. Der weitgehende Verzicht auf „Transzendenz“ gekoppelt mit
evolutionärem Denken und ausgeprägtem Fortschrittsglauben erhält die erste
tiefgehende Erschütterung durch den 1. Weltkrieg. Doch bleibt säkulares Denken leitend, bis die
Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus erneut die
Welt an den Abgrund führen. Nach dem 2. Weltkrieg ist dann die Krise der Moderne nicht mehr
wegzudiskutieren (Frankfurter Schule der 60ger Jahre).
Diese Entwicklung, allerdings mit
veränderten Schwerpunktsetzung resümiert der französische Sozialwissenschaftler
und Philosoph Alain Touraine: Critique
de la modernité (1992), indem er den Weg von einer „vollen Modernität“ zu
einer „begrenzten Modernität“ aufzeigt (Touraine, aaO 207ff, 299ff, 420f). Die
Tendenzen der Säkularisation, die eben Tendenzen der Moderne sind, haben zur
Entzauberung der Welt geführt (vgl. Touraine, aaO 314). So entsprechen Modernität und Säkularität einander. Die Krise der einen ist die Krise der
anderen, bei der es entweder um die Instrumentalisierung der Logik oder um die
Re-Etablierung von Werten geht, die sowohl um das Glück des Individuums als
auch um das der Gesellschaften kreisen, deren Hoffnungen sich wieder an
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit orientieren, die eine „triumphierende
Modernität“ zerstörte (Touraine, aaO 430).
Laizismus (laïcisme)
meint die Forderung nach einem öffentlichen und politischen Leben, das von
jeglicher religiösen Bindung und Einflussnahme frei ist,. Laizität (laïcité) als Trennung von Kirche und Staat bezeichnet
die gesellschaftspolitische Realisierung dieses Ideals unter den Bedingungen
eines demokratischen Staates (der Republik) und des bürgerlichen Gemeinwesens.
Die meisten islamischen Länder sind in diesem Sinne keine laizistischen Staaten
(ausgenommen die Türkei ihrer Geschichte und Verfassung nach).
Die angesprochenen Titel (vgl. Literaturhinweise am Schluss
des Aufsatzes) bieten eine Fülle von Aspekten zu diesen Themenkomplexen. Wir
haben Schwerpunkte benannt, mit denen wir versuchen, den Umfang dieser seit
Jahren in Frankreich geführten Auseinandersetzung wenigstens in großen Schritten
zu umschreiten.
2. Die postkoloniale
und geopolitische Situation
Durch die Einwanderung des Islam nach
Frankreich, verstärkt seit den 60iger Jahren, geriet der Islam, besonders in
seinen traditionellen und konservativen Formen, wie er teilweise im Maghreb
verbreitet war, in das Kritikfeld politischer Aufklärung. Auf der anderen Seite
zeigte sich aber auch die große Anpassungsfähigkeit und Flexibilität
islamischer Strömungen im (ehemals) kolonialen Mutterland der islamischen
Einwanderer.
Von dieser Debatte zeugen eine Fülle von Publikationen, von
denen wir uns wichtig erscheinende ausgewählt haben. Allerdings können wir hier
nicht leisten, die religiösen Hintergründe der Situation im Maghreb bzw. im
Nahen und Mittleren Osten zu analysieren, obwohl die dortigen Entwicklungen
unmittelbar in die europäische Situation hineinwirken und Frankreich als
Mittelmeeranrainer direkt beeinflussen. Wir werden allerdings bei jenen
Gesellschaftsproblemen, die auf die Interdependenz von Entwicklungen in den
sog. islamischen Ländern und in Frankreich verweisen die grundsätzliche und innenpolitisch-religiöse Seite zur Sprache
bringen. Die herangezogenen AutorInnen sind dabei entweder Französinnen und
Franzosen, die sich beruflich oder aus (sozialem) Engagement mit diesen
Phänomenen befassen, oder sie haben als EinwandererInnen teilweise selbst einen
maghrebinischen oder mittelöstlichen Kulturhintergrund. Vorab seien aber
einigige Texte genannt, die für die geografische, politische und geschichtlich
umfassende Analyse erhebliche Orientierung geleistet haben:
Aus "Le Monde" wurden eine Reihe von Essays
zusammengefaßt in Paul Balta: Islam dans le monde (1991), Bourhan Ghalioun blickt
zum einen auf die malaise arabe zum anderen auf die internationalen
Veränderungen: les mutations internationales. Dies hat erhebliche Folgen für die arabische Identität von der
Südspitze Arabiens bis in den Norden Syriens und in den Westen bis Marokko. Albert
Hourani, Historiker an der
Universität Sorbonne Paris legt mit seinem Buch Die Geschichte der Arabischen Völker (deutsch:1992) den
Grund, um dem Westeuropäer überhaupt ein Gefühl für die erfolg- und
zerrüttungsreiche Geschichte dieser Region zu geben. Alain Brissaud ordnet die gegenwärtigen politischen
Konfrontationen in die Geschichte des Islam ein, wo es immer wieder zu
Überschneidungsebenen mit dem Christentum und dessen politschen Kräften kommt.
Dies hält sich durch vom Auftauchen des Islam bis in heutige Begegnungen auf
politischer wie auf gesellschaftlicher Ebene: Islam und Christentum.
Gemeinsamkeit und Konfrontation gestern und heute (deutsch: 1993).
Ausgesprochen schwierig erweist es sich dabei, Islamisches und Arabisches
auseinanderzuhalten. Zwischen Panarabismus, Renaissance des Islam gerade auch
in nicht-arabischen Ländern, aber auch durch die Prägespuren der kolonialen
Geschichte, besonders der Frankreichs, wird die Verflechtung des arabischen
Orients in die internationale Politik von Anfang an nicht nur deutlich, sondern
zeigt sich als Konfliktgeschichte, wie Henry Laurens in einem ersten
Schritt in Le royaume impossible. La France et la genèse du monde arabe
(1990) aufweist, um in einem zweiten
Schritt die Entwicklung das Mittleren Ostens und des Maghreb in Le
Grand Jeu. Orient arabe et rivalités internationales (1991) vor den LeserInnen
auszubreiten. Die Zeitschrift Nouvel
Observateur hatte sich im Dezember 1990 (also unmittelbar vor Ausbruch des
2.Golfkrieges) viel Zeit und Platz genommen, die islamischen Drahtzieher zu
porträtieren und sie in den gesamtislamischen politischen Kontext zwischen
Marokko und Malaysia einzuordnen: Les maîtres de l'islam. Allerdings
sieht Olivier Roy den Mißerfolg des
politisch agierenden Islamismus voraus: L'échec
de l'islam politique (1992).
Ein Sonderproblem klammern wir ebenfalls aus, das aber die
christlich-islamischen Beziehungen von Anfang an durchzieht, nämlich die
Stellung der Christen nach der Eroberung durch islamische Herrscher. Viele
Veröffentlichungen zeigen, dass die Spannbreite der Behandlungsweisen
islamischer Herrscher und ihrer nachgeordneten Behörden von tatsächlicher (nie
formalrechtlicher) Gleichberechtigung bis hin zu Verfolgung, Folter und Mord
reichen. Wobei letzteres weitgehend Ausnahmesituationen waren. Immerhin haben
die für die byzantinische Orthodoxie wie die lateinische Theologie häretischen
orientalischen Kirchen nur dank des islamischen Schutzes bis heute überlebt,
ihr Status als dhimmi
(Schutzbefohlene) war Rechtstitel und Diskriminierungsansatz zugleich. Ob man
aber wie Bat Ye'or (und im
Vorwort Jacques Ellul), den Dhimmi-Status angesichts des Verhaltens der
christlichen Herrscher gegenüber den Muslimen (Ausnahme: Kaiser Friedrich II.
von Hohenstaufen) auf eine so negative Schiene bringen sollte wie in Les
chrétiens d'Orient entre jihâd et dhimmitude (1991), ist sehr fraglich.
Insgesamt geben diese scharfsinnigen Analysen wenig
Hoffnung, dass sich der Mittlere Osten, sowie der Maghreb in der nächsten Zeit
in Friedensregionen verwandeln würden (von einzelnen hoffnungsvollen Schritten
wie in Palästina einmal abgesehen). So wird sich wohl auch die Vision nicht
realisieren lassen, die der Journalist und Universitätsdozent Sadek
Sellam: Être musulman aujourd’hui (1989) entwirft. Er knüpft an die
islamische Reformbewegung von Al-Afghani
und Mohammed Abduh im 19./20.
Jahrhundert in Ägypten an, und zwar in der Hoffnung, dass derartige Intentionen
auf der Basis eines an der Gegenwart ausgerichteten Islam auch politisch
weiterhelfen können. Immerhin ist die Dekolonisation der islamischen Länder
auch heute noch nicht abgeschlossen. Sie muss mithilfe des Islam geleistet
werden. Für Frankreich könnte unter diesen Aspekten ein Islam Kraft gewinnen,
der in fruchtbarer Spannung zur Laizität ethische Werte vertritt, die das
Gespenst eines militanten islamischen Fundamentalismus schließlich ad absurdum
führen. Welche Möglichkeiten hier schon (gerade intellektuell) in der
Geschichte vom islamischen Spanien bis zum heutigen interkulturellen und
christlich-islamischen Dialog gelegt wurden, zeigt Sellam auf in: L’islam
et les musulmans en France (1987).
3. Der Islam in
Frage, der Islam als Frage
Dem folgenden Titel kommt insofern
besondere Bedeutung zu, als sein Autor Professor für islamische Studien in
Paris ist und aufgrund seiner Veröffentlichungen auch im westlichen Sinne als
„aufgeklärter“ Muslim gelten kann. Zugleich bezeichnet er sich als
„Fundamentalist“, da er auf den Fundamenten von Koran und Sunna steht. Mohammed Arkoun: Ouvertures sur l'Islam.
1989 (Eröffnungen über den Islam).
Das Buch besteht aus 21 Fragen und Antworten, die sich mit Grundkenntnissen des
Islam und aktuellen Fragen beschäftigen, die vor allem die muslimische
Glaubenslehre betreffen. Die äußere Form ist durch die Reihe vorgegeben und
zwingt den Autor zu kurzen und prägnanten Darlegungen. Arkoun wendet sich mit
diesem Buch einerseits an die muslimische Öffentlichkeit: Sie muss seiner
Meinung nach aus ihrer dogmatischen Enge befreit werden, in die sie durch die
traditionelle Theologie und die Kampfesideologie eingeschlossen ist.
Andererseits wendet er sich an die westliche Öffentlichkeit: Sie muss darauf
verzichten, andere Kulturen ethnographisch zu betrachten und die westlichen
Gesellschaften anthropologisch-wissenschaftlich zu verstehen suchen.
Mythos und Ideologie: Degradierung des symbolischen Kapitals
Aufgabe der Historiker ist es nach
Arkoun zu zeigen, wie unterschiedliche ethno-kulturelle Gruppen aus einem
gemeinsamen Bestand an Zeichen und Symbolen geschöpft haben, um Systeme des
Glaubens oder Unglaubens zu schaffen, die zur Legitimation von Macht gedient
haben. Daher fordert Arkoun, die Sinnfrage nicht länger aus der Sicht einer
unbeweglichen Transzendenz zu stellen, einer Ontologie, die vor jeglicher
Historizität geschützt wäre. Stattdessen sollte sie im Lichte der historischen
Kräfte betrachtet werden, die selbst die heiligsten Werte in symbolisches
Kapital verwandeln, das man nicht von den mythischen Gründungserzählungen
trennen kann, wo jede ethno-kulturelle Gruppe ihre Identität oder Personalität
zusammenfasst. In den Offenbarungsreligionen wurde das symbolische Kapital zu
Gesetzen, mechanischen Ritualen, scholastischen Lehren und Ideologien der
Herrschaft degradiert.
Sakralisierung und Transzendentalisierung
Seit dem Tod des Propheten, vor allem
aber mit der Gründung eines islamischen Staates, fand die Verbindung von
politischem Handeln und Kreativität der Symbolik ihr Ende. Die Verstaatlichung
des Islam bedingt die Ausarbeitung eines Rechtskodes, der die Bedeutung eines
religiösen Gesetzes (Scharia) hat. Wenn hier das Religiöse dem Politischen
untergeordnet wird, so ist dies nicht gleichzusetzen mit der Verschmelzung von
Spirituellem und Zeitbedingtem, die man heute am Islam kritisiert. Will man die
Frage nach Islam und Laizität oder Säkularisierung stellen, ist es wichtig,
sich darüber im klaren zu sein, dass diese Gesetze, staatlichen Institutionen,
die Person und Funktion des Kalifen erst nachträglich sakralisiert und
transzendentalisiert worden sind.
Die säkularen Revolutionen haben die
Hierarchien und Ungleichheiten, die mit Hilfe der Macht der Sakralisierung
entstanden sind, aufgehoben. Diese Macht wurde von den Theologen ausgeübt, die Vorgaben,
als autorisierte Interpreten der Offenbarung zu handeln. Die Revolutionen
enthüllen so eine verborgene Funktion des Heiligen: den permanenten Übergang
von der Transzendenz, die das Unendliche des Sinns eröffnet, zur
Transzendentalisierung, die den Sinn in Lehren, politischen Ordnungen und
Rechts-Kodices fixiert. In einem Kontext, der von den religiösen Traditionen
befreit ist, wird das republikanische Frankreich mit Hilfe der Rekonstruktion
eines nationalen laizistischen Bildes (imaginaire)
von neuem sakralisiert.
Die Nationalismen des 19./20. Jh. haben den Bruch mit dem
früheren Heiligen und die Einsetzung eines laizistischen, republikanischen
Heiligen mit dem entsprechenden Bild zu einem generellen Phänomen gemacht.
Arkoun wehrt sich dagegen, die Beziehung von Religion und Laizität, von
Spirituellem und Zeitlichem auf Fragen der rechtlichen Trennung dieser
Instanzen oder auf die Unterscheidung von Theologie und Philosophie oder von
Mythos und Geschichte zu reduzieren.
Arkoun möchte die Bedeutung der modernen Trennung von
legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt für den sozialen Frieden und
den Respekt vor den Menschenrechten nicht schmälern. Aber diese Gewalten
verweisen auf tiefer gehende Fragen, die all unserem politischen, rechtlichen
und religiösen Reden zugrunde liegen: die Frage nach dem Sein, nach Werten, dem
Heiligen, nach Transzendenz, Liebe, Gerechtigkeit, der Wunsch nach
Unsterblichkeit.
Spirituelle Autorität und politische Macht
Arkoun unterscheidet zwischen der
spirituellen Autorität Gottes und politischer Macht. Er greift den Begriff der
„Sinnschuld“ (dette de sens) von Marcel Gauchet auf, einer moralischen
Verpflichtung im Rahmen des Bundes zwischen Gott und Mensch in den
Offenbarungsreligionen. Nur die Macht, die im Rahmen dieses Bundes ausgeübt
wird, ist legitim. Das Aufkommen einer spirituellen laizistischen Macht mit dem
Bürgertum hat die Funktion der Sinnschuld dem allgemeinen Wahlrecht übertragen.
Arkoun spricht von einem „neuen Bund“, der auf das allgemeine Wahlrecht
gegründet ist und die säkularisierte Kirche zur Folge hatte. Mit dem Ende des
traditionellen Religiösen kamen die säkularen Religionen (Raymond Aron) auf. Die Demokratien funktionieren wie Religionen
(allerdings ohne den Zusammenhang von Sinn und Schuld) mit Führern, die nach
Taktiken und Strategien suchen, die Macht zu erlangen und auszuüben und weniger
um “légalité“ als um „légitimité“ bemüht
sind. Nun wird es darum gehen, so meint Arkoun, dass Kirche und Staat nach
neuen Vereinbarungen, nach einer neuen Laizität suchen, die eine neue
Spiritualität ermöglichen. Hier liegt übrigens ein Ansatzpunkt von islamischer
Seite, die eine Reihe von „gemäßigten“ Laizisten (wie z.B. Olivier Carré, s.u.) aufgegriffen haben.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
glaubte man in der muslimischen Welt, es würde reichen, die „Rezepte“ des
Westens auf die muslimischen Länder zu übertragen, die den Erfolg der
westlichen Zivilisation ermöglicht haben. Kritiklos übernahm man daher die
Laizität, wie es die radikale Neutralität Atatürks gegenüber der Religion
zeigt. Doch eine Entwicklung der muslimischen Welt hin zu einem laizistischen
und demokratischen Pluralismus musste scheitern. Die Rolle der Symbole im
Kontext einer mündlichen, mythischen Kultur unterscheidet sich wesentlich von
der im logozentrischen System einer Schriftkultur, eingesperrt in den Grenzen
der Historizität. Die Symbole werden hier zu schlichten Zeichen, an denen sich
die „Modernen“ und die „Konservativen“ erkennen.
Arkoun unterscheidet zwischen „pensée laïque“, einer offenen,
kritischen Haltung, die Verantwortung wahrnimmt und die Freiheit der
Selbstbestimmung anderer anerkennt, und „pensée
laïciste“, die unter dem Vorwand der Neutralität jeglichen
wissenschaftlichen Unterricht über die Geschichte der Religionen als permanente
und universelle Dimension der menschlichen Gesellschaften aus der staatlichen
Schule verbannt. Mit dieser Wertung wendet sich Arkoun gegen einen positivistischen
und szientistischen Rationalismus.
Arkoun ruft dazu auf, auf zwei
historische Brüche zu reagieren: den Bruch des „orthodoxen“ islamischen Denkens
mit der Philosophie und den Bruch des westlichen Denkens mit dem religiösen
Denken aufgrund dessen semitisch-orientalischer Wurzeln. Der Islam und der
Westen scheinen zwei entgegengesetzte Pole zu sein. Arkoun weist daraufhin, dass
sie denselben philosophisch-religiösen Ursprung haben.
Wie brisant das Verhältnis Religion und Politik ist, zeigt
sich nur zum Teil in den Begegnungen und Auseinandersetzungen mit islamischer
Kultur und der weitgehend aus dem Christentum herausgewachsenen dominanten
Geschichte Europas. Gerade arabische Intellektuelle und Vordenker stellen uns
mit ihren Fragen in Frage, wie der Sammelband von Luc Barbulesco / Philippe
Cardinal: L'islam en question (1986) eindrucksvoll dokumentiert. Als
Ausbilder von Grundschullehrern in Marseille ist Barbulesco nicht nur direkt mit dem Islam an Frankreichs Schulen
befasst. Als Spezialist für klassische Literatur hat er sich vielmehr mit einem
Orientalisten zusammengetan, der ebenfalls als Schriftsteller arbeitet: Philippe
Cardinal. Es entsteht ein
Fragebuch, in dem die Antworten 24 arabischer Schriftsteller zusammengefasst
sind: Der Islam in Frage, Fragen an den Islam. Überwiegend Muslime, aber auch Christen, Alte und Junge,
Orthodoxe und Säkularisierte. Sie geben sich hier ein Stelldichein der Dichter
und Philosophen aus dem Mittleren Osten bis hin zur alten islamischen
Westgrenze in Marokko. So vereint dieses 1986 herausgekommene Buch die
unterschiedlichsten Positionen (wen wundert's). Immerhin gehören auch so
bekannte Autoren dazu wie der ägyptische Nobelpreisträger Naguib Mahfous und der in Paris lehrende islamische Theologe Mohammed Arkoun. Allein die Galerie der
Lebensläufe bringt die unterschiedlichsten Facetten eines lebendigen Orients
zum Leuchten, allerdings nicht des Orients von 1001 Nacht, sondern eines
Orients, der nach seiner (alten oder neuen) Identität sucht und dies tun muss
unter den Folgewirkungen von Kolonialismus, Industrialisierung, mittelalterlich
anmutender Landwirtschaft, eines Orients, der nicht immer exakt zwischen
Gefängnis, Moschee, Basar und Familie festzulegen ist.
In gewisser Weise auf die versöhnenden Kräfte der Religionen
verweisend fällt in diesem Kontext das Buch von Mohammed Talbi und Olivier
Clément auf (1989): Un respect têtu (ein starrköpfiger Respekt). Wir begegnen hier einem ehrlichen
Dialogsucher und Dialogversucher, der entdeckt hat, dass Christen und Muslime
einander ergänzende Traditionen haben. Durch eine so erweiterte Identität von
Christen und Muslimen würden der oft beschworene Fundamentalismus und der sich
verhärtende Integrismus weitaus geringere Chancen haben. Ob ein solcher Respekt
angesichts der wachsenden politischen und sozialen Spannungen Chancen hat?
Respekt und Achtung müssen beim anderen gewahrt bleiben, mag man ihn bei den
Pflegern der Vorurteile auch starrköpfig schimpfen.
4. Der gute und der
böse Islam
Durch sein Buch Die
Rache Gottes ist auch Gilles Kepel
in Deutschland bekannt geworden (deutsch 1991). Als Professor am Nationalen
Institut für vergleichende Studien in Paris geht er auf die Gefahr eines sich
rückwärts orientierenden Islam ein. Positiv könnte man das ja als einen Rückbezug
auf die Ursprünge und Quellen der eigenen Religion sehen, die in den
verschiedenen Ländern unterschiedliche Kulturen gewinnt. Am spannendsten dürfte
in diesem Kontext Ägypten sein. Darum hat Kepel sein 1984 erschienenes Buch Le
Prohète et le Pharaon nicht
nur neu herausgebracht (1993), sondern hat in der aktualisierten Fassung mit
neuem Nachwort stärker die Quellen der
islamistischen Bewegungen in Nordafrika und im Mittleren Osten analysiert.
Dabei sieht er scharf darauf, wie bestimme Koraninterpretationen politische
Militanz begünstigen. Als Politologe ist sein Urteil über die politische
Ausrichtung des islamischen Fundamentalismus vernichtend. Er bezieht allerdings
auch andere religiöse Fundamentalismen in dieses Urteil ein, besonders in Die Rache Gottes. Die radikalen Muslime,
Christen und Juden sind auf dem Vormarsch, wie es provozierend im Untertitel
heißt. Die Fundamentalisten aller Couleur bereiten sich zumindest geistig auf
die Weltherrschaft vor. Die Detailanalyse in einzelnen Ländern bestätigt dies
seiner Meinung nach, aber auch der Blick in die Vorstädte Frankreichs, in denen
sich die maghrebinischen Einwanderer konzentrieren: Les banlieus de l'islam
(1987). Allerdings beschränkt sich diese wachsende fundamentalistische Bewegung
nicht auf die Armen und Entrechteten im Heimatland oder in der Migration,
sondern auch auf Intellektuelle. Diese sind oft intime Kenner des Westens, denn
sie haben an französischen Universitäten studiert und sich häufig in den
Bereichen Naturwissenschaften, Technologie, Wirtschaft o.ä. graduiert. Gerade
sie werden nach der Rückkehr ins Heimatland nicht selten zu Chefideologen eines
radikalisierten und militanten Islamismus. Wir haben hier also eine Steigerung
von radikal über integristisch/islamistisch bis hin zu militant und
terroristisch. Dies alles sind Facetten des zeitgenössischen Islams, dessen
Denkströmungen durchweg in Frankreich inzwischen zu Hause sind. Auch hier gibt
es genügend Leute, die nie und nimmer
bereit sind, sich auf das Gebilde eines demokratisch-laizistischen Staates
einzulassen.
Angesichts dieses Rundumschlags wirkt Annie Krieger-Krynicki wesentlich
zurückhaltender, dafür aber ausgesprochen solide in den Grundinformationen.
Ihre Schilderung der musulmans en France (1985)
beschreibt durchaus parallel zu Kepels banlieus
de l'islam, welche Umbrüche in der französischen Gesellschaft zu erwarten
sind und dass diese keineswegs immer friedlich ablaufen werden. Aber die Angst
vor der islamischen Weltherrschaft ist ihr fremd.
Roger Garaudy ist Professor für Philosophie und hat
zahlreiche Werke über den Marxismus, das Christentum und den Islam
veröffentlicht. Als der ehemalige Kommunist, einer der führenden
Intellektuellen Frankreichs, vom Christentum zum Islam konvertierte, hat dies
die Gemüter erheblich bewegt. Es fällt auf, dass eine kritische Zustimmung zu
allem, was Islam heißt, einer
sorgfältigen Beobachtung und Analyse gewichen ist. Verständlich, dass in diesem
Zusammenhang das islamisch-jüdisch-christliche Córdoba vor der "Reconquista" interpretatorischen
Stellenwert gewinnt für ein heutiges Verständnis des Islam: L'islam en occident. Das ist eine erhebliche Kurskorrektur gegenüber seinen promesses de l'islam von 1981 (Deutsch:
Verheißung Islam, 1989). Das wird nicht nur in den intégrismes deutlich,
sondern noch mehr in seinem neuesten Buch: Avons-nous
besoin de Dieu?(1993), das sich in erster Linie auf den christlichen bzw.
katholischen Integrismus als „Vater“ aller anderen Integrismen unserer Zeit
bezieht. Erstaunlichweise wird seine Konversion hier mit keiner Silbe erwähnt.
Die Mythen vom Fortschritt, von der Sinnlosigkeit und von
der technischen Machbarkeit
Brauchen wir Gott? Warum stellen wir
diese Frage heutzutage? Garaudy sieht den Grund dafür in einer Entwicklung, die
er mit drei aufeinanderfolgenden Mythen beschreibt:
Mit der Renaissance entstand im 16. Jh. der Mythos des Fortschritts. Der Mensch
träumte davon, anstelle Gottes über die Welt zu herrschen. Mit Hilfe von
Wissenschaft und Technik wollte er die Natur, die Menschheit, kurz den ganzen
Planeten beherrschen. Dahinter stand der Wunsch nach Macht, Fülle und Wachstum.
Das Grundprinzip dieses Fortschrittsglaubens lautet: Wenn jeder sein
persönliches Interesse verfolgt, so ist das im Interesse aller. Dagegen hält
Marx seine zentrale These, dass der Kapitalismus zwar Reichtum und technischen
Fortschritt bringt, doch damit auch Ungleichheiten schafft, bestimmte Gruppen ausschließt und so
zu Gewalt führt. Der Mensch wird zu einem Tier, dass seiner Innerlichkeit und
Transzendenz beraubt ist. Die Ablehnung dieses Totalitarismus zeigt sich im
intellektuellen Bereich zum einen in der illusorischen Rückkehr zu
mittelalterlichen Integrismen, die eine moralische Aufrüstung fordern, zum
anderen im Atheismus in den individualistischen Philosophien des Absurden. In
der Beziehung zwischen dem Starken und dem Schwachen wirkt die Freiheit
unterdrückend und das Gesetz befreiend.
Mitte des 20. Jahrhunderts entsteht mit der Philosophie des
Absurden der Mythos von der
Sinnlosigkeit. Als die Welt schließlich zu komplex erscheint, als dass der
Mensch sie steuern könnte, wird er vom Mythos
der technischen Machbarkeit (ordinanthrope) abgelöst. Jetzt wendet sich der
Mensch an den Computer, um seine Probleme zu lösen. Die Realität wird auf das
reduziert, was mit Hilfe von Maschinen vermittelt werden kann. So entsteht eine
perverse Vorstellung von Kommunikation: Alle Informationen müssen durch die
Logik und Technik von Maschinen übermittelt werden können. Dieser
„informatische Totalitarismus“ der Kommunikation schließt die eigentlich
menschlichen Dimensionen wie Kunst, Liebe, persönliche Begegnung und die Wahl
des Sinns und der Lebensziele aus. Irdische Hoffnung findet man nach fünf
Jahrhunderten westlicher Süffisanz, die dem Dialog und der Transzendenz
entgegensteht, im sozialen Bereich bei den Arbeiterpriestern, in der Theologie
der Hoffnung von Jürgen Moltmann und
den politischen Befreiungstheologien. Doch zunächst zeichnet sich eine
Restauration auf zwei Ebenen ab: die Restauration des in Liberalismus
umbenannten Kapitalismus und die „Restauration“ einer Theologie der Herrschaft.
Nachdem die Menschen nun erkannt haben, dass Maschinen nicht auf ihre Fragen
nach dem Ziel und Sinn ihres Lebens antworten können, stellt sich ihnen heute
die Frage: Brauchen wir Gott? Was für einen Gott?
Der priesterliche und der merkantile Lebensstil
Die westlichen Politiker halten ihr
Gesellschaftsmodell für das einzig mögliche. Der ökonomische Kolonialismus
praktiziert Barbarei und nennt dies Zivilisation. Immer schon hat der Westen
seine Massaker als Siege der Zivilisation über die Barbarei ausgegeben. Damals
rechtfertigte man die Eroberungen als „Evangelisation“. Nach dem Rückgang des
Religiösen in Europa brachten die höheren Rassen den primitiven die Modernität.
Das Recht des Stärkeren erhält Rechtskraft (force
du droit). Der neue Kolonialismus nennt sich Recht der humanitären
Einmischung (droit d’ingérence humanitaire). Garaudy spricht von einer
„heiligen Allianz“ von Marktwirtschaft und Informationstechnik, die beide auf
derselben reduktiven und quantifizierenden Konzeption des Menschen und seiner
Zukunft beruhen. Es stellt sich für ihn die Wahl zwischen einem merkantilen und
einem priesterlichen Lebensstil: Will ich möglichst viel Besitz oder Macht
anhäufen oder mich entgegen dem heutigen Individualismus als Mitglied einer
universellen Gemeinschaft verstehen? Dann wäre ich allerdings dazu
verpflichtet, zur Entfaltung aller anderen beizutragen. Garaudy ist davon
überzeugt, dass nur die Entscheidung für den priesterlichen Lebensstil in allen
Lebensbereichen unserem Leben wieder einen Sinn geben kann.
Alle Religionen scheinen rückwärts in die Zukunft zu gehen,
indem sie auf die Vergangenheit schauen. Sie setzen den Glauben mit einer
Kultur oder Institution gleich, die dieser zu einem bestimmten Zeitpunkt der
Geschichte angenommen hat. Hier zeigt sich Garaudys Verständnis von
Integrismus, der Verbote und Gewalttaten mit sich bringt, von Jerusalem bis
Mekka und von Rom bis Ayodhya in Indien (Niederbrennung der dortigen Moschee
durch fanatische Hindus). Die vorherrschende Religion der Herrschenden, das
Christentum, geht zurück: Die Zahl der Priester und Gläubigen nimmt ab. Die
Botschaft der Kirche antwortet nicht mehr auf die Fragen, Ängste und Hoffnungen
der Völker. Garaudy sieht den Grund dafür in der christlichen Theologie der
Herrschaft, die er auf Paulus zurückführt. Zwei Jahrtausende lang wurde das
Christentum ausgehend von der Erfahrung einer kleinen Gruppe aus als Mischung
eines von Paulus reformierten Judentums, der griechischen Philosophie und der
römischen Staatsphilosophie formuliert. Diese drei Traditionen, die jüdische,
die griechische und die römische, sind den vier Fünfteln der Welt fremd, in die
sie durch Kolonialismus importiert wurden.
Die Theologie braucht eine
kopernikanische Wende (vgl. John Hick,
den Garaudy wohl nicht kennt), durch die der Glaube aufhören würde, um die
kleine jüdisch-christliche Welt zu kreisen, und den Anspruch zu erheben, den
Rest des Universums ideologisch zu kolonialisieren. Garaudy fordert, die
Botschaft Jesu vom Reich Gottes in einer universellen Perspektive aus der Sicht
anderer Weisheiten zu lesen und zu leben, wie der des Orients, des Tao oder der
Upanishaden. Will man die universellen Werte des Christentums retten, muss die
westliche Kultur relativiert werden. Garaudy führt Befreiungstheologen an, um
zu zeigen, dass das Christentum keine westliche Religion ist, sondern eine
Religion, die der Westen monopolisiert hat. Er hat ihm seine Philosophie, sein
Recht und seine Kultur als Markenzeichen aufgedrückt (Père Hegba, ein Jesuit aus Kamerun). Er zitiert ebenso Père Osama,
der die Rolle der afrikanischen Religionen mit der vorbereitenden Funktion des
Alten Testaments auf die Ankunft Jesu vergleicht. Wollen sich die Christen auf
die Ankunft des totalen Menschen vorbereiten, müssen sie sich den Beiträgen
bzw. Anteilen der Kulturen und dem Glauben aller Völker öffnen.
Ist ein Nord-Süd-Dialog möglich? Die Bedeutung der Scharia
Garaudy führt recht pauschal alle
Integrismen auf den Integrismus des Westens zurück. Mit seinem Anspruch, im
Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, glaubte er, nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht zu haben, sie allen anderen aufzuzwingen. Heute wird die
Herrschaft unter anderen Vorzeichen fortgesetzt: : Einst hieß es „eine Kirche,
ein Gott, ein König“. Heute heißt es „eine Kultur, eine Technik, eine
Weltodnung“. Außerhalb der Kirche kein Heil! Außerhalb des Westens keine
Zivilisation! Immer steht dahinter: Außerhalb meiner Wahrheit Irrtum! Ein
auserwähltes Volk: das hebräische, das christliche, das westliche. Dieser
Anspruch hat eine militärische, ökonomische und spirituelle (Missionen)
Invasion zur Folge. Er wird so zur Mutter der anderen Integrismen in der Welt.
Nach Garaudy kann es kein auserwähltes Volk geben, dessen Mittlerschaft nötig
wäre, um Gott zu begegnen.
Um endlich mit dem Ethnozentrismus
Schluss zu machen, ruft Garaudy dazu auf, Glaube und Religion nicht zu
vermischen.
Religion ist für ihn der Ausdruck des Glaubens
über eine Kultur. Unter Kultur
versteht er die Gesamtheit der Beziehungen, die der Einzelne oder eine
Gemeinschaft mit der Natur, den Menschen und dem Göttlichen unterhält. Die
kolonialisierten Länder verhalten sich nun so, als gäbe es nur die Alternative
zwischen der Imitation des Westens oder der Vergangenheit. Als eines der
deutlichsten Zeugnisse für die Größe des Korans führt Garaudy die Verbindung
von Transzendenz und Geschichte, von Religion und Politik an, die Verbindung
von Scharia, dem Wort Gottes, den ewigen Prinzipien, in denen es um die Beziehung
mit Gott geht (Gott allein besitzt, befiehlt, weiß). Hinzu kommt fiqh, das menschliche Recht, spezielle
Gesetze, durch die die Menschen, ausgehend von den ewigen Prinzipien, jeweils
ihre sozialen Beziehungen organisieren. Von 6000 Versen im Koran geht es
lediglich in 200 um Rechtsfragen. Die religiöse und moralische Orientierung von
absoluter, ewiger und universeller Bedeutung mit Gesetzgebungen zu vermischen,
die in jeder Gesellschaft und in jeder Epoche unterschiedlich sind, würde in
den Augen Garaudys eine Judaisierung des Islam bedeuten. Die Scharia gibt die
transzendenten Ziele vor. Das „Programm“ oder die „Methode“ ermöglichen
lediglich, die transzendenten Werte jederzeit einfließen zu lassen.
Es steht in unserer Verantwortung, in jedem Moment, die
historischen Mittel zu finden, um die transzendenten Ziele zu realisieren. Die
Gemeinde von Medina ist ein Beispiel dafür. Diese klare Unterscheidung des
Koran schließt jeglichen Literalismus aus. Die Verse, in denen es um
Rechtsprechung geht, müssen historisch gelesen werden. Ein Dialog des Glaubens
ist nur zwischen Menschen möglich, die ihren Glauben nicht als Antwort, sondern
als Frage leben. Wenn Gott transzendent ist, hat kein Mensch, keine
Gemeinschaft das Recht, Gott in ihre Definitionen, Riten und Dogmen
einzuschließen. Eine derartige „Süffisanz“ ist das Gegenteil von
„Transzendenz“. Ein Dialog des Glaubens ist nur möglich, wenn wir uns dessen
bewusst sind, was uns fehlt, wenn wir von dem ausgehen, was unserem Glauben
fehlt, um die Fülle, das Unendliche und das Ganze zu erlangen. Die
Vielfältigkeit und Relativität der Erfahrungen mit dem Sinn des Lebens und dem
Einen, die Übersetzungen dieser Erfahrungen in eine bestimmte Kultur,
Geschichte und Zivilisation schließt die Absolutheit und Einzigartigkeit Gottes
nicht aus.
Es bleibt eine Grundspannung von Religionen und
Menschenrechten. Dieser könnte man anhand vieler Veröffentlichungen im
französischsprachigen Raum (einschließlich Belgien und der Schweiz) gesondert
nachgehen. Mohammed-Chérif Ferjani hat mit seinem Buch l'islamisme,
laïcité et droits de l'homme (1991) ein eindrückliches Beispiel
gegeben. François Rigaux hat
mit einer Reihe weiterer Autoren die Rechtslage ausgesprochen gründlich
durchforstet, so dass Klischees und Vorurteile auf alle Fälle hieran -
gewissermaßen als einem Standardwerk - zu prüfen wären. Auch manchen deutschen
"Islamexperten" täte die Lektüre dieses Buches gut: Le
statut personnel des musulmans. Droit comparé et droit international privé (Louvain/Brüssel
1992). Wir aber beschränken uns allerdings auf die Folgen für den Laizismus
angesichts der Herausforderung durch den
islamischen Integrismus, der ebenfalls sehr einseitig bestimmte
Rechtsvorschriften interpretiert.
Jean-Claude Barreau: De l’islam en général et du monde moderne
en particulier (1991):
Er gehört zu den Autoren, die sich durch viele Reisen in
muslimische Länder einen umfassenden Überblick verschafft haben. Zunächst war
er Theologe, dann Verleger, von 1982-84
Leiter der „coopération française“ in Algerien. Heute ist Barreau
Generalinspektor des Bildungsministeriums (inspecteur général de l’Education
nationale) und Präsident für internationale Migrationen (OMI: Office des
migrations internationales) und des Institutes für demographische Studien
(INED: Institut national d’études démographiques).
Araber werden im Westen häufig Opfer
von Fremdenfeindlichkeit. Dennoch wird der Islam als Religion meist
überschätzt. Die westliche Wissenschaft hat ihn bisher kaum einer Kritik
unterzogen. Nun gilt es jedoch, mit der von den Orientalisten propagierten Goldenen Legende Schluß zu machen, die
den Islam als eine fortschrittliche, tolerante, pazifistische und
kulturfördernde Religion rühmt und die integristischen Abweichungen
herunterspielt. So das einleitende Kapitel von Barreau.
Sein
Verständnis des Islam beschreibt er
dann folgendermaßen:
1. Der Islam ist eine unzeitgemäße Religion (religion décalée). Kulturell und
psychologisch ist er älter als die beiden anderen monotheistischen Religionen.
Mohammed erscheint in diesem Zusammenhang als Zeitgenosse Abrahams. Aufgrund
dieser „Primitivität“, dieses ursprünglichen Archaismus, verstärkt durch die
Starrheit seiner Theologie, hat der Islam oft eine Regression bewirkt.
2. Der Islam ist eine vertikale Religion, eine Religion der Transzendenz, die keine Vermittler
zwischen Gott und Mensch kennt. Obwohl Allah dem wahren Glaubenden nahe ist,
bleibt er für viele das Überich Siegmund Freuds.
3. Der Islam ist eine politische Religion. Mohammed war vor
allem ein Gesetzgeber, ein Staatschef und Kriegsführer. Sein Erfolg beruht auf
dem militärischen Sieg über Mekka, dem Heiligen Krieg. Entgegen der Legende
können jedoch nur das Verbot des Mädchenmordes und der Erbteil der Frauen als
fortschrittlich gelten.
4. Der Islam ist eine konformistische Religion. Der Gläubige muss
sich nach den Geboten eines souveränen Gottes richten. Ein Prophet hat sie
verkündet, durch die Sunna wurden sie interpretiert und durch die Scharia zum
Gesetz erklärt. Seit dem 9. Jh. wurden sie dann nicht mehr verändert. Die
Forderung einer reinen Reproduktion ohne Initiative des Individuums birgt die
Gefahr in sich, die Glaubenspraxis auf einen allgemeinen Konformismus zu reduzieren.
So scheint das Verbot, Schweinefleisch zu essen, im Zeitalter der Gefriertruhen
völlig absurd. Der Islam verschließt damit die Augen vor der Notwendigkeit,
organische Abfälle im Blick auf das Gleichgewicht einer modernen Landwirtschaft
wiederzuverwerten.
5. Der Islam ist eine autodidaktische Religion, ohne wirkliche
Beziehung zu den beiden monotheistischen Religionen, von denen lediglich
Bruchstücke in den Koran integriert wurden.
6. Der Islam ist geographisch und
historisch eine große Religion.
Die Folgen der Ablehnung der Moderne
Religionen, die die Moderne ablehnen,
laufen Gefahr, entweder ausgelöscht zu werden oder in gewalttätige Opposition,
Fanatismus oder Integrismus zu verfallen. Letzteres umschreibt das aktuelle
Stadium der Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen. Die Werte der
Moderne (Dynamismus, Wandel, kritischer Geist und Kult des Individuums) sind
unvereinbar mit den Werten des Islam. Nie war die Kluft zwischen dem Islam und
dem Westen ökonomisch und militärisch so groß wie heute. Die industrielle Welt
wird den Islam besiegen, wenn die moderne Welt nicht aus Mangel an Werten des
Lebens (Verlust des Geheimnisses des inneren Friedens/ Verdrängung des Todes)
ihre Kraft verliert.
Die Schwierigkeiten des Islam mit der Moderne wirken sich
nach Barreau vor allem in folgenden fünf Bereichen aus:
1. Staat:
Utopie und Ideal des islamischen Staates ist der Staat von Medina. Daher
unterscheidet der Koran nicht zwischen Zeitlichem und Spirituellem. Die
politische Macht wird soweit sakralisiert, dass Priesteramt und politische
Herrschaft zusammenfallen. Nicht-Muslime werden toleriert, können jedoch nie
volle Staatsbürger in einem muslimischen Staat sein.
2. Religion:
Den muslimischen Theologen gelang es im Gegensatz zu den christlichen
Humanisten nicht, die Forderungen des Glaubens mit denen der modernen
Wissenschaft zu vereinbaren. Der Islam ist konservativ. Es ist alles gesagt. Es
bleibt lediglich die Aufgabe, sich anzupassen (se conformer) und zu
wiederholen. Man träumt davon, den Ruhm der Kalifen wieder herzustellen.
3. Menschenrechte:
Ihnen wird das islamische Recht, die Unterwerfung unter Gott entgegengehalten.
Subversiv ist der Islam nicht.
4. Arbeit:
Der militärische Erfolg der Muslime beruhte auf der zufälligen Verbindung der
Städter und Nomaden Arabiens unter der Leitung der ersteren. Daher schätzt der
Koran das Handelsgewerbe, verachtet jedoch die Landwirtschaft. Industrie setzt
nun aber die Fähigkeit zu Veränderungen und eine bestimmte psychologische
Beziehung zur Arbeit voraus. Muslime sind bisher reine Konsumenten der Waren
der industriellen Welt. Bis auf einige Ausnahmen haben sie noch nicht begonnen,
solche zu erfinden und zu fabrizieren.
5. Frau:
Die Rolle der Frau ist auf den privaten Bereich beschränkt, da die Sexualität
der Frau als eine Gefahr für die soziale Ordnung betrachtet wird. Ohne den
Unterschied der Geschlechter ist die soziale Dynamik jedoch weniger stark.
Islam und Republik
Kann der Islam sich erneuern, ohne
seine Seele zu verlieren? Kann er sich öffnen? Politiker wie Nasser, die den
Staat modernisieren, nicht aber die Religion, scheitern. Hierbei spielen die Gründungstexte
eine entscheidende Rolle. Am Beispiel der Republik Indonesien sucht Barreau zu beweisen, dass neue Interpretationen
des Koran theologisch möglich sind, auch wenn es solche lange Zeit nicht
gegeben hat. Hier am Indischen Ozean wurde die Botschaft des Propheten zum
ersten Mal friedlich verbreitet. Die Interpretation der Scharia scheint weniger
streng. Industrie und Modernisierung befinden sich in vollem Aufschwung. Warum
sollte der Islam das, was er hier unter dem Zwang des Meeres geschafft hat, nicht
noch einmal unter dem Druck der Moderne schaffen?
Eine
Neuinterpretation des Koran ist für die Entwicklung der muslimischen Länder
notwendig. Denn sie müssen sich von den Integrismen befreien, die in
Wirklichkeit Anzeichen für das Sterben des Islam sind, Erstarrung, Todesstarre.
Eine wirklich lebendige Religion verändert sich. Sie paßt sich an. Die
Erneuerung ist in erster Linie Sache der Muslime selbst. Die ersten drei
Schritte in diese Richtung müssten folgende sein:
- Es gilt, der Realität ins Gesicht zu sehen (militärische Niederlage / ökonomischer Zusammenbruch / unzureichende Demokratie)
- Der Respekt vor der Arbeit muss gesichert werden (insbesondere in Landwirtschaft, Industrie und wissenschaftlicher Forschung)
- Der Frau muss endlich ein neuer Status zugestanden werden – im Sinne der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung.
Die Immigration könnte diese Entwicklung noch beschleunigen.
Millionen von Muslimen leben in der westlichen Welt, insbesondere im Gebiet der
französischen Republik, einem laizistischen Staat mit universalistischer
Staatsbürgerschaft. Ihre Integration könnte eine Chance für ein Frankreich mit
einer geringen Bevölkerungsdichte sein. Umgekehrt kann Frankreich aber auch
eine Chance für den Islam sein (vgl. Kaltenbach). Denn die Muslime in
Frankreich sind gezwungen, die republikanischen Gesetze zu respektieren und
infolgedessen die islamischen Gesetze neu zu interpretieren.
Barreau führt drei Möglichkeiten an,
wie Frankreich die Erneuerung des Islam unterstützen kann: Aufgrund der besonderen
Situation des Konkordats in Elsass-Lothringen könnte man in Straßburg eine
Fakultät für moderne Theologie gründen, die eine progressistische muslimische
Theologie ins Leben rufen könnte. Zudem könnte man arabische und muslimische
Studiengänge an den großen Universitäten des Midi – Montpellier und Aix en
Provence – einführen, die zur Zeit das Monopol eines kleinen Kreises von
Orientalisten sind. In diese Richtung geht auch die Einrichtung eines
repräsentativen Islamrates in Frankreich.
5. Die Stellung der
Frau
Zu einer weiteren wichtigen
Problematik, der Stellung der Frau, finden wir in anderen Publikationen eine
Fülle wichtiger Aussagen. Der Blick soll hier nur so gelenkt werden, dass die
Stellung der Frau im Kontext eines durch die westliche Moderne
herausgeforderten und manchmal auch in die Ecke gedrängten Islam aufscheint.
Die meisten Autorinnen gehen auf den Maghreb ein, sie kommen auch oft daher,
haben also unmittelbare Erfahrungen, die sie in ihren Büchern verarbeiten. Die
dort aufgezeigten Probleme blieben jedoch nicht in Nordafrika, die
Einwanderinnen haben sie auf die andere Seite des Mittelmeeres gebracht.
Marseille ist geradezu zum Symbol solcher Spannungen geworden, die sich in
Wandsprüchen, Gewalttaten, Straßenschlachten, aber auch in den Seelen der
einzelnen zuweilen regelrecht austoben.
Beide Seiten des Mittelmeers haben
damit vergleichbare Situationen und Konflikte. Darum werden die teilweise
arabisch schreibenden Autorinnen schnell ins Französische übersetzt. Einige
sind jedoch des Französischen fließend mächtig. Wie vielfältig und wie stark
die Situation in Bewegung geraten ist, zeigt ein Dossier der Zeitschrift Qantara
(No.10, Jan. – März 1994, S.18-41), die vom Institut
du Monde Arabe (IMA) in Paris herausgegeben wird. Dort wird nicht nur über
die maghrebinische Frauenbewegung berichtet, dort erfährt man auch, dass schon
Ende des vorigen Jahrhunderts Frauen aus Ägypten und dem Nahen Osten den
Aufbruch und den Ausbruch aus einer durch Männer dominierten Gesellschaft
versuchten, Frauenzeitschriften gründeten, auch ihren Zorn sprachlich und
künstlerisch zum Ausdruck brachten und bringen. Wer weiß schon etwas über das
Thema „Frau“ in arabischen Filmen oder in der Musik? Nur wenige
Schriftstellerinnen sind auch hierzulande bekannt geworden. Seit 1989 findet
unter der Ägide der UNESCO jedes Jahr in Fes ein Frauenfestival statt. Namen
wie Hoda Charaoui, Nawal Saadawi,
Jocelyne Saab, Randa Chahhal, Malika
Mokkedem, Andrée Chédid, Cheikha Remitti, Khalida Said, Mona Saudi u.v.a.m.
sollten nicht nur von Insidern diskutiert werden. Etwas anders ist das
inzwischen bei Fatima (Fatema) Mernissi geworden, von der einige Bücher in
deutscher Übersetzung herausgekommen sind. Sie lehrt als Professorin Soziologie
in Rabat. Zuweilen war sie in Marokko mit Veröffentlichungsverbot belegt.
Mit ihrem auch ins Deutsche übersetzten Buch: Der
politische Harem. Mohammed und die Frauen (1989) hat sie ein für allemal
den Scheingegensatz von frauenfeindlichem Koran und säkularisierter Frau im
Sinne von freier Frau aufgebrochen und klar gemacht, dass die Moderne mit einem
sachgemäßen Koranverständnis selbst in die patriarchal geprägten islamischen
Gesellschaften des Mittleren Ostens und Nordafrikas Einzug halten müsste. Der
Koran steht jedenfalls nicht auf der Seite der Herrschenden. Besonders scharf
zeigt Mernissi diese notwendige Veränderung im gleichzeitigen Sinne von
moderner Koraninterpretation und heutigem westlichen Demokratieverständnis auf
in dem Buch: La peur-modernité. Conflit islam démocratie (deutsch: Die Angst
vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, 1992).
Für diesen Argumentationsschub gibt es sozusagen im Jahre 1991 einen Vorläufer:
Le
monde n'est pas un harem. Paroles de femmes du Maroc (leider bisher
nicht ins Deutsche übersetzt), in dem nicht nur marokkanische Frauen
unterschiedlicher Herkunft zu Worte kommen, sondern wo F.Mernissi den Schleier
wegreißt und der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass Frauen anfangen, die
demokratischen Freiheiten einzufordern und den Koran als Bundesgenossen
gewinnen, gestützt durch ein erweitertes Wissen ihrer religiösen und
kulturellen Wurzeln.
Es ließen sich noch weitere Veröffentlichungen von Fatema Mernissi
anführen. Hier soll jedoch in der Beschränkung noch einmal auf die veränderte
Situation der Frauen im Maghreb hingewiesen werden und auf die Tatsache, dass
ohne die islamischen Frauen in Nordafrika wie in Frankreich jegliche positive
und fortschrittliche Gesellschaftsentwicklung steckenbleiben wird. Das erfährt
man z.B. bei Monique Gadant und Michèle
Kasriel, die in Femmes du Maghreb (1990) Stimmen aus Nordafrika gesammelt
und die Spannung der islamischen Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart,
Wüste und Küste, Dorf und Großstadt, Tradition und Moderne beeindruckend zum
Ausdruck gebracht haben. Diese Texte könnte man geradezu als Pflichtlektüre für
Kommunalpolitiker empfehlen, die das Ausländische und Fremde im eigenen Bereich
restriktiv zu verwalten suchen.
Besonders eindrücklich beschreibt die aus Algerien stammende und inzwischen in Frankreich lebende
Journalistin Florence Assouline die “neuen“ islamischen Frauen:
Musulmanes. Une chance pour l’ìslam (1992). Sie werden die Chance einer islamischen Moderne sein, die nicht
den alten Traditionen den Abschied geben, weil der Westen sie für
"mittelalterlich" hält, die sich aber nicht im Interesse einer
dominierenden Männergesellschaft in Ordnungen pressen lassen wollen, die sie in
die Marginalität treibt. Für westliche LeserInnen ist in diesem Zusammenhang
recht erstaunlich, welche Bewegung sich unter islamischen Frauen (besonders im
Maghreb und in Frankreich) breitgemacht hat. Mit den herkömmlichen Kriterien
von fundamentalistisch, mittelalterlich und modern läßt sich nicht
interpretieren, was in der Mischung aus islamischem Hintergrund, französisch-westlichem
Einfluß und eigenständigem politischen Weg im Rahmen einer demokratischen
Staatsverfassung (Tunesiens) an Aufbruch zu einem eigenständigen
Frauenverständnis in der islamischen Welt heranwächst.
Hinde Taarji: Les voilées de l'islam, deutsch etwa: die Schleier des Islam - (1990), , gehört zu den jungen
marokkanischen Frauen (geb. 1968), die als Muslimas wesentlich die
maghrebinische Frauenbewegung vorantreiben. Sie hat darum auch die erste freie
islamische Frauenzeitschrift in Marokko gegründet. In ihrem Buch analysiert sie
sehr wachsam die unterschiedlichen
Entwicklungen in den Ländern Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten,
Kuweit (vor dem Golfkrieg), Türkei, Algerien und kommt zu dem Schluss, dass auf
der Basis von Freiheit und Gleichheit auch der Islam die Rolle der Frau neu
durchdenken muss, ja dass islamistisch nicht zwangsläufig zu einer Aussetzung
der in der westlichen Welt hochgehaltenen Werte führt. Immerhin hat die
eigenständige Rückbesinnung auf den Islam die Frauen „unter dem Schleier“
selbstbewusst gemacht. Aber kann die Berufung auf die Religion nicht doch in
neue Unterdrückung durch Männermacht führen? Taarji beantwortet diese Frage
letztlich nicht, aber sie bleibt mißtrauisch.
Juliette Minces: Verschleiert. Frauen im Islam (1992), französische Ausgabe: La femme
voilée. L’Islam au féminin (Paris 1990) ist Soziologin und Anthropologin und
arbeitet besonders an Fragen der (Arbeits)-Immigrantinnen unter
Berücksichtigung der 3. Weltproblematik. Sie geht von der alltäglichen
Unterdrückung der Frau aus, an der es sowohl in einer Reihe sog. islamischer
Länder als auch im Blick auf den sozialen Status der in Frankreich lebenden
Immigrantinnen nichts zu beschönigen gibt. Obwohl die juristische Stellung der
Frau im Islam ursprünglich gar nicht schlecht ist, bestimmte Rechte (etwa im
Blick auf das Eigentum der Frau) sogar einklagbar sind, führt die Auslegung des
Rechts (die ja immer von Männern geleistet wird) faktisch zu einer
Deklassierung der Frau. Allerdings ist es weder so, dass nun ein Horrorgemälde
über die Unterdrückung der islamischen Frau entsteht, noch dass die
Gleichberechtigung mit der Männergesellschaft unmittelbar vor der Tür stände.
Es bleibt nichts anderes übrig, als sorgfältig zu differenzieren. In diesem
Kontext sind archaische, vorislamische Traditionen ebenso zu berücksichtigen,
wie rigoristische Exzesse, aber auch ein die Frau mystifizierender
Fundamentalismus, der sich aus religiösen Forderungen und dem koranischen Recht
ableitet. So ist die Frau nach islamischem Verständnis kein Individuum im
westlichen Sinne, sondern bedeutendes Fragment einer Weltordnung, die religiös
sanktioniert ist. Es bleibt durch eine Reihe von Erfahrungen der Autorin
belegt, ein zwiespältiges Bild, das aber im Blick auf Frauenrechte trotz allem
Türen zur Verbesserung offenlässt. Übrigens: In der deutschen Ausgabe klingt
manches schroffer als in der französischen. Ist das nur ein Sprachproblem oder
gar Zufall?
Die Liste der französisch sich äußernden Autorinnen ließe
sich beinahe beliebig fortsetzen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass die
islamische Frauenbewegung des Maghreb nicht nur in Frankreich, sondern auch in
Deutschland endlich zur Kenntnis genommen werden müsste. Bestimmte Vorurteile
über die Unterdrückung der Frau angesichts der koranischen Aussagen fallen
dabei in sich zusammen.
6. Die Spannung von
Laizität und Islamismus
Spannend wird es, wenn von
westlich-säkularer Seite eher als konservativ und traditionalistisch
eingestufte Philosophen und Theologen sich zu Wort melden, wie etwa Fouad
Zakaria, ägyptischer Philosoph, der bis zum zweiten Golfkrieg an der
Universität von Kuwait lehrte. Er faßt seine Überlegungen wie in den zwei
Brennpunkten einer Ellipse zusammen: Laïcité
ou islamisme. Sein Buch mit diesem Titel erschien 1986 zum ersten Mal in
Kairo und wurde 1991 in Französisch aufgelegt. In Laizität und Islamismus sieht
er zwei polare Weltverständnisse, deren islamisch-integristischer Pol keine
wirkliche Integrität ermöglicht, so dass im Sinne eines menschlich toleranten
Zusammenlebens nur die Laizität übrigbleibt. Laizität dürfte Zakaria dabei
allerdings anders verstehen als viele Französinnen und Franzosen, die von einer
scharfen Trennung von Staat und Religion ausgehen. Zakaria kann sich nicht
vorstellen, dass Laizität irreligiös ist. Aber er vermutet, dass das
islamistische (nicht das islamische) Modell eine Mentalität repristiniert, die
ein bestimmtes Zeitalter festschreiben will, das sogenannte Aufklärer gern als
"mittelalterlich" desavouieren. Dennoch eine "mittelalterlich-islamische"
Mentalität hat den Despotismus zur Folge. Despotische Herrschaftstrukturen
werden in diesem Sinne islamisiert. Allerdings geht diese Provokation nicht an
europäische LeserInnen, sondern an arabische. Dies hütet davor, Zakarias Angriffe
auf derselben Ebene wie die Bassam Tibis
zu sehen. Man verstünde Zakaria gründlich falsch, wenn man meinte, der Islam
könnte sich nach seinem eigenen Verständnis nicht aus sich heraus (also ohne
westliche philosophische Hilfe) in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen
Kontexte inkulturieren. So stellt (der allerdings auch westlich geschulte)
Philosoph Zakaria Deutemodelle verschiedener arabischer Intellektueller vor,
die auf recht unterschiedliche Weise versuchen, die Balance von Politik und
Religion neu zu justieren.
Allerdings lehnt er die Position von Said Al-Ashmawy: L’islamisme contre l’islam
(1991) ab, der zwischen der islamischen Philosophie und der Demokratie so viele
Berührungspunkte sieht, dass er für ein offenes religiöses, d.h. islamisches
Paradigma unter den islamischen Völkern eintritt, die in produktiver
Auseinandersetzung die Begegnung mit der westlichen Welt wagen. Soviel Euphorie
hält Zakaria
entgegen, dass der Islam oder noch konkreter die islamischen Araber im Grunde
keine Wahl haben. Der zweite Brennpunkt der Ellipse verlischt, und übrig bleibt
allein die Laizität als politische Notwendigkeit. Wie eine solche (arabische)
Laizität aussehen könnte, bleibt noch im Schemenhaften. Es geht aber nicht
darum, unbesehen westliche Demokratieformen zu übernehmen, sondern es geht um
ein neues islamisches Verstehen der westlichen Geschichte, besonders der
Renaissance und der Aufklärung. Es gilt also, Formen eines laizistischen
Lebenszusammenhanges zu gewinnen, die sich an der Philosophie der Menschenrechte
orientiert und damit die koranischen Traditionen nicht verleugnen muss.
Aufgrund dieser sehr differenzierten
Debatte ist es nötig, die schon erwähnten Integrismen nicht als einen
erratischen Block des Fundamentalismus zu sehen. Dies zeigt sehr scharfsinnig Fereydoun Hoveyda: L’islam bloqué (1992). Man könnte sogar frei übersetzen: Warum sich
der Islam in seiner Bewegungskraft selbst lahmlegte: „Der festgefahrene Islam“
oder „Der Islam in der Sackgasse“.
Hoveyda ist Iraner, wurde aber in Damaskus geboren, und ist
in Beirut aufgewachsen. Von 1971-79 war er Botschafter des Iran in den USA.
ln der Fahrschule des Integrismus lernt
der Muslim das Autofahren mit dem Blick in den Rückspiegel. Wen wundert es da,
wenn die Unfälle auf der Straße des 20. Jh. zunehmen. Die Muslime stören damit
auch die vorsichtigeren und "klügeren" westlichen Autofahrer. Wie
aber kann man den Integristen verständlich rnachen, dass die Erfahrungen der
Kameltreiber und Reiter des goldenen Zeitalters der Kalifen (einschließlich
ihrer Kleidung und Riten) am Ende dieses Jahrhunderts zu nichts nutze sind,
aber auch zu gar nichts?
Die muslimischen Länder sind heute, am
Ende des 2. Jahrtausends, unterentwickelt. Sie zählen zur sogenannten
"Dritten Welt". Die Menschen werden unterdrückt, die Menschenrechte
missachtet. Eine Welle des Integrismus überrollt diese Länder. Wird es den Muslimen gelingen, so fragt
Hoveyda, den Rückstand gegenüber den
westlichen Ländern aufzuholen und sich aus diesen mittelalterlichen Zuständen
zu befreien? In seinen Augen handelt es sich hier um ein rein historisches
Problem. Denn keine Religion gibt Regeln für
"buisiness-administration". Moderne Wirtschaft und Wissenschaft lernt
man an der Universität. So sucht Hoveyda aus einer kritischen Untersuchung der
Geschichte mögliche Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Er arbeitet die
Ursachen für Aufstieg und Niedergang der muslimischen Zivilisation heraus, um
das aktuelle integristische Fieber zu verstehen und Mittel dagegen zu finden.
Die ersten vier Jahrhunderte des Islam waren von Offenheit, Toleranz und
Fortschritt geprägt. Diese dynamische Phase hatte ihren Höhepunkt im 10. Jh.,
der Blüte der muslimischen Zivilisation. Philosophie und Wissenschaft blühten
auf. Es herrschte ein fruchtbarer Pluralismus. Zu Beginn dieses Jahrtausends
war die muslimische Welt der reichste und fortschrittlichste Teil unseres
Planeten. Warum und wie konnte es zu einer solchen Umkehrung der Verhältnisse
kommen?
Muslimische Identität und Moderne: Modernisierung oder
Verdammung?
Die muslimischen Länder sehen sich mit
einer Fülle von materiellen Problemen konfrontiert, die, so Hoveyda, allein die
moderne Wissenschaft und Technologie lösen können. Die Erfahrung zeigt, dass es
nicht reicht, Fabriken zu kaufen und Experten zu engagieren. Die Misserfolge
der Entwicklungsprogramme haben ihre Ursache gerade darin, dass man Produkte
aus dem Westen importierte, die Geisteshaltung, die sie begründet hat, jedoch
verwarf. Hier stehen die muslimischen Länder vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn
sie wollen die wissenschaftlichen und technischen Erneuerungen einführen, ohne
die traditionellen Strukturen anzutasten. Man kann nicht einerseits die Moderne
ablehnen, andererseits aber die wissenschaftliche und technologische Macht des
Westens erlangen wollen. Die moderne Technologie kann nur in dem moralischen
und intellektuellen Kontext funktionieren, den der Westen entwickelt hat. Ohne
Gedanken- und Redefreiheit kann es keine wissenschaftliche Entwicklung geben.
Muslime müssten schon in der Grundschule mit freiem und kritischen Denken
vertraut gemacht werden. Die westliche Technologie kann nicht von der Kultur
getrennt werden, die sie ermöglicht hat. Die Muslime sehen in der
Modernisierung einen Konflikt zwischen einem beruhigenden, wenn auch ungenügendem
Erbe, und beängstigenden, wenn auch notwendigen Erneuerungen. Ob die
muslimische Welt ihren Rückstand von acht Jahrhunderten aufholen kann, hängt
nach Hoveyda ganz davon ab, wofür sie sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts
entscheiden. Denn dann wird der Zug der wissenschaftlichen und technologischen
Revolution eine Geschwindigkeit erreicht haben, die es unmöglich macht, bei
voller Fahrt aufzuspringen.
Traditionalisten verweisen gerne auf
die Krise im Westen, die die Menschen in das Zeitalter der Automation und der
Informatik „schleuderte“. Doch die Kritik an Wissenschaft und Technologie
stellt ihre Nützlichkeit und Legitimität nicht in Frage, sondern wie bei den
Theologen des 12. Jh. lediglich ihren Exzess. Die große Mehrheit der Menschen
im Westen weiß darum, dass es unmöglich ist, dem Fortschritt den Rücken zu
kehren. Man kann den Fortschritt wohl bedauern, aber man kann ihn nicht mehr
stoppen! Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glauben besteht nur in Bezug
auf die integristischen Interpretationen des 12. Jh. Nur das Überleben des
mittelalterlichen Integrismus stellt den Muslim heute vor das scheinbare
Dilemma, sich zwischen zwei unvereinbaren Kulturen entscheiden zu müssen: einer
Gesellschaft, die Gott durch ein imperatives, ewiges Gesetz unterworfen ist,
und einer Gesellschaft, in der Staat und Religion getrennt sind und allen
Gesetzen menschliche Entscheidungen zu Grunde liegen - kurz: zwischen
göttlichem und menschlichem Gesetz.
Aber wie kann man die Forderungen der
modernen Welt mit denen der Tradition vereinbaren? Wir müssen die Vielfalt
unserer muslimischen Identität annehmen, fordert Hoveyda. Und wir müssen die
Westlichkeit, die Modernität als ein Element unserer Persönlichkeit
akzeptieren, das wir zumindest durch unsere Erziehung erworben haben. Was ist
die wahre Identität des Ägypters, des Berben, des Iraners, des Sudanesen? Im 7.
Jh. sind die Beduinen aus der Wüste ausgezogen und haben völlig fremde Kulturen
assimiliert. Heute stehen die Muslime einer wissenschaftlichen und technologischen
Kultur gegenüber, die ihnen im Grunde nicht fremd ist. Denn vor dem Mittelalter
waren sie selbst an der Entwicklung dieser Kultur beteiligt! Es besteht kein
wirklicher Gegensatz zwischen der westlichen Kultur und der muslimischen
Zivilisation.
Die Synthese von westlicher und muslimischer Kultur
Im Gegensatz zu den Anhängern der
Theorie der israelisch-amerikanischen Verschwörung sieht Hoveyda den
"wahren Feind" der muslimischen Welt nicht in der westlichen Kultur,
sondern im Integrismus. Denn dieser hat die Entwicklung der muslimischen
Zivilisation zum Stillstand gebracht. Ihm gilt Macht mehr als materieller und
kultureller Fortschritt.
Der Integrismus hält die Völker in einem Zustand der
Abhängigkeit. Sind die Muslime dazu verurteilt, niemals erwachsen zu werden?
Hoveyda wendet sich dagegen, den aktuellen Erfolg der islamistischen Bewegungen
allein auf die Enttäuschung der Massen angesichts des Misserfolgs der
ökonomischen Entwicklungsprogramme oder der sozialen Ungerechtigkeiten
zurückzuführen. Die technische Zivilisation wird immer komplexer und
beängstigender. Wie verlockend ist da doch die von den Integristen geforderte
Rückkehr zur Schlichtheit der traditionellen Gesellschaft mit ihrer Vermischung
von Politik und Religion. In einer Welt voller Veränderungen fühlt sich der
Gläubige sicher, wenn er sich an das klammert, was sich nicht bewegt. Notwendig
ist ein totaler Wandel der Mentalität und der sozialen Organisation. Doch statt
den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, klagen sich Traditionalisten und Modernisten
gegenseitig an. Sie haben die Wahl: Entweder sie verschließen sich mit
integristischen Strukturen gegen die Außenwelt oder sie finden die Frische und
Offenheit der ersten Jahrhunderte wieder. De letzte Gedanken findet sich
verstärkt bei Olivier (s.u.).
Die Muslime werden auf die
Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen sein. Der Westen kann dazu beitragen,
die muslimische Welt aus ihrer Erstarrung zu befreien, indem er sich nur in die
Angelegenheiten muslimischer Länder mischt, um den Weg der Demokratie zu
unterstützen und die Medien als eine furchtbare internationale Macht erkennt
und dementsprechend damit umgeht. Doch die meisten westlichen Intellektuellen
gefallen sich darin, einen imaginären Islam hochzuloben. Was die muslimische
Welt heute vom Westen trennt, ist eine Frage der Epoche, nicht einer
grundsätzlichen Unvereinbarkeit. Die Immigranten beispielsweise leben im
gleichen Gebiet wie die Europäer. Und doch sind sie keine Zeitgenossen. Die
integristische Welle, die die muslimische Welt im Moment überrollt, ist nicht
mehr als das letzte Zusammenzucken einer kranken traditionellen Gesellschaft,
die vor der Alternative steht, sich nach der Vergangenheit zu sehnen oder die
Notwendigkeit einer Veränderung zu erkennen. Das erfordert eine enorme Informationsarbeit.
Doch zuerst müsste die Geschichte des Islam neu geschrieben werden.
Weniger Neuschreibung, sondern
Rückbesinnung tut not nach Olivier
Carré: L’islam laïque ou le retour à la Grande Tradition (1993). Mit diesem
Titel fordert der Direktor der „Fondation nationale des sciences politiques“,
einem Studienzentrum internationaler Forschung, keinen laizistischen oder
säkularen Islam, sondern ein sorgfältiges Studium der entscheidenden
islamischen Traditionen. Bei diesem Blick in die Geschichte entdeckt man
nämlich sehr schnell eine „große Tradition“ eines fast in unserem Sinne
aufgeklärten Islam, der Religion und Staat trennte. Im Mittelalter
verabschiedete man sich von dieser Denkrichtung und der entsprechenden
politischen Wirklichkeit (in Spanien später, in Nordafrika und in Nahen Osten
früher), indem man das Tor der Koranauslegung (Idschitihad /idjtihad) schloss und damit vorsichtige Reformansätze
des 14. Jahrhunderts unterlief. Stattdessen taucht eine „kurze Tradition“ auf,
derer sich auch die gegenwärtigen Islamisten gern bedienen: Durch einseitige
Koraninterpretationen schaffen sie bewusste Gegensätze zwischen Gläubigen und
Ungläubigen die sie im heutigen säkularen Staat versammelt sehen. Damit ist die
(gewaltsame?) Konfrontation zwischen Demokratie und öffentlich ausgeübter
Religion, zwischen Staat und Moschee/ Kirche vorprogrammiert. Immerhin gibt es
Muslime (wie Mohammed Arkoun), die auf eine laizistische
Koraninterpretation unter den Bedingungen der Gegenwart drängen. Die Welt lässt
sich nicht mehr in einen Bereich der Ungläubigen und Gläubigen aufteilen: dar al-harb (Haus des Krieges) und dar al-islam (Haus des Islam). Es bringt
auch dem Islam nichts, den Gedanken des Individualismus, des privaten Lebens,
des von der Scharia unabhängigen Rechtsstaates und die modernen sozialen
Errungenschaften als Abfall vom Glauben zu diskreditieren. Immerhin zeigen
islamische Ökonomie und selbst die Frauenrechte im Koran eine erstaunliche
Flexibilität gegenüber den Zeiterfordernissen. Statt dass der Ruf nach einem
islamischen Staat in der Phase des Postkolonialismus die Militanz steigert,
gilt es das Verhältnis von in Jahrhunderten (unterschiedlich) gewachsener
Scharia und Koran neu zu durchdenken und in entsprechende Regeln zu gießen.
Auf der anderen Seite muss der oft
einseitige französische Laizitätsbegriff, der kaum ein Äquivalent in dieser Art
in der übrigen westlichen Welt hat, ebenfalls einer Revision unterzogen werden.
Carré plädiert darum für einen „postislamischen Islam“, der auf seinen
originären Wurzeln sich in eine pluralistische Gesellschaft mit einbringt, die
damit nicht nur vom Säkularismus (von der Französischen Revolution herkommend)
geprägt ist, sondern von den vielen Werte- und Normeinflüssen, die die
unterschiedlichen Gesellschaftsglieder prägen. Dazu gehören eben auch
Christentum, Judentum, Islam. Teil einer veränderten Laizität muss auch die
Religion sein, die nicht in die Privatsphäre abgedrängt, sondern im Konzert der
gesellschaftlichen Kräfte mit am Wohl des Gemeinwesens baut. Der Islam könnte
von seinen orthodox-islamistischen Umwegen in der Geschichte zurückkehren in
eine islamische Laizität, die mit der Trennung von Staat und Religion nicht nur
leben kann, sondern von ihren Wertvorstellungen her das Wohl aller im Auge hat.
Christentum und Islam müssen sich allerdings dabei besonders hüten, (wiederum)
den Versuchen der Macht zu erliegen, um Theokratie ähnliche Staatsgebilde weder
religiös zu legitimieren, noch politisch zu fordern wie das Christentum im
Mittelalter, oder die Muslimbrüder in Ägypten bzw. ein Teil der schiitischen
Theologie im heutigen Iran. Carrés Untersuchungen zum arabischen Nationalismus
(1993: Le nationalisme arabe) und
zur Bedeutung der Muslimbrüder, nicht nur in Ägypten (1984: Mystique et politique) zeigen immerhin
auch, wie sich einzelne religiöse Vorstellungen politisch verselbständigen und
das Gleichgewicht im Nahen und Mittleren Osten einschließlich der arabischen
Halbinsel) durcheinanderbringen. Diese Seite muss ebenso berücksichtigt werden
wie die Tatsache, dass unsere heutige Kultur weitgehend jüdisch-christlich
geprägt ist, auch wenn sie eine Reihe von aufklärerischen Entwicklungen
durchgemacht hat. Sollte man in einem solchen Kontext den Islam und damit die
Wertvorstellungen von Millionen in Frankreich lebender Menschen ausschließen?
Es ist allen nur gedient, wenn auf der
Basis des jeweiligen Glaubens und der dazugehörigen Ethik eine Kooperation mit
den übrigen gesellschaftlichen Kräften so zustande kommt, dass mit den
Argumenten der Vernunft und eines wachen Geistes die großen Veränderungen an
der Wende zum dritten Jahrtausend wahrgenommen werden können. Plurikulturalität
und Polynormativität haben doch so viel Grundkonsens, dass man um ein
Zerbrechen gesellschaftlicher Ordnungen (in Europa) unter diesen Bedingungen
nicht fürchten muss.
Durchaus in der Linie aufklärerischen Denkens seit der
Französischen Revolution, aber ebenfalls mit intimer Kenntnis islamischer
Strömungen stellt der Politik- und Wirtschaftswissenschaften lehrende Maxime
Rodinson das politisch-religiös-wirtschaftliche Geflecht dar, in das
der Islam verwoben ist. Ein Teil der Bücher ist auch deutschen LeserInnen
zugänglich. Rodinson ist unseres Wissens einer der ersten, der die Faszination
Islam (französisch: 1980, deutsch: 1985) aus der engen Verbindung von
politischem Denken, Lehren und Glauben und persönlichem Glauben beschrieben
hat. In einem kürzlich erschienenen Essayband mit Aufsätzen hauptsächlich aus
den achtziger Jahren widmet sich Rodinson verstärkt diesen Fragen.
Maxime
Rodinson: L’Islam: politique et croyance (1993; Der Islam:
Politik und Glaube)
Rodinson ist ursprünglich Marxist. In dem Sammelband finden
sich sowohl allgemeinere Artikel (Die Struktur der muslimischen Gesellschaften
seit der Zeit Mohammeds bis heute) als auch speziellere Artikel, die etwa auf
dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Situation geschrieben worden
sind (iranische Revolution) oder sich mit einem speziellen Phänomen
(Integrismus) bzw. einer bestimmten Region (Libanon) beschäftigen.
Der Islam: eine ideologische Bewegung
Rodinson versteht den Islam nicht als
ein geschlossenes Konzept, auf das sich das öffentliche und private Verhalten
in der muslimischen Welt zurückführen ließe. Deshalb spricht er auch lieber von
den Muslimen als vom Islam. Es wäre absurd, die Haltung der politischen Führer,
der Massen und der Eliten auf bestimmte Strukturelemente der muslimischen
Dogmatik oder einzelne Stellen im Koran oder in der Tradition zurückführen zu
wollen. Das Leben der Muslime läßt sich nicht allein aus ihrer Glaubenslehre
erklären. Kurz: Das soziale Leben hängt nicht von einer Idee bzw. einem Konzept
ab. Islamische Phänomene können somit nicht nur mit anderen islamischen
Phänomenen erklärt werden. Rodinson stellt den Islam auf eine Ebene mit den säkularen
Ideologien, die auf politische Führung abzielen. Die monotheistischen
Religionen zählt er, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, zu den
„ideologischen Bewegungen“.
Die Einheit der Essays liegt in der
Analyse der Beziehungen zwischen der islamischen Glaubenslehre und dem
Verhalten der Muslime. Zur Glaubenslehre zählt er die Strukturen der Bildung,
Propagierung und der individuellen und kollektiven Vertiefung des
Weltverständnisses und wie diese die politische Macht mit Autorität und
Führungsqualitäten ausstatten und sie beeinflussen. Das Verhalten bezieht
Rodinson auf die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen, also auf die
Autoritäts- und Führungsstrukturen, die die Gesellschaften bestimmen. In seiner
Analyse der Beziehung zwischen beiden stützt er sich vor allem auf die
Soziologie. Dabei hält er an der Marxschen Sicht der Beziehungen zwischen den
politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen einerseits und den
ideologischen Strukturen andererseits fest.
Die Originalität des Islam: die Organisation der
Gemeinschaft
Wie jede ideologische Bewegung hat der Islam eine neue
Gemeinschaft von Gläubigen mit einer spezifischen Ideologie geschaffen, dem
Ideal einer gerechten muslimischen Gesellschaft. Die Originalität des Islam
sieht Rodinson weder in seiner Glaubenslehre noch in seinem Ritual, sondern in
der Organisation der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft (Umma) bildet einen
globalen Organismus, dessen Anhänger (zumindest theoretisch) gleichgestellt
sind. In seinen Anfängen in Medina war er politisch-religiös: Die Gemeinschaft
der Gläubigen war zugleich politische Struktur, Staat. Christentum und
Buddhismus verstehen sich nur als eine Gemeinschaft von Gläubigen, die dieselbe
Wahrheit anerkennen. Sie wollen nicht die Gesellschaft verändern, sondern den
Einzelnen zum Heil führen. Die Vorstellung, dass im Islam Politik und Religion
verschmelzen, hat eine reale Wurzel: die Verschmelzung der politischen und
ideologischen Macht in Medina. Später jedoch waren Politik und Ideologie
getrennt und standen die meiste Zeit sogar in Opposition zueinander.
Obwohl die muslimische Ideologie den Anspruch erhebt, die
Gesellschaft zu verändern, kann die Ideologie die Eigendynamik der
ethnisch-nationalen Kämpfe, der Kulturen, der ökonomischen Systeme, kurz die
Dynamik der Macht nicht durchbrechen. Die Einheit der muslimischen Kultur
besteht in ihrer Ideologie, dem Islam. Der ethnische oder nationale
Nationalismus, nach Rodinson die mächtigste Religion unserer Zeit, bildet ein
gewisses Gegengewicht zu diesem Zugehörigkeitsgefühl der Muslime zur Umma.
Rodinson unterscheidet zwei bzw. drei Stufen der muslimischen Ideologie: den
Nationalismus einzelner Länder, den arabischen Nationalismus und den
Nationalismus der muslimischen Gemeinschaft.
Die Unvereinbarkeit von demokratischen Strukturen und
Gemeinschaftsstrukturen von Minderheiten (corps minoritaires de type étatique)
Die politische Struktur des klassischen
Islam war der hierarchische Pluralismus, der konfessionelle
Gemeinschaftsstrukturen übereinander lagerte. Für konfessionelle Minderheiten
stellt das laizistische Modell, das in Frankreich seit der Trennung von Kirche
und Staat am konsequentesten angewandt wird, eine große Verlockung dar. Doch
die Minderheiten werden sich sehr schnell eines gravierenden Nachteils der westlichen
Staatsnation bewusst: Völlige Freiheit und Gleichheit scheinen eine weitgehende
Homogenisierung des Staates vorauszusetzen. Dabei werden sie zu unpolitischen
Ideengemeinschaften herabgesetzt. Die Konfessionen haben hier lediglich den
Status von Vereinigungen von Menschen, die gemeinsamen Vorstellungen anhängen.
Ihre Mitglieder müssen in allen Punkten den gesetzlichen Regelungen des Staates
Folge leisten (vgl. dazu die Ausführungen von Ulrich Schoen im vorangegangenen Beitrag, wo es um die Situation
religiöser Minderheiten in Frankreich geht). In einer theoretisch homogenen
Gesellschaft liegt die Entscheidung bei der Mehrheit oder bei den Stärksten (im
allgemeinen bei den Muslimen).
Integrismus: ein universelles Phänomen
Der muslimische Integrismus von heute
fordert die Rückkehr zum einstigen Pluralismus. Aufgrund des weltweiten
Ansehens, das demokratische Prinzipien genießen, übernimmt er deren äußere
Form: Im Namen der Mehrheit will er den hierarchischen Pluralismus von einst
wieder einführen und die Vorherrschaft der in der Mehrheit befindlichen
Gemeinschaft aufrichten, ihr jedoch einen eher nationalen als ideologischen
Charakter verleihen. Die Zunahme von autoritären Regimen und Gewaltherrschaft
geht nicht auf die Botschaft des Propheten zurück, sondern wird durch den
Patriotismus der Gemeinschaft und die ethnischen und nationalen Patriotismen
erleichtert. Aufgrund der engen Verbindung in der traditionellen muslimischen
Ideologie von idealen zeitlichen (Utopie) und existentiellen Rezepten. Die Ausbreitung
technischer Mechanismen und das Verständnis ihrer Kausalität scheinen nach
Rodinson der Hauptgrund für eine Entzauberung der Welt. Der Glaube an Gott
wurde weitgehend durch den Glauben an den Islam ersetzt, was sich jedoch
weniger im Reden als im Handeln der Muslime zeigt. Rodinson sieht hier eine
generelle Tendenz zur „Säkularisierung“ bzw. „Laizisierung“ des Islam. Man soll
sich so oder so verhalten, nicht weil es Gottes Wille ist, sondern weil man
Muslim ist. Prinzipielle Motivation für bestimmte Verhaltensweisen ist der
Patriotismus der Glaubensgemeinschaft. Überspitzt formuliert: Man glaubt an den
Islam, aber nicht an Allah (Gott). Die Gründe für den heutigen islamischen
Integrismus werden häufig als ein Charakteristikum des Islam innerhalb des
Islam gesucht, als eine Art Virus, der Fanatismus überträgt. Rodinson
unterscheidet zwischen rituellem oder existentiellem Integrismus, wo es um
uneingeschränkten (intégrale) Gehorsam gegenüber den Gesetzen geht, und
politischem Integrismus. Macht sich der Staat selbst den politischen
Integrismus zu eigen, kann er, wie im Iran (oder in Polen) enorme spirituelle
Kräfte mobilisieren. Hier sind die ethnisch-nationale Ideologie und die
Ideologie der religiösen Gemeinschaft fast völlig identisch. Nun kann der Staat
alle Werte mobilisieren, sowohl patriotische Gefühle als auch persönlichen
Glauben. Die politisch-religiösen Extremismen der muslimischen Welt sind jedoch
nur ein lokaler Aspekt eines universellen Phänomens.
In allen ideologischen Strukturen gibt es einen ständigen
Hang zum Integrismus, der jeder Zeit wiederbelebt werden kann. Politische
Spiritualität musste meist sehr schnell ihre weltlichen Ideale den üblichen
Gesetzen der Politik unterordnen, d.h. dem Kampf um die Macht. Der Inhalt der
Ideologie spielt dabei nicht unbedingt eine entscheidende Rolle. Die Revolte
und der Wille, eine stabile Ordnung zu schaffen, die zwangsläufig ungleich ist,
werden immer nebeneinander existieren. Ebenso wird es immer notwendig sein, das
eine oder das andere zu rechtfertigen. Sowohl der Protest gegen eine
nachteilige Situation als auch die Autorität, die sie entwaffnen und bekämpfen
will, sind immer auf der Suche nach einer legitimierenden (légitimatrice)
ideologischen Nische. Religionen, Philosophien, Sekten, Schulen, Parteien und
selbst kaum bewusste, vage Tendenzen können diesem Ziel dienlich sein. Ihre
Eignung hängt lediglich von den jeweiligen Umständen ab. Sind die ideologischen
Bewegungen erst einmal an der Macht, wird deutlich, dass sie niemals in der
Lage sind, allen Gläubigen ihre Interpretation der gemeinsamen Glaubenslehre
aufzuzwingen. Die Religionen sind nicht etwa gefährlich, weil sie den Glauben
an Gott predigen, sondern weil sie als Mittel gegen die Übel in der
Gesellschaft nur über die moralische Ermahnung verfügen. Sind sie an der Macht,
erliegen sie der Versuchung, im Namen der moralischen Reform eine Ordnung
desselben Namens aufzuerlegen.
Schon der Titel des Sammelbandes - Islam: Politik und
Glaubenslehre - macht deutlich, wo Rodinson in diesem Beziehungsgeflecht den
entscheidenden Faktor sieht: in der Eigendynamik der Politik, der die Ideale
der Religion letztlich immer geopfert werden müssen. Obwohl die Essays zum
größten Teil älteren Datums sind, sind sie es aufgrund ihres grundsätzlichen
Charakters wert, im Zusammenhang wahrgenommen zu werden.
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RIG3-France-Laizität, bearbeitet
01.09.2012
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