Montag, 17. September 2012

Jüdisches Neujahrsfest - Jom Kippur - Laubhüttenfest - Fest der Torafreude


GRUSSBOTSCHAFT DER INTERRELIGIÖSEN ARBEITSSTELLE (INTR°A)
Allen unseren jüdischen Freundinnen und Freunden
wünschen wir
MAZEL TOV
EIN GLÜCKLICHES NEUES JAHR 5773
Angesichts der beeindruckenden Festfülle der nächsten Zeit wünschen wir,
dass Ihnen aus der Symbolik von Jom Kippur, Sukkot und Simchat Tora
vertiefende Segenswirkungen erwachsen.

Toraschmuck – Jüdisches Museum Wittlich
Übrigens haben wir im INTR°A-Tagebuch für alle Interessierten einige Informationen zur Festperiode  zwischen Rosch ha-Schana und Simchat Tora zusammengestellt:
Mit herzlichen Festgrüßen auch im Namen des Vorstandes
der Interreligiösen Arbeitsstelle (INTR°A)
Karin und Reinhard Kirste

Donnerstag, 13. September 2012

Göttergeburtstage im Hinduismus: Krishna und Ganesha

Im August und September 2012 gibt es Indien und für Hindus in aller Welt zwei Feste (Pujas) von Göttern, zu denen viele gewissermaßen eine liebevolle Beziehung haben und die letztlich alle auf das eine Göttliche in seinen unterschiedlichen Ausprägungen weisen:

Krishna Jayanti – Krishna Janmashtami
- Krishnas Geburtstag - 10. August 2012
Er beginnt mit Fasten am Vortag, während der Festag mit großer Begeisterung und Freude, Theaterspielen zu den Göttergeschichten  (“Lilas”) und einer Feuerzeremonie begangen wird.
Vgl. den Beitrag von Reinhard Kirste:
Wundergeburten: Krishna – Buddha – Jesus

 
Ganesh Chaturthi -
Geburtstag des elefantenköpfigen Gottes Ganesha - 19. September 2012
Es ist eines der bekanntesten indischen Feste. Es werden u.a. Tonkrüge hergestellt, die nach 10 Tagen dem Wasser übergeben werden.
Die einzelnen Daten können schwanken, da die hinduistischen Feste nach dem Mondkalender berechnet werden.
Während Krishna-Feiern durch religiöse Hingabe geprägt sind (Krishna ist die achte Inkarnation des Gottes Vishnu), wird Ganesha, der Elefantengott oft sehr volkstümlich als Helfer gegen allerlei Widerstände verehrt.

Samstag, 1. September 2012

Integrismus, Laizität und religiöser Pluralismus in Frankreich



Silvia Bartelheimer / Reinhard Kirste

Frankreich: Der Integrismus im Streit mit der Laizität
                       Ein Beitrag zur Fundamentalismus-Debatte
           der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts

1. Frankreich: Das Spektrum der widerstreitenden Kräfte

In Frankreich findet auf vielen Ebenen eine Diskussion um die Auseinandersetzung von Religion und Moderne statt. Die Heftigkeit dieser Diskussion wird durch die Wirkungsgeschichte der französischen Aufklärung seit der französischen Revolution noch verstärkt. Denn aufgrund dieser Wirkungsgeschichte ist die Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik zu einem Kennzeichen gesellschaftspolitischen und demokratischen Fortschrittsglaubens geworden.

Wie wichtig die Bestandsaufnahme dieser Diskussion ist, zeigt die Tatsache, dass Hanna Lücke in ihrer sorgfälig angelegten Untersuchung „Islamischer Fundamentalismus“ die französischsprachigen Untersuchungen (bis auf wenige Übersetzungen ins Deutsche oder Englische) unberücksichtigt läßt. Damit fehlt ein wesentlicher Sektor der „islamischen Fundamentalismusdebatte“, insbesondere weil die Diskussion in Frankreich zwei Seiten hat: Einerseits bezieht sie sich auf die Situation in Frankreich, andererseits ist der Blick auch auf die Länder gerichtet, aus denen viele EinwanderInnen und Flüchtlinge stammen (Maghreb, Naher und Mittlerer Osten).

Um die Diskussion zu verstehen, gilt es einige zentrale Begriffe zu erläutern, die so im Deutschen nicht auftauchen oder andere Konnotationen beinhalten. Deshalb sei vorweggeschickt, wie wir die angesprochenen Begriffe verwenden wollen:

Integrismus, Fundamentalismus und Islamismus stehen für die eine Seite, Laizität und Säkularismus für die andere. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft werden die drei ersten Begriffen mehr und mehr synonym verwendet. Integrismus (intégrisme) ist ein Begriff, der ursprünglich gegen die konservative Haltung der katholische Kirche gerichtet war. Er leitet sich von intégriste ab, das auf das entsprechende spanische Wort zurückzuführen ist, das historisch Mitglieder einer spanischen Partei bezeichnete, die den Staat der Kirche unterwerfen wollte. Mit der Zeit wurde der Begriff auch auf andere Religionen wie den Islam angewandt, wo man ähnliche Tendenzen wie im Katholizismus entdeckte.

Fundamentalismus (fondamentalisme) ist im Französischen weniger geläufig (vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut Schröter). Dieser Begriff stammt aus dem Englischen und geht auf eine protestantisch-konservative Bewegung zurück, die sich im 19. Jahrhundert, vor allem in den USA konstituierte und die Wortwörtlichkeit der Bibel betonte (Biblizismus), z.B. bei der Schöpfung gegen die Evolutionstheorie.

In den beiden französischen Begriffen geht es um den Versuch, die strikte Trennung von Staat und organisierter Religion zu unterlaufen, weil die Besinnung auf sich selbst auch politisch ein ganzheitliches Konzept erfordert. Betrifft dies den Islam, so beschreibt man diese Selbstfindungs- und Abgrenzungstendenzen mit dem Begriff Islamismus (islamisme), also einen Islam, der sich  gegenüber modernen Strömungen absetzt. Dabei geht es nicht um wissenschaftliche Errungenschaften, besonders naturwissenschaftlicher Art - hier ist der Islamismus erstaunlich "modern", sondern um die Abwehr westlicher geistesgeschichtlicher Trends und Geistes-Strömungen, die besonders die Ausklammerung Gottes aus dem Denken und ein nicht-theistisches Weltbild beinhalten. Islamismus bezieht sich stärker auf die islamischen Länder. Damit lässt sich ähnlich wie mit dem Begriff Fundamentalismus die Frontstellung gegenüber den Nichtmuslimen artikulieren. Man kann den Islamismus nicht nur als eine Variante des westlichen Fundamentalismus bezeichnen. Damit würde man eine aus dem westlichen Denken kommende Begriffsstruktur einfach auf ein islamisches Phänomen übertragen. Die dennoch bestehende Gemeinsamkeit beider Begriffe liegt in der Kritik säkularer und säkularisierter Gesellschaften, also des Westens. Während fundamentalistisch-christliche Kreise jedoch oft ein erstaunlich entspanntes Verhältnis zu kapitalisti­schen Wirtschaftsstrukturen haben bis hin zu Ausbeutungsmechanismen in der sog. Dritten Welt, gibt sich der Islamismus dagegen weitgehend antikapitalistisch, allerdings unter Hochachtung des Eigen­tums und des Besitzes als Möglichkeit ökonomischen Ausgleichs gegenüber ärmeren Bevölkerungs­schichten und Völkern.

So versucht man mit einem weiteren Begriff, unsere gesellschaftliche Gegenwart weltweit zu beschreiben: Moderne und Postmoderne (zur „Moderne“ vgl. auch den Beitrag von Hartmut Schröter und zu „Postmoderne“ denjenigen von Sybille Fritsch-Oppermann).

Mit Moderne/Modernität (modernité) versuchen wir, uns auf Kennzeichen der heutigen Gesellschaften zu beziehen, die sowohl philosophisch wie soziologisch - zumindest teilweise konsensfähig sind: Die Ursprünge zur Modernitätsdiskussion in Europa müssen bis in die Renaissance, den Humanismus und die Reformation zurückverfolgt werden, als die Selbstverständlichkeit des göttlich begründeten „Naturrechts“ in die Krise geriet. Zwischen einzelnem und Gesellschaft entsteht eine Spannung, die z.B. im Streit Erasmus - Luther um den freien Willen kreiste. In der Französischen Revolution wurden nicht nur die Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit an die Spitze der Werteskala gesetzt (teilweise in Abgrenzung zu den 10 Geboten), sondern als Basis der gesellschaftlichen Neuorientierung diente die Vernunft (raison), die sich aus der kirchlichen Bevormundung befreite. Durch die im 18./19. Jahrhundert sprunghafte Entwicklung von Wissenschaft und Technik verstärkt sich die Autonomie der Vernunft, aber auch ein ständig stärker werdender Fortschrittsglaube. Allerdings gibt es erhebliche „Rückschläge“ in der demokratisch-politischen-nationalen Entwicklung. Der wirtschaftliche Aufschwung im Frühkapitalismus führt gleichzeitig zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten. Ideologisch versuchen nur die „Linkshegelianer“ und damit der Marxismus und politisch die Sozialdemokratie diesen gesellschaftlichen Verschlechterungen entgegenzusteuern. Weil die Religion (in den Kirchen organisiert) auf Seiten der herrschenden Klassen steht bzw. das Bürgertum repräsentiert, sind viele philosophische Versuche (wie z.B. bei Nietzsche) antikirchlich und antireligiös geprägt. Der weitgehende Verzicht auf „Transzendenz“ gekoppelt mit evolutionärem Denken und ausgeprägtem Fortschrittsglauben erhält die erste tiefgehende Erschütterung durch den 1. Weltkrieg. Doch bleibt säkulares Denken leitend, bis die Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus erneut die Welt an den Abgrund führen. Nach dem 2. Weltkrieg ist dann die Krise der Moderne nicht mehr wegzudiskutieren (Frankfurter Schule der 60ger Jahre).

Diese Entwicklung, allerdings mit veränderten Schwerpunktsetzung resümiert der französische Sozialwissenschaftler und Philosoph Alain Touraine: Critique de la modernité (1992), indem er den Weg von einer „vollen Modernität“ zu einer „begrenzten Modernität“ aufzeigt (Touraine, aaO 207ff, 299ff, 420f). Die Tendenzen der Säkularisation, die eben Tendenzen der Moderne sind, haben zur Entzauberung der Welt geführt (vgl. Touraine, aaO 314). So entsprechen Modernität und Säkularität einander. Die Krise der einen ist die Krise der anderen, bei der es entweder um die Instrumentalisierung der Logik oder um die Re-Etablierung von Werten geht, die sowohl um das Glück des Individuums als auch um das der Gesellschaften kreisen, deren Hoffnungen sich wieder an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit orientieren, die eine „triumphierende Modernität“ zerstörte (Touraine, aaO 430).

Laizismus (laïcisme) meint die Forderung nach einem öffentlichen und politischen Leben, das von jeglicher religiösen Bindung und Einflussnahme frei ist,. Laizität (laïcité)  als Trennung von Kirche und Staat bezeichnet die gesellschaftspolitische Realisierung dieses Ideals unter den Bedingungen eines demokratischen Staates (der Republik) und des bürgerlichen Gemeinwesens. Die meisten islamischen Länder sind in diesem Sinne keine laizistischen Staaten (ausgenommen die Türkei ihrer Geschichte und Verfassung nach).

Die angesprochenen Titel (vgl. Literaturhinweise am Schluss des Aufsatzes) bieten eine Fülle von Aspekten zu diesen Themenkomplexen. Wir haben Schwerpunkte benannt, mit denen wir versuchen, den Umfang dieser seit Jahren in Frankreich geführten Auseinandersetzung wenigstens in großen Schritten zu umschreiten.

2.  Die postkoloniale und geopolitische Situation

Durch die Einwanderung des Islam nach Frankreich, verstärkt seit den 60iger Jahren, geriet der Islam, besonders in seinen traditionellen und konservativen Formen, wie er teilweise im Maghreb verbreitet war, in das Kritikfeld politischer Aufklärung. Auf der anderen Seite zeigte sich aber auch die große Anpassungsfähigkeit und Flexibilität islamischer Strömungen im (ehemals) kolonialen Mutterland der islamischen Einwanderer.

Von dieser Debatte zeugen eine Fülle von Publikationen, von denen wir uns wichtig erscheinende ausgewählt haben. Allerdings können wir hier nicht leisten, die religiösen Hintergründe der Situation im Maghreb bzw. im Nahen und Mittleren Osten zu analysieren, obwohl die dortigen Entwicklungen unmittelbar in die europäische Situation hineinwirken und Frankreich als Mittelmeeranrainer direkt beeinflussen. Wir werden allerdings bei jenen Gesellschaftsproblemen, die auf die Interdependenz von Entwicklungen in den sog. islamischen Ländern und in Frankreich verweisen die grundsätzliche und innenpolitisch-religiöse Seite zur Sprache bringen. Die herangezogenen AutorInnen sind dabei entweder Französinnen und Franzosen, die sich beruflich oder aus (sozialem) Engagement mit diesen Phänomenen befassen, oder sie haben als EinwandererInnen teilweise selbst einen maghrebinischen oder mittelöstlichen Kulturhintergrund. Vorab seien aber einigige Texte genannt, die für die geografische, politische und geschichtlich umfassende Analyse erhebliche Orientierung geleistet haben:
Aus "Le Monde" wurden eine Reihe von Essays zusammengefaßt in Paul Balta: Islam dans le monde (1991), Bourhan Ghalioun blickt zum einen auf die malaise arabe zum anderen auf die internationalen Veränderungen: les mutations internationales. Dies hat erhebliche Folgen für die arabische Identität von der Südspitze Arabiens bis in den Norden Syriens und in den Westen bis Marokko. Albert Hourani, Historiker an der Universität Sorbonne Paris legt mit seinem Buch Die Geschichte der Arabischen Völker (deutsch:1992) den Grund, um dem Westeuropäer überhaupt ein Gefühl für die erfolg- und zerrüttungsreiche Geschichte dieser Region zu geben. Alain Brissaud ordnet die gegenwärtigen politischen Konfrontationen in die Geschichte des Islam ein, wo es immer wieder zu Überschneidungsebenen mit dem Christentum und dessen politschen Kräften kommt. Dies hält sich durch vom Auftauchen des Islam bis in heutige Begegnungen auf politischer wie auf gesellschaftlicher Ebene: Islam und Christentum. Gemeinsamkeit und Konfrontation gestern und heute (deutsch: 1993). Ausgesprochen schwierig erweist es sich dabei, Islamisches und Arabisches auseinanderzuhalten. Zwischen Panarabismus, Renaissance des Islam gerade auch in nicht-arabischen Ländern, aber auch durch die Prägespuren der kolonialen Geschichte, besonders der Frankreichs, wird die Verflechtung des arabischen Orients in die internationale Politik von Anfang an nicht nur deutlich, sondern zeigt sich als Konfliktgeschichte, wie Henry Laurens in einem ersten Schritt in Le royaume impossible. La France et la genèse du monde arabe (1990) aufweist, um in einem zweiten Schritt die Entwicklung das Mittleren Ostens und des Maghreb in Le Grand Jeu. Orient arabe et rivalités internationales (1991) vor den LeserInnen auszubreiten. Die Zeitschrift Nouvel Observateur hatte sich im Dezember 1990 (also unmittelbar vor Ausbruch des 2.Golfkrieges) viel Zeit und Platz genommen, die islamischen Drahtzieher zu porträtieren und sie in den gesamtislamischen politischen Kontext zwischen Marokko und Malaysia einzuordnen: Les maîtres de l'islam. Allerdings sieht Olivier Roy den Mißerfolg des politisch agierenden Islamismus voraus: L'échec de l'islam politique (1992).

Ein Sonderproblem klammern wir ebenfalls aus, das aber die christlich-islamischen Beziehungen von Anfang an durchzieht, nämlich die Stellung der Christen nach der Eroberung durch islamische Herrscher. Viele Veröffentlichungen zeigen, dass die Spannbreite der Behandlungsweisen islamischer Herrscher und ihrer nachgeordneten Behörden von tatsächlicher (nie formalrechtlicher) Gleichberechtigung bis hin zu Verfolgung, Folter und Mord reichen. Wobei letzteres weitgehend Ausnahmesituationen waren. Immerhin haben die für die byzantinische Orthodoxie wie die lateinische Theologie häretischen orientalischen Kirchen nur dank des islamischen Schutzes bis heute überlebt, ihr Status als dhimmi (Schutzbefohlene) war Rechtstitel und Diskriminierungsansatz zugleich. Ob man aber wie Bat Ye'or (und im Vorwort Jacques Ellul), den Dhimmi-Status angesichts des Verhaltens der christlichen Herrscher gegenüber den Muslimen (Ausnahme: Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen) auf eine so negative Schiene bringen sollte wie in Les chrétiens d'Orient entre jihâd et dhimmitude (1991), ist sehr fraglich.

Insgesamt geben diese scharfsinnigen Analysen wenig Hoffnung, dass sich der Mittlere Osten, sowie der Maghreb in der nächsten Zeit in Friedensregionen verwandeln würden (von einzelnen hoffnungsvollen Schritten wie in Palästina einmal abgesehen). So wird sich wohl auch die Vision nicht realisieren lassen, die der Journalist und Universitätsdozent Sadek Sellam: Être musulman aujourd’hui (1989) entwirft. Er knüpft an die islamische Reformbewegung von Al-Afghani und Mohammed Abduh im 19./20. Jahrhundert in Ägypten an, und zwar in der Hoffnung, dass derartige Intentionen auf der Basis eines an der Gegenwart ausgerichteten Islam auch politisch weiterhelfen können. Immerhin ist die Dekolonisation der islamischen Länder auch heute noch nicht abgeschlossen. Sie muss mithilfe des Islam geleistet werden. Für Frankreich könnte unter diesen Aspekten ein Islam Kraft gewinnen, der in fruchtbarer Spannung zur Laizität ethische Werte vertritt, die das Gespenst eines militanten islamischen Fundamentalismus schließlich ad absurdum führen. Welche Möglichkeiten hier schon (gerade intellektuell) in der Geschichte vom islamischen Spanien bis zum heutigen interkulturellen und christlich-islamischen Dialog gelegt wurden, zeigt Sellam auf in: L’islam et les musulmans en France (1987).

3.  Der Islam in Frage, der Islam als Frage

Dem folgenden Titel kommt insofern besondere Bedeutung zu, als sein Autor Professor für islamische Studien in Paris ist und aufgrund seiner Veröffentlichungen auch im westlichen Sinne als „aufgeklärter“ Muslim gelten kann. Zugleich bezeichnet er sich als „Fundamentalist“, da er auf den Fundamenten von Koran und Sunna steht. Mohammed Arkoun: Ouvertures sur l'Islam. 1989 (Eröffnungen über den Islam). Das Buch besteht aus 21 Fragen und Antworten, die sich mit Grundkenntnissen des Islam und aktuellen Fragen beschäftigen, die vor allem die muslimische Glaubenslehre betreffen. Die äußere Form ist durch die Reihe vorgegeben und zwingt den Autor zu kurzen und prägnanten Darlegungen. Arkoun wendet sich mit diesem Buch einerseits an die muslimische Öffentlichkeit: Sie muss seiner Meinung nach aus ihrer dogmatischen Enge befreit werden, in die sie durch die traditionelle Theologie und die Kampfesideologie eingeschlossen ist. Andererseits wendet er sich an die westliche Öffentlichkeit: Sie muss darauf verzichten, andere Kulturen ethnographisch zu betrachten und die westlichen Gesellschaften anthropologisch-wissenschaftlich zu verstehen suchen.

Mythos und Ideologie: Degradierung des symbolischen Kapitals
Aufgabe der Historiker ist es nach Arkoun zu zeigen, wie unterschiedliche ethno-kulturelle Gruppen aus einem gemeinsamen Bestand an Zeichen und Symbolen geschöpft haben, um Systeme des Glaubens oder Unglaubens zu schaffen, die zur Legitimation von Macht gedient haben. Daher fordert Arkoun, die Sinnfrage nicht länger aus der Sicht einer unbeweglichen Transzendenz zu stellen, einer Ontologie, die vor jeglicher Historizität geschützt wäre. Stattdessen sollte sie im Lichte der historischen Kräfte betrachtet werden, die selbst die heiligsten Werte in symbolisches Kapital verwandeln, das man nicht von den mythischen Gründungserzählungen trennen kann, wo jede ethno-kulturelle Gruppe ihre Identität oder Personalität zusammenfasst. In den Offenbarungsreligionen wurde das symbolische Kapital zu Gesetzen, mechanischen Ritualen, scholastischen Lehren und Ideologien der Herrschaft degradiert.

Sakralisierung und Transzendentalisierung
Seit dem Tod des Propheten, vor allem aber mit der Gründung eines islamischen Staates, fand die Verbindung von politischem Handeln und Kreativität der Symbolik ihr Ende. Die Verstaatlichung des Islam bedingt die Ausarbeitung eines Rechtskodes, der die Bedeutung eines religiösen Gesetzes (Scharia) hat. Wenn hier das Religiöse dem Politischen untergeordnet wird, so ist dies nicht gleichzusetzen mit der Verschmelzung von Spirituellem und Zeitbedingtem, die man heute am Islam kritisiert. Will man die Frage nach Islam und Laizität oder Säkularisierung stellen, ist es wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass diese Gesetze, staatlichen Institutionen, die Person und Funktion des Kalifen erst nachträglich sakralisiert und transzendentalisiert worden sind.

Die säkularen Revolutionen haben die Hierarchien und Ungleichheiten, die mit Hilfe der Macht der Sakralisierung entstanden sind, aufgehoben. Diese Macht wurde von den Theologen ausgeübt, die Vorgaben, als autorisierte Interpreten der Offenbarung zu handeln. Die Revolutionen enthüllen so eine verborgene Funktion des Heiligen: den permanenten Übergang von der Transzendenz, die das Unendliche des Sinns eröffnet, zur Transzendentalisierung, die den Sinn in Lehren, politischen Ordnungen und Rechts-Kodices fixiert. In einem Kontext, der von den religiösen Traditionen befreit ist, wird das republikanische Frankreich mit Hilfe der Rekonstruktion eines nationalen laizistischen Bildes (imaginaire) von neuem sakralisiert.

Die Nationalismen des 19./20. Jh. haben den Bruch mit dem früheren Heiligen und die Einsetzung eines laizistischen, republikanischen Heiligen mit dem entsprechenden Bild zu einem generellen Phänomen gemacht. Arkoun wehrt sich dagegen, die Beziehung von Religion und Laizität, von Spirituellem und Zeitlichem auf Fragen der rechtlichen Trennung dieser Instanzen oder auf die Unterscheidung von Theologie und Philosophie oder von Mythos und Geschichte zu reduzieren.

Arkoun möchte die Bedeutung der modernen Trennung von legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt für den sozialen Frieden und den Respekt vor den Menschenrechten nicht schmälern. Aber diese Gewalten verweisen auf tiefer gehende Fragen, die all unserem politischen, rechtlichen und religiösen Reden zugrunde liegen: die Frage nach dem Sein, nach Werten, dem Heiligen, nach Transzendenz, Liebe, Gerechtigkeit, der Wunsch nach Unsterblichkeit.

Spirituelle Autorität und politische Macht
Arkoun unterscheidet zwischen der spirituellen Autorität Gottes und politischer Macht. Er greift den Begriff der „Sinnschuld“ (dette de sens) von Marcel Gauchet auf, einer moralischen Verpflichtung im Rahmen des Bundes zwischen Gott und Mensch in den Offenbarungsreligionen. Nur die Macht, die im Rahmen dieses Bundes ausgeübt wird, ist legitim. Das Aufkommen einer spirituellen laizistischen Macht mit dem Bürgertum hat die Funktion der Sinnschuld dem allgemeinen Wahlrecht übertragen. Arkoun spricht von einem „neuen Bund“, der auf das allgemeine Wahlrecht gegründet ist und die säkularisierte Kirche zur Folge hatte. Mit dem Ende des traditionellen Religiösen kamen die säkularen Religionen (Raymond Aron) auf. Die Demokratien funktionieren wie Religionen (allerdings ohne den Zusammenhang von Sinn und Schuld) mit Führern, die nach Taktiken und Strategien suchen, die Macht zu erlangen und auszuüben und weniger um “légalité“ als um  „légitimité“ bemüht sind. Nun wird es darum gehen, so meint Arkoun, dass Kirche und Staat nach neuen Vereinbarungen, nach einer neuen Laizität suchen, die eine neue Spiritualität ermöglichen. Hier liegt übrigens ein Ansatzpunkt von islamischer Seite, die eine Reihe von „gemäßigten“ Laizisten (wie z.B. Olivier Carré, s.u.) aufgegriffen haben.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges glaubte man in der muslimischen Welt, es würde reichen, die „Rezepte“ des Westens auf die muslimischen Länder zu übertragen, die den Erfolg der westlichen Zivilisation ermöglicht haben. Kritiklos übernahm man daher die Laizität, wie es die radikale Neutralität Atatürks gegenüber der Religion zeigt. Doch eine Entwicklung der muslimischen Welt hin zu einem laizistischen und demokratischen Pluralismus musste scheitern. Die Rolle der Symbole im Kontext einer mündlichen, mythischen Kultur unterscheidet sich wesentlich von der im logozentrischen System einer Schriftkultur, eingesperrt in den Grenzen der Historizität. Die Symbole werden hier zu schlichten Zeichen, an denen sich die „Modernen“ und die „Konservativen“ erkennen.

Arkoun unterscheidet zwischen „pensée laïque“, einer offenen, kritischen Haltung, die Verantwortung wahrnimmt und die Freiheit der Selbstbestimmung anderer anerkennt, und „pensée laïciste“, die unter dem Vorwand der Neutralität jeglichen wissenschaftlichen Unterricht über die Geschichte der Religionen als permanente und universelle Dimension der menschlichen Gesellschaften aus der staatlichen Schule verbannt. Mit dieser Wertung wendet sich Arkoun gegen einen positivistischen und szientistischen Rationalismus.

Arkoun ruft dazu auf, auf zwei historische Brüche zu reagieren: den Bruch des „orthodoxen“ islamischen Denkens mit der Philosophie und den Bruch des westlichen Denkens mit dem religiösen Denken aufgrund dessen semitisch-orientalischer Wurzeln. Der Islam und der Westen scheinen zwei entgegengesetzte Pole zu sein. Arkoun weist daraufhin, dass sie denselben philosophisch-religiösen Ursprung haben.

Wie brisant das Verhältnis Religion und Politik ist, zeigt sich nur zum Teil in den Begegnungen und Auseinandersetzungen mit islamischer Kultur und der weitgehend aus dem Christentum herausgewachsenen dominanten Geschichte Europas. Gerade arabische Intellektuelle und Vordenker stellen uns mit ihren Fragen in Frage, wie der Sammelband von Luc Barbulesco / Philippe Cardinal: L'islam en question (1986) eindrucksvoll dokumentiert. Als Ausbilder von Grundschullehrern in Marseille ist Barbulesco nicht nur direkt mit dem Islam an Frankreichs Schulen befasst. Als Spezialist für klassische Literatur hat er sich vielmehr mit einem Orientalisten zusammengetan, der ebenfalls als Schriftsteller arbeitet: Philippe Cardinal. Es entsteht ein Fragebuch, in dem die Antworten 24 arabischer Schriftsteller zusammengefasst sind: Der Islam in Frage, Fragen an den Islam. Überwiegend Muslime, aber auch Christen, Alte und Junge, Orthodoxe und Säkularisierte. Sie geben sich hier ein Stelldichein der Dichter und Philosophen aus dem Mittleren Osten bis hin zur alten islamischen Westgrenze in Marokko. So vereint dieses 1986 herausgekommene Buch die unterschiedlichsten Positionen (wen wundert's). Immerhin gehören auch so bekannte Autoren dazu wie der ägyptische Nobelpreisträger Naguib Mahfous und der in Paris lehrende islamische Theologe Mohammed Arkoun. Allein die Galerie der Lebensläufe bringt die unterschiedlichsten Facetten eines lebendigen Orients zum Leuchten, allerdings nicht des Orients von 1001 Nacht, sondern eines Orients, der nach seiner (alten oder neuen) Identität sucht und dies tun muss unter den Folgewirkungen von Kolonialismus, Industrialisierung, mittelalterlich anmutender Landwirtschaft, eines Orients, der nicht immer exakt zwischen Gefängnis, Moschee, Basar und Familie festzulegen ist.

In gewisser Weise auf die versöhnenden Kräfte der Religionen verweisend fällt in diesem Kontext das Buch von Mohammed Talbi und Olivier Clément auf (1989): Un respect têtu (ein starrköpfiger Respekt). Wir begegnen hier einem ehrlichen Dialogsucher und Dialogversucher, der entdeckt hat, dass Christen und Muslime einander ergänzende Traditionen haben. Durch eine so erweiterte Identität von Christen und Muslimen würden der oft beschworene Fundamentalismus und der sich verhärtende Integrismus weitaus geringere Chancen haben. Ob ein solcher Respekt angesichts der wachsenden politischen und sozialen Spannungen Chancen hat? Respekt und Achtung müssen beim anderen gewahrt bleiben, mag man ihn bei den Pflegern der Vorurteile auch starrköpfig schimpfen.

4.  Der gute und der böse Islam

Durch sein Buch Die Rache Gottes ist auch Gilles Kepel in Deutschland bekannt geworden (deutsch 1991). Als Professor am Nationalen Institut für vergleichende Studien in Paris geht er auf die Gefahr eines sich rückwärts orientierenden Islam ein. Positiv könnte man das ja als einen Rückbezug auf die Ursprünge und Quellen der eigenen Religion sehen, die in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Kulturen gewinnt. Am spannendsten dürfte in diesem Kontext Ägypten sein. Darum hat Kepel sein 1984 erschienenes Buch Le Prohète et le Pharaon nicht nur neu herausgebracht (1993), sondern hat in der aktualisierten Fassung mit neuem Nachwort  stärker die Quellen der islamistischen Bewegungen in Nordafrika und im Mittleren Osten analysiert. Dabei sieht er scharf darauf, wie bestimme Koraninterpretationen politische Militanz begünstigen. Als Politologe ist sein Urteil über die politische Ausrichtung des islamischen Fundamentalismus vernichtend. Er bezieht allerdings auch andere religiöse Fundamentalismen in dieses Urteil ein, besonders in Die Rache Gottes. Die radikalen Muslime, Christen und Juden sind auf dem Vormarsch, wie es provozierend im Untertitel heißt. Die Fundamentalisten aller Couleur bereiten sich zumindest geistig auf die Weltherrschaft vor. Die Detailanalyse in einzelnen Ländern bestätigt dies seiner Meinung nach, aber auch der Blick in die Vorstädte Frankreichs, in denen sich die maghrebinischen Einwanderer konzentrieren: Les banlieus de l'islam (1987). Allerdings beschränkt sich diese wachsende fundamentalistische Bewegung nicht auf die Armen und Entrechteten im Heimatland oder in der Migration, sondern auch auf Intellektuelle. Diese sind oft intime Kenner des Westens, denn sie haben an französischen Universitäten studiert und sich häufig in den Bereichen Naturwissenschaften, Technologie, Wirtschaft o.ä. graduiert. Gerade sie werden nach der Rückkehr ins Heimatland nicht selten zu Chefideologen eines radikalisierten und militanten Islamismus. Wir haben hier also eine Steigerung von radikal über integristisch/islamistisch bis hin zu militant und terroristisch. Dies alles sind Facetten des zeitgenössischen Islams, dessen Denkströmungen durchweg in Frankreich inzwischen zu Hause sind. Auch hier gibt es genügend  Leute, die nie und nimmer bereit sind, sich auf das Gebilde eines demokratisch-laizistischen Staates einzulassen.

Angesichts dieses Rundumschlags wirkt Annie Krieger-Krynicki wesentlich zurückhaltender, dafür aber ausgesprochen solide in den Grundinformationen. Ihre Schilderung der musulmans en France (1985) beschreibt durchaus parallel zu Kepels banlieus de l'islam, welche Umbrüche in der französischen Gesellschaft zu erwarten sind und dass diese keineswegs immer friedlich ablaufen werden. Aber die Angst vor der islamischen Weltherrschaft ist ihr fremd.

Roger Garaudy ist Professor für Philosophie und hat zahlreiche Werke über den Marxismus, das Christentum und den Islam veröffentlicht. Als der ehemalige Kommunist, einer der führenden Intellektuellen Frankreichs, vom Christentum zum Islam konvertierte, hat dies die Gemüter erheblich bewegt. Es fällt auf, dass eine kritische Zustimmung zu allem, was Islam heißt, einer sorgfältigen Beobachtung und Analyse gewichen ist. Verständlich, dass in diesem Zusammenhang das islamisch-jüdisch-christliche Córdoba vor der "Reconquista" interpretatorischen Stellenwert gewinnt für ein heutiges Verständnis des Islam: L'islam en occident. Das ist eine erhebliche Kurskorrektur gegenüber seinen promesses de l'islam von 1981 (Deutsch: Verheißung Islam, 1989). Das wird nicht nur in den intégrismes deutlich, sondern noch mehr in seinem neuesten Buch: Avons-nous besoin de Dieu?(1993), das sich in erster Linie auf den christlichen bzw. katholischen Integrismus als „Vater“ aller anderen Integrismen unserer Zeit bezieht. Erstaunlichweise wird seine Konversion hier mit keiner Silbe erwähnt.

Die Mythen vom Fortschritt, von der Sinnlosigkeit und von der technischen Machbarkeit
Brauchen wir Gott? Warum stellen wir diese Frage heutzutage? Garaudy sieht den Grund dafür in einer Entwicklung, die er mit drei aufeinanderfolgenden Mythen beschreibt:
Mit der Renaissance entstand im 16. Jh. der Mythos des Fortschritts. Der Mensch träumte davon, anstelle Gottes über die Welt zu herrschen. Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik wollte er die Natur, die Menschheit, kurz den ganzen Planeten beherrschen. Dahinter stand der Wunsch nach Macht, Fülle und Wachstum. Das Grundprinzip dieses Fortschrittsglaubens lautet: Wenn jeder sein persönliches Interesse verfolgt, so ist das im Interesse aller. Dagegen hält Marx seine zentrale These, dass der Kapitalismus zwar Reichtum und technischen Fortschritt bringt, doch damit auch Ungleichheiten  schafft, bestimmte Gruppen ausschließt und so zu Gewalt führt. Der Mensch wird zu einem Tier, dass seiner Innerlichkeit und Transzendenz beraubt ist. Die Ablehnung dieses Totalitarismus zeigt sich im intellektuellen Bereich zum einen in der illusorischen Rückkehr zu mittelalterlichen Integrismen, die eine moralische Aufrüstung fordern, zum anderen im Atheismus in den individualistischen Philosophien des Absurden. In der Beziehung zwischen dem Starken und dem Schwachen wirkt die Freiheit unterdrückend und das Gesetz befreiend.

Mitte des 20. Jahrhunderts entsteht mit der Philosophie des Absurden der Mythos von der Sinnlosigkeit. Als die Welt schließlich zu komplex erscheint, als dass der Mensch sie steuern könnte, wird er vom Mythos der technischen Machbarkeit (ordinanthrope) abgelöst. Jetzt wendet sich der Mensch an den Computer, um seine Probleme zu lösen. Die Realität wird auf das reduziert, was mit Hilfe von Maschinen vermittelt werden kann. So entsteht eine perverse Vorstellung von Kommunikation: Alle Informationen müssen durch die Logik und Technik von Maschinen übermittelt werden können. Dieser „informatische Totalitarismus“ der Kommunikation schließt die eigentlich menschlichen Dimensionen wie Kunst, Liebe, persönliche Begegnung und die Wahl des Sinns und der Lebensziele aus. Irdische Hoffnung findet man nach fünf Jahrhunderten westlicher Süffisanz, die dem Dialog und der Transzendenz entgegensteht, im sozialen Bereich bei den Arbeiterpriestern, in der Theologie der Hoffnung von Jürgen Moltmann und den politischen Befreiungstheologien. Doch zunächst zeichnet sich eine Restauration auf zwei Ebenen ab: die Restauration des in Liberalismus umbenannten Kapitalismus und die „Restauration“ einer Theologie der Herrschaft. Nachdem die Menschen nun erkannt haben, dass Maschinen nicht auf ihre Fragen nach dem Ziel und Sinn ihres Lebens antworten können, stellt sich ihnen heute die Frage: Brauchen wir Gott? Was für einen Gott?

Der priesterliche und der merkantile Lebensstil
Die westlichen Politiker halten ihr Gesellschaftsmodell für das einzig mögliche. Der ökonomische Kolonialismus praktiziert Barbarei und nennt dies Zivilisation. Immer schon hat der Westen seine Massaker als Siege der Zivilisation über die Barbarei ausgegeben. Damals rechtfertigte man die Eroberungen als „Evangelisation“. Nach dem Rückgang des Religiösen in Europa brachten die höheren Rassen den primitiven die Modernität. Das Recht des Stärkeren erhält Rechtskraft (force du droit). Der neue Kolonialismus nennt sich Recht der humanitären Einmischung (droit d’ingérence humanitaire). Garaudy spricht von einer „heiligen Allianz“ von Marktwirtschaft und Informationstechnik, die beide auf derselben reduktiven und quantifizierenden Konzeption des Menschen und seiner Zukunft beruhen. Es stellt sich für ihn die Wahl zwischen einem merkantilen und einem priesterlichen Lebensstil: Will ich möglichst viel Besitz oder Macht anhäufen oder mich entgegen dem heutigen Individualismus als Mitglied einer universellen Gemeinschaft verstehen? Dann wäre ich allerdings dazu verpflichtet, zur Entfaltung aller anderen beizutragen. Garaudy ist davon überzeugt, dass nur die Entscheidung für den priesterlichen Lebensstil in allen Lebensbereichen unserem Leben wieder einen Sinn geben kann.

Alle Religionen scheinen rückwärts in die Zukunft zu gehen, indem sie auf die Vergangenheit schauen. Sie setzen den Glauben mit einer Kultur oder Institution gleich, die dieser zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommen hat. Hier zeigt sich Garaudys Verständnis von Integrismus, der Verbote und Gewalttaten mit sich bringt, von Jerusalem bis Mekka und von Rom bis Ayodhya in Indien (Niederbrennung der dortigen Moschee durch fanatische Hindus). Die vorherrschende Religion der Herrschenden, das Christentum, geht zurück: Die Zahl der Priester und Gläubigen nimmt ab. Die Botschaft der Kirche antwortet nicht mehr auf die Fragen, Ängste und Hoffnungen der Völker. Garaudy sieht den Grund dafür in der christlichen Theologie der Herrschaft, die er auf Paulus zurückführt. Zwei Jahrtausende lang wurde das Christentum ausgehend von der Erfahrung einer kleinen Gruppe aus als Mischung eines von Paulus reformierten Judentums, der griechischen Philosophie und der römischen Staatsphilosophie formuliert. Diese drei Traditionen, die jüdische, die griechische und die römische, sind den vier Fünfteln der Welt fremd, in die sie durch Kolonialismus importiert wurden.

Die Theologie braucht eine kopernikanische Wende (vgl. John Hick, den Garaudy wohl nicht kennt), durch die der Glaube aufhören würde, um die kleine jüdisch-christliche Welt zu kreisen, und den Anspruch zu erheben, den Rest des Universums ideologisch zu kolonialisieren. Garaudy fordert, die Botschaft Jesu vom Reich Gottes in einer universellen Perspektive aus der Sicht anderer Weisheiten zu lesen und zu leben, wie der des Orients, des Tao oder der Upanishaden. Will man die universellen Werte des Christentums retten, muss die westliche Kultur relativiert werden. Garaudy führt Befreiungstheologen an, um zu zeigen, dass das Christentum keine westliche Religion ist, sondern eine Religion, die der Westen monopolisiert hat. Er hat ihm seine Philosophie, sein Recht und seine Kultur als Markenzeichen aufgedrückt (Père Hegba, ein Jesuit aus Kamerun). Er zitiert ebenso Père Osama, der die Rolle der afrikanischen Religionen mit der vorbereitenden Funktion des Alten Testaments auf die Ankunft Jesu vergleicht. Wollen sich die Christen auf die Ankunft des totalen Menschen vorbereiten, müssen sie sich den Beiträgen bzw. Anteilen der Kulturen und dem Glauben aller Völker öffnen.

Ist ein Nord-Süd-Dialog möglich? Die Bedeutung der Scharia
Garaudy führt recht pauschal alle Integrismen auf den Integrismus des Westens zurück. Mit seinem Anspruch, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, glaubte er, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu haben, sie allen anderen aufzuzwingen. Heute wird die Herrschaft unter anderen Vorzeichen fortgesetzt: : Einst hieß es „eine Kirche, ein Gott, ein König“. Heute heißt es „eine Kultur, eine Technik, eine Weltodnung“. Außerhalb der Kirche kein Heil! Außerhalb des Westens keine Zivilisation! Immer steht dahinter: Außerhalb meiner Wahrheit Irrtum! Ein auserwähltes Volk: das hebräische, das christliche, das westliche. Dieser Anspruch hat eine militärische, ökonomische und spirituelle (Missionen) Invasion zur Folge. Er wird so zur Mutter der anderen Integrismen in der Welt. Nach Garaudy kann es kein auserwähltes Volk geben, dessen Mittlerschaft nötig wäre, um Gott zu begegnen.

Um endlich mit dem Ethnozentrismus Schluss zu machen, ruft Garaudy dazu auf, Glaube und Religion nicht zu vermischen.

Religion ist für ihn der Ausdruck des Glaubens über eine Kultur. Unter Kultur versteht er die Gesamtheit der Beziehungen, die der Einzelne oder eine Gemeinschaft mit der Natur, den Menschen und dem Göttlichen unterhält. Die kolonialisierten Länder verhalten sich nun so, als gäbe es nur die Alternative zwischen der Imitation des Westens oder der Vergangenheit. Als eines der deutlichsten Zeugnisse für die Größe des Korans führt Garaudy die Verbindung von Transzendenz und Geschichte, von Religion und Politik an, die Verbindung von Scharia, dem Wort Gottes, den ewigen Prinzipien, in denen es um die Beziehung mit Gott geht (Gott allein besitzt, befiehlt, weiß). Hinzu kommt fiqh, das menschliche Recht, spezielle Gesetze, durch die die Menschen, ausgehend von den ewigen Prinzipien, jeweils ihre sozialen Beziehungen organisieren. Von 6000 Versen im Koran geht es lediglich in 200 um Rechtsfragen. Die religiöse und moralische Orientierung von absoluter, ewiger und universeller Bedeutung mit Gesetzgebungen zu vermischen, die in jeder Gesellschaft und in jeder Epoche unterschiedlich sind, würde in den Augen Garaudys eine Judaisierung des Islam bedeuten. Die Scharia gibt die transzendenten Ziele vor. Das „Programm“ oder die „Methode“ ermöglichen lediglich, die transzendenten Werte jederzeit einfließen zu lassen.

Es steht in unserer Verantwortung, in jedem Moment, die historischen Mittel zu finden, um die transzendenten Ziele zu realisieren. Die Gemeinde von Medina ist ein Beispiel dafür. Diese klare Unterscheidung des Koran schließt jeglichen Literalismus aus. Die Verse, in denen es um Rechtsprechung geht, müssen historisch gelesen werden. Ein Dialog des Glaubens ist nur zwischen Menschen möglich, die ihren Glauben nicht als Antwort, sondern als Frage leben. Wenn Gott transzendent ist, hat kein Mensch, keine Gemeinschaft das Recht, Gott in ihre Definitionen, Riten und Dogmen einzuschließen. Eine derartige „Süffisanz“ ist das Gegenteil von „Transzendenz“. Ein Dialog des Glaubens ist nur möglich, wenn wir uns dessen bewusst sind, was uns fehlt, wenn wir von dem ausgehen, was unserem Glauben fehlt, um die Fülle, das Unendliche und das Ganze zu erlangen. Die Vielfältigkeit und Relativität der Erfahrungen mit dem Sinn des Lebens und dem Einen, die Übersetzungen dieser Erfahrungen in eine bestimmte Kultur, Geschichte und Zivilisation schließt die Absolutheit und Einzigartigkeit Gottes nicht aus.

Es bleibt eine Grundspannung von Religionen und Menschenrechten. Dieser könnte man anhand vieler Veröffentlichungen im französischsprachigen Raum (einschließlich Belgien und der Schweiz) gesondert nachgehen. Mohammed-Chérif Ferjani hat mit seinem Buch l'islamisme, laïcité et droits de l'homme (1991) ein eindrückliches Beispiel gegeben. François Rigaux hat mit einer Reihe weiterer Autoren die Rechtslage ausgesprochen gründlich durchforstet, so dass Klischees und Vorurteile auf alle Fälle hieran - gewissermaßen als einem Standardwerk - zu prüfen wären. Auch manchen deutschen "Islamexperten" täte die Lektüre dieses Buches gut: Le statut personnel des musulmans. Droit comparé et droit international privé (Louvain/Brüssel 1992). Wir aber beschränken uns allerdings auf die Folgen für den Laizismus angesichts  der Herausforderung durch den islamischen Integrismus, der ebenfalls sehr einseitig bestimmte Rechtsvorschriften interpretiert.

Jean-Claude Barreau: De l’islam en général et du monde moderne en particulier (1991):
Er gehört zu den Autoren, die sich durch viele Reisen in muslimische Länder einen umfassenden Überblick verschafft haben. Zunächst war er Theologe, dann Verleger, von 1982-84  Leiter der „coopération française“ in Algerien. Heute ist Barreau Generalinspektor des Bildungsministeriums (inspecteur général de l’Education nationale) und Präsident für internationale Migrationen (OMI: Office des migrations internationales) und des Institutes für demographische Studien (INED: Institut national d’études démographiques).

Araber werden im Westen häufig Opfer von Fremdenfeindlichkeit. Dennoch wird der Islam als Religion meist überschätzt. Die westliche Wissenschaft hat ihn bisher kaum einer Kritik unterzogen. Nun gilt es jedoch, mit der von den Orientalisten propagierten Goldenen Legende Schluß zu machen, die den Islam als eine fortschrittliche, tolerante, pazifistische und kulturfördernde Religion rühmt und die integristischen Abweichungen herunterspielt. So das einleitende Kapitel von Barreau.

              Sein Verständnis des Islam beschreibt er dann folgendermaßen:
1.           Der Islam ist eine unzeitgemäße Religion (religion décalée). Kulturell und psychologisch ist er älter als die beiden anderen monotheistischen Religionen. Mohammed erscheint in diesem Zusammenhang als Zeitgenosse Abrahams. Aufgrund dieser „Primitivität“, dieses ursprünglichen Archaismus, verstärkt durch die Starrheit seiner Theologie, hat der Islam oft eine Regression bewirkt.
2.           Der Islam ist eine vertikale Religion, eine Religion der Transzendenz, die keine Vermittler zwischen Gott und Mensch kennt. Obwohl Allah dem wahren Glaubenden nahe ist, bleibt er für viele das Überich Siegmund Freuds.
3.           Der Islam ist eine politische Religion. Mohammed war vor allem ein Gesetzgeber, ein Staatschef und Kriegsführer. Sein Erfolg beruht auf dem militärischen Sieg über Mekka, dem Heiligen Krieg. Entgegen der Legende können jedoch nur das Verbot des Mädchenmordes und der Erbteil der Frauen als fortschrittlich gelten.
4.           Der Islam ist eine konformistische Religion. Der Gläubige muss sich nach den Geboten eines souveränen Gottes richten. Ein Prophet hat sie verkündet, durch die Sunna wurden sie interpretiert und durch die Scharia zum Gesetz erklärt. Seit dem 9. Jh. wurden sie dann nicht mehr verändert. Die Forderung einer reinen Reproduktion ohne Initiative des Individuums birgt die Gefahr in sich, die Glaubenspraxis auf einen allgemeinen Konformismus zu redu­zieren. So scheint das Verbot, Schweinefleisch zu essen, im Zeitalter der Gefriertruhen völlig absurd. Der Islam verschließt damit die Augen vor der Notwendigkeit, organische Abfälle im Blick auf das Gleichgewicht einer modernen Landwirtschaft wiederzuverwerten.
5.           Der Islam ist eine autodidaktische Religion, ohne wirkliche Beziehung zu den beiden monotheistischen Religionen, von denen lediglich Bruchstücke in den Koran integriert wurden.
6.           Der Islam ist geographisch und historisch eine große Religion.

Die Folgen der Ablehnung der Moderne
Religionen, die die Moderne ablehnen, laufen Gefahr, entweder ausgelöscht zu werden oder in gewalttätige Opposition, Fanatismus oder Integrismus zu verfallen. Letzteres umschreibt das aktuelle Stadium der Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen. Die Werte der Moderne (Dynamis­mus, Wandel, kritischer Geist und Kult des Individuums) sind unvereinbar mit den Werten des Islam. Nie war die Kluft zwischen dem Islam und dem Westen ökonomisch und militärisch so groß wie heute. Die industrielle Welt wird den Islam besiegen, wenn die moderne Welt nicht aus Mangel an Werten des Lebens (Verlust des Geheimnisses des inneren Friedens/ Verdrängung des Todes) ihre Kraft verliert.

Die Schwierigkeiten des Islam mit der Moderne wirken sich nach Barreau vor allem in folgenden fünf Bereichen aus:
1.           Staat: Utopie und Ideal des islamischen Staates ist der Staat von Medina. Daher unterscheidet der Koran nicht zwischen Zeitlichem und Spirituellem. Die politische Macht wird soweit sakralisiert, dass Priesteramt und politische Herrschaft zusammenfallen. Nicht-Muslime werden toleriert, können jedoch nie volle Staatsbürger in einem muslimischen Staat sein.
2.           Religion: Den muslimischen Theologen gelang es im Gegensatz zu den christlichen Humanisten nicht, die Forderungen des Glaubens mit denen der modernen Wissenschaft zu vereinbaren. Der Islam ist konservativ. Es ist alles gesagt. Es bleibt lediglich die Aufgabe, sich anzupassen (se conformer) und zu wiederholen. Man träumt davon, den Ruhm der Kalifen wieder herzustellen.
3.           Menschenrechte: Ihnen wird das islamische Recht, die Unterwerfung unter Gott entgegengehalten. Subversiv ist der Islam nicht.
4.           Arbeit: Der militärische Erfolg der Muslime beruhte auf der zufälligen Verbindung der Städter und Nomaden Arabiens unter der Leitung der ersteren. Daher schätzt der Koran das Handelsgewerbe, verachtet jedoch die Landwirtschaft. Industrie setzt nun aber die Fähigkeit zu Veränderungen und eine bestimmte psychologische Beziehung zur Arbeit voraus. Muslime sind bisher reine Konsumenten der Waren der industriellen Welt. Bis auf einige Ausnahmen haben sie noch nicht begonnen, solche zu erfinden und zu fabrizieren.
5.           Frau: Die Rolle der Frau ist auf den privaten Bereich beschränkt, da die Sexualität der Frau als eine Gefahr für die soziale Ordnung betrachtet wird. Ohne den Unterschied der Geschlechter ist die soziale Dynamik jedoch weniger stark.

Islam und Republik
Kann der Islam sich erneuern, ohne seine Seele zu verlieren? Kann er sich öffnen? Politiker wie Nasser, die den Staat modernisieren, nicht aber die Religion, scheitern. Hierbei spielen die Gründungstexte eine entscheidende Rolle. Am Beispiel der Republik Indonesien sucht Barreau zu beweisen, dass neue Interpretationen des Koran theologisch möglich sind, auch wenn es solche lange Zeit nicht gegeben hat. Hier am Indischen Ozean wurde die Botschaft des Propheten zum ersten Mal friedlich verbreitet. Die Interpretation der Scharia scheint weniger streng. Industrie und Modernisierung befinden sich in vollem Aufschwung. Warum sollte der Islam das, was er hier unter dem Zwang des Meeres geschafft hat, nicht noch einmal unter dem Druck der Moderne schaffen?

Eine Neuinterpretation des Koran ist für die Entwicklung der muslimischen Länder notwendig. Denn sie müssen sich von den Integrismen befreien, die in Wirklichkeit Anzeichen für das Sterben des Islam sind, Erstarrung, Todesstarre. Eine wirklich lebendige Religion verändert sich. Sie paßt sich an. Die Erneuerung ist in erster Linie Sache der Muslime selbst. Die ersten drei Schritte in diese Richtung müssten folgende sein:
  1. Es gilt, der Realität ins Gesicht zu sehen (militärische Niederlage / ökonomischer Zusammenbruch / unzureichende Demokratie)
  2. Der Respekt vor der Arbeit muss gesichert werden (insbesondere in Landwirtschaft, Industrie und wissenschaftlicher Forschung)
  3. Der Frau muss endlich ein neuer Status zugestanden werden – im Sinne der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung.

Die Immigration könnte diese Entwicklung noch beschleunigen. Millionen von Muslimen leben in der westlichen Welt, insbesondere im Gebiet der französischen Republik, einem laizistischen Staat mit universalistischer Staatsbürgerschaft. Ihre Integration könnte eine Chance für ein Frankreich mit einer geringen Bevölkerungsdichte sein. Umgekehrt kann Frankreich aber auch eine Chance für den Islam sein (vgl. Kaltenbach). Denn die Muslime in Frankreich sind gezwungen, die republikanischen Gesetze zu respektieren und infolgedessen die islamischen Gesetze neu zu interpretieren.

Barreau führt drei Möglichkeiten an, wie Frankreich die Erneuerung des Islam unterstützen kann: Aufgrund der besonderen Situation des Konkordats in Elsass-Lothringen könnte man in Straßburg eine Fakultät für moderne Theologie gründen, die eine progressistische muslimische Theologie ins Leben rufen könnte. Zudem könnte man arabische und muslimische Studiengänge an den großen Universitäten des Midi – Montpellier und Aix en Provence – einführen, die zur Zeit das Monopol eines kleinen Kreises von Orientalisten sind. In diese Richtung geht auch die Einrichtung eines repräsentativen Islamrates in Frankreich.

5.  Die Stellung der Frau

Zu einer weiteren wichtigen Problematik, der Stellung der Frau, finden wir in anderen Publikationen eine Fülle wichtiger Aussagen. Der Blick soll hier nur so gelenkt werden, dass die Stellung der Frau im Kontext eines durch die westliche Moderne herausgeforderten und manchmal auch in die Ecke gedrängten Islam aufscheint. Die meisten Autorinnen gehen auf den Maghreb ein, sie kommen auch oft daher, haben also unmittelbare Erfahrungen, die sie in ihren Büchern verarbeiten. Die dort aufgezeigten Probleme blieben jedoch nicht in Nordafrika, die Einwanderinnen haben sie auf die andere Seite des Mittelmeeres gebracht. Marseille ist geradezu zum Symbol solcher Spannungen geworden, die sich in Wandsprüchen, Gewalttaten, Straßenschlachten, aber auch in den Seelen der einzelnen zuweilen regelrecht austoben.

Beide Seiten des Mittelmeers haben damit vergleichbare Situationen und Konflikte. Darum werden die teilweise arabisch schreibenden Autorinnen schnell ins Französische übersetzt. Einige sind jedoch des Französischen fließend mächtig. Wie vielfältig und wie stark die Situation in Bewegung geraten ist, zeigt ein Dossier der Zeitschrift Qantara (No.10, Jan. – März 1994, S.18-41), die vom Institut du Monde Arabe (IMA) in Paris herausgegeben wird. Dort wird nicht nur über die maghrebinische Frauenbewegung berichtet, dort erfährt man auch, dass schon Ende des vorigen Jahrhunderts Frauen aus Ägypten und dem Nahen Osten den Aufbruch und den Ausbruch aus einer durch Männer dominierten Gesellschaft versuchten, Frauenzeitschriften gründeten, auch ihren Zorn sprachlich und künstlerisch zum Ausdruck brachten und bringen. Wer weiß schon etwas über das Thema „Frau“ in arabischen Filmen oder in der Musik? Nur wenige Schriftstellerinnen sind auch hierzulande bekannt geworden. Seit 1989 findet unter der Ägide der UNESCO jedes Jahr in Fes ein Frauenfestival statt. Namen wie Hoda Charaoui, Nawal Saadawi, Jocelyne Saab, Randa Chahhal, Malika Mokkedem, Andrée Chédid, Cheikha Remitti, Khalida Said, Mona Saudi u.v.a.m. sollten nicht nur von Insidern diskutiert werden. Etwas anders ist das inzwischen bei Fatima (Fatema) Mernissi geworden, von der einige Bücher in deutscher Übersetzung herausgekommen sind. Sie lehrt als Professorin Soziologie in Rabat. Zuweilen war sie in Marokko mit Veröffentlichungsverbot belegt.

Mit ihrem auch ins Deutsche übersetzten Buch: Der politische Harem. Mohammed und die Frauen (1989) hat sie ein für allemal den Scheingegensatz von frauenfeindlichem Koran und säkularisierter Frau im Sinne von freier Frau aufgebrochen und klar gemacht, dass die Moderne mit einem sachgemäßen Koranverständnis selbst in die patriarchal geprägten islamischen Gesellschaften des Mittleren Ostens und Nordafrikas Einzug halten müsste. Der Koran steht jedenfalls nicht auf der Seite der Herrschenden. Besonders scharf zeigt Mernissi diese notwendige Veränderung im gleichzeitigen Sinne von moderner Koraninterpretation und heutigem westlichen Demokratieverständnis auf in dem Buch: La peur-modernité. Conflit islam démocratie (deutsch: Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, 1992). Für diesen Argumentationsschub gibt es sozusagen im Jahre 1991 einen Vorläufer: Le monde n'est pas un harem. Paroles de femmes du Maroc (leider bisher nicht ins Deutsche übersetzt), in dem nicht nur marokkanische Frauen unterschiedlicher Herkunft zu Worte kommen, sondern wo F.Mernissi den Schleier wegreißt und der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass Frauen anfangen, die demokratischen Freiheiten einzufordern und den Koran als Bundesgenossen gewinnen, gestützt durch ein erweitertes Wissen ihrer religiösen und kulturellen Wurzeln.

Es ließen sich noch weitere Veröffentlichungen von Fatema Mernissi anführen. Hier soll jedoch in der Beschränkung noch einmal auf die veränderte Situation der Frauen im Maghreb hingewiesen werden und auf die Tatsache, dass ohne die islamischen Frauen in Nordafrika wie in Frankreich jegliche positive und fortschrittliche Gesellschaftsentwicklung steckenbleiben wird. Das erfährt man z.B. bei  Monique Gadant und Michèle Kasriel, die in Femmes du Maghreb (1990) Stimmen aus Nordafrika gesammelt und die Spannung der islamischen Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Wüste und Küste, Dorf und Großstadt, Tradition und Moderne beeindruckend zum Ausdruck gebracht haben. Diese Texte könnte man geradezu als Pflichtlektüre für Kommunalpolitiker empfehlen, die das Ausländische und Fremde im eigenen Bereich restriktiv zu verwalten suchen.

Besonders eindrücklich beschreibt die aus Algerien stammende und inzwischen in Frankreich lebende Journalistin Florence Assouline die “neuen“ islamischen Frauen: Musulmanes. Une chance pour l’ìslam (1992). Sie werden die Chance einer islamischen Moderne sein, die nicht den alten Traditionen den Abschied geben, weil der Westen sie für "mittelalterlich" hält, die sich aber nicht im Interesse einer dominierenden Männergesellschaft in Ordnungen pressen lassen wollen, die sie in die Marginalität treibt. Für westliche LeserInnen ist in diesem Zusammenhang recht erstaunlich, welche Bewegung sich unter islamischen Frauen (besonders im Maghreb und in Frankreich) breitgemacht hat. Mit den herkömmlichen Kriterien von fundamentalistisch, mittelalterlich und modern läßt sich nicht interpretieren, was in der Mischung aus islamischem Hintergrund, französisch-westlichem Einfluß und eigenständigem politischen Weg im Rahmen einer demokratischen Staatsverfassung (Tunesiens) an Aufbruch zu einem eigenständigen Frauenverständnis in der islamischen Welt heranwächst.

Hinde Taarji: Les voilées de l'islam, deutsch etwa: die Schleier des Islam - (1990), , gehört zu den jungen marokkanischen Frauen (geb. 1968), die als Muslimas wesentlich die maghrebinische Frauenbewegung vorantreiben. Sie hat darum auch die erste freie islamische Frauenzeitschrift in Marokko gegründet. In ihrem Buch analysiert sie sehr  wachsam die unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuweit (vor dem Golfkrieg), Türkei, Algerien und kommt zu dem Schluss, dass auf der Basis von Freiheit und Gleichheit auch der Islam die Rolle der Frau neu durchdenken muss, ja dass islamistisch nicht zwangsläufig zu einer Aussetzung der in der westlichen Welt hochgehaltenen Werte führt. Immerhin hat die eigenständige Rückbesinnung auf den Islam die Frauen „unter dem Schleier“ selbstbewusst gemacht. Aber kann die Berufung auf die Religion nicht doch in neue Unterdrückung durch Männermacht führen? Taarji beantwortet diese Frage letztlich nicht, aber sie bleibt mißtrauisch.

Juliette Minces: Verschleiert. Frauen im Islam (1992), französische Ausgabe: La femme voilée. L’Islam au féminin (Paris 1990) ist Soziologin und Anthropologin und arbeitet besonders an Fragen der (Arbeits)-Immigrantinnen unter Berücksichtigung der 3. Weltproblematik. Sie geht von der alltäglichen Unterdrückung der Frau aus, an der es sowohl in einer Reihe sog. islamischer Länder als auch im Blick auf den sozialen Status der in Frankreich lebenden Immigrantinnen nichts zu beschönigen gibt. Obwohl die juristische Stellung der Frau im Islam ursprünglich gar nicht schlecht ist, bestimmte Rechte (etwa im Blick auf das Eigentum der Frau) sogar einklagbar sind, führt die Auslegung des Rechts (die ja immer von Männern geleistet wird) faktisch zu einer Deklassierung der Frau. Allerdings ist es weder so, dass nun ein Horrorgemälde über die Unterdrückung der islamischen Frau entsteht, noch dass die Gleichberechtigung mit der Männergesellschaft unmittelbar vor der Tür stände. Es bleibt nichts anderes übrig, als sorgfältig zu differenzieren. In diesem Kontext sind archaische, vorislamische Traditionen ebenso zu berücksichtigen, wie rigoristische Exzesse, aber auch ein die Frau mystifizierender Fundamentalismus, der sich aus religiösen Forderungen und dem koranischen Recht ableitet. So ist die Frau nach islamischem Verständnis kein Individuum im westlichen Sinne, sondern bedeutendes Fragment einer Weltordnung, die religiös sanktioniert ist. Es bleibt durch eine Reihe von Erfahrungen der Autorin belegt, ein zwiespältiges Bild, das aber im Blick auf Frauenrechte trotz allem Türen zur Verbesserung offenlässt. Übrigens: In der deutschen Ausgabe klingt manches schroffer als in der französischen. Ist das nur ein Sprachproblem oder gar Zufall?

Die Liste der französisch sich äußernden Autorinnen ließe sich beinahe beliebig fortsetzen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass die islamische Frauenbewegung des Maghreb nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland endlich zur Kenntnis genommen werden müsste. Bestimmte Vorurteile über die Unterdrückung der Frau angesichts der koranischen Aussagen fallen dabei in sich zusammen.

6.  Die Spannung von Laizität und Islamismus

Spannend wird es, wenn von westlich-säkularer Seite eher als konservativ und traditionalistisch eingestufte Philosophen und Theologen sich zu Wort melden, wie etwa Fouad Zakaria, ägyptischer Philosoph, der bis zum zweiten Golfkrieg an der Universität von Kuwait lehrte. Er faßt seine Überlegungen wie in den zwei Brennpunkten einer Ellipse zusammen: Laïcité ou islamisme. Sein Buch mit diesem Titel erschien 1986 zum ersten Mal in Kairo und wurde 1991 in Französisch aufgelegt. In Laizität und Islamismus sieht er zwei polare Weltverständnisse, deren islamisch-integristischer Pol keine wirkliche Integrität ermöglicht, so dass im Sinne eines menschlich toleranten Zusammenlebens nur die Laizität übrigbleibt. Laizität dürfte Zakaria dabei allerdings anders verstehen als viele Französinnen und Franzosen, die von einer scharfen Trennung von Staat und Religion ausgehen. Zakaria kann sich nicht vorstellen, dass Laizität irreligiös ist. Aber er vermutet, dass das islamistische (nicht das islamische) Modell eine Mentalität repristiniert, die ein bestimmtes Zeitalter festschreiben will, das sogenannte Aufklärer gern als "mittelalterlich" desavouieren. Dennoch eine "mittelalterlich-islamische" Mentalität hat den Despotismus zur Folge. Despotische Herrschaft­strukturen werden in diesem Sinne islamisiert. Allerdings geht diese Provokation nicht an europäische LeserInnen, sondern an arabische. Dies hütet davor, Zakarias Angriffe auf derselben Ebene wie die Bassam Tibis zu sehen. Man verstünde Zakaria gründlich falsch, wenn man meinte, der Islam könnte sich nach seinem eigenen Verständnis nicht aus sich heraus (also ohne westliche philosophische Hilfe) in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexte inkulturieren. So stellt (der allerdings auch westlich geschulte) Philosoph Zakaria Deutemodelle verschiedener arabischer Intellektueller vor, die auf recht unterschiedliche Weise versuchen, die Balance von Politik und Religion neu zu justieren.

Allerdings lehnt er die Position von Said Al-Ashmawy: L’islamisme contre l’islam (1991) ab, der zwischen der islamischen Philosophie und der Demokratie so viele Berührungspunkte sieht, dass er für ein offenes religiöses, d.h. islamisches Paradigma unter den islamischen Völkern eintritt, die in produktiver Auseinandersetzung die Begegnung mit der westlichen Welt wagen. Soviel Euphorie hält Zakaria entgegen, dass der Islam oder noch konkreter die islamischen Araber im Grunde keine Wahl haben. Der zweite Brennpunkt der Ellipse verlischt, und übrig bleibt allein die Laizität als politische Notwendigkeit. Wie eine solche (arabische) Laizität aussehen könnte, bleibt noch im Schemenhaften. Es geht aber nicht darum, unbesehen westliche Demokratieformen zu übernehmen, sondern es geht um ein neues islamisches Verstehen der westlichen Geschichte, besonders der Renaissance und der Aufklärung. Es gilt also, Formen eines laizistischen Lebenszusammenhanges zu gewinnen, die sich an der Philosophie der Menschenrechte orientiert und damit die koranischen Traditionen nicht verleugnen muss.

Aufgrund dieser sehr differenzierten Debatte ist es nötig, die schon erwähnten Integrismen nicht als einen erratischen Block des Fundamentalismus zu sehen. Dies zeigt sehr scharfsinnig Fereydoun Hoveyda: L’islam bloqué (1992). Man könnte sogar frei übersetzen: Warum sich der Islam in seiner Bewegungskraft selbst lahmlegte: „Der festgefahrene Islam“ oder „Der Islam in der Sackgasse“.
Hoveyda ist Iraner, wurde aber in Damaskus geboren, und ist in Beirut aufgewachsen. Von 1971-79 war er Botschafter des Iran in den USA.

ln der Fahrschule des Integrismus lernt der Muslim das Autofahren mit dem Blick in den Rückspiegel. Wen wundert es da, wenn die Unfälle auf der Straße des 20. Jh. zunehmen. Die Muslime stören damit auch die vorsichtigeren und "klügeren" westlichen Autofahrer. Wie aber kann man den Inte­gristen verständlich rnachen, dass die Erfahrungen der Kameltreiber und Reiter des goldenen Zeitalters der Kalifen (einschließlich ihrer Kleidung und Riten) am Ende dieses Jahrhunderts zu nichts nutze sind, aber auch zu gar nichts?

Die muslimischen Länder sind heute, am Ende des 2. Jahrtausends, unterentwickelt. Sie zählen zur sogenannten "Dritten Welt". Die Menschen werden unterdrückt, die Menschenrechte missachtet. Eine Welle des Integrismus überrollt diese Länder. Wird es den Muslimen gelingen, so fragt Hoveyda, den Rückstand gegenüber den westlichen Ländern aufzuholen und sich aus diesen mittelalterlichen Zuständen zu befreien? In seinen Augen handelt es sich hier um ein rein historisches Problem. Denn keine Religion gibt Regeln für "buisiness-administration". Moderne Wirtschaft und Wissenschaft lernt man an der Universität. So sucht Hoveyda aus einer kritischen Untersuchung der Geschichte mögliche Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Er arbeitet die Ursachen für Aufstieg und Niedergang der muslimischen Zivilisation heraus, um das aktuelle integristische Fieber zu verstehen und Mittel dagegen zu finden. Die ersten vier Jahrhunderte des Islam waren von Offenheit, Toleranz und Fortschritt geprägt. Diese dynamische Phase hatte ihren Höhepunkt im 10. Jh., der Blüte der muslimischen Zivilisation. Philosophie und Wissenschaft blühten auf. Es herrschte ein fruchtbarer Pluralis­mus. Zu Beginn dieses Jahrtausends war die muslimische Welt der reichste und fortschrittlichste Teil unseres Planeten. Warum und wie konnte es zu einer solchen Umkehrung der Verhältnisse kommen?

Muslimische Identität und Moderne: Modernisierung oder Verdammung?
Die muslimischen Länder sehen sich mit einer Fülle von materiellen Problemen konfrontiert, die, so Hoveyda, allein die moderne Wissenschaft und Technologie lösen können. Die Erfahrung zeigt, dass es nicht reicht, Fabriken zu kaufen und Experten zu engagieren. Die Misserfolge der Entwicklungsprogramme haben ihre Ursache gerade darin, dass man Produkte aus dem Westen importierte, die Geisteshaltung, die sie begründet hat, jedoch verwarf. Hier stehen die muslimischen Länder vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn sie wollen die wissenschaftlichen und technischen Erneuerungen einführen, ohne die traditionellen Strukturen anzutasten. Man kann nicht einerseits die Moderne ablehnen, andererseits aber die wissenschaftliche und technologische Macht des Westens erlangen wollen. Die moderne Technologie kann nur in dem moralischen und intellektuellen Kontext funktionie­ren, den der Westen entwickelt hat. Ohne Gedanken- und Redefreiheit kann es keine wissenschaftliche Entwicklung geben. Muslime müssten schon in der Grundschule mit freiem und kritischen Denken vertraut gemacht werden. Die westliche Technologie kann nicht von der Kultur getrennt werden, die sie ermöglicht hat. Die Muslime sehen in der Modernisierung einen Konflikt zwischen einem beruhigenden, wenn auch ungenügendem Erbe, und beängstigenden, wenn auch notwendigen Erneuerungen. Ob die muslimische Welt ihren Rückstand von acht Jahrhunderten aufholen kann, hängt nach Hoveyda ganz davon ab, wofür sie sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts entscheiden. Denn dann wird der Zug der wissenschaftlichen und technologischen Revolution eine Geschwin­digkeit erreicht haben, die es unmöglich macht, bei voller Fahrt aufzuspringen.

Traditionalisten verweisen gerne auf die Krise im Westen, die die Menschen in das Zeitalter der Automation und der Informatik „schleuderte“. Doch die Kritik an Wissenschaft und Technologie stellt ihre Nützlichkeit und Legitimität nicht in Frage, sondern wie bei den Theologen des 12. Jh. lediglich ihren Exzess. Die große Mehrheit der Menschen im Westen weiß darum, dass es unmöglich ist, dem Fortschritt den Rücken zu kehren. Man kann den Fortschritt wohl bedauern, aber man kann ihn nicht mehr stoppen! Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glauben besteht nur in Bezug auf die integristischen Interpretationen des 12. Jh. Nur das Überleben des mittelalterlichen Integrismus stellt den Muslim heute vor das scheinbare Dilemma, sich zwischen zwei unvereinbaren Kulturen entscheiden zu müssen: einer Gesellschaft, die Gott durch ein imperatives, ewiges Gesetz unterworfen ist, und einer Gesellschaft, in der Staat und Religion getrennt sind und allen Gesetzen menschliche Entscheidungen zu Grunde liegen - kurz: zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz.

Aber wie kann man die Forderungen der modernen Welt mit denen der Tradition vereinbaren? Wir müssen die Vielfalt unserer muslimischen Identität annehmen, fordert Hoveyda. Und wir müssen die Westlichkeit, die Modernität als ein Element unserer Persönlichkeit akzeptieren, das wir zumindest durch unsere Erziehung erworben haben. Was ist die wahre Identität des Ägypters, des Berben, des Iraners, des Sudanesen? Im 7. Jh. sind die Beduinen aus der Wüste ausgezogen und haben völlig fremde Kulturen assimiliert. Heute stehen die Muslime einer wissenschaftlichen und technologischen Kultur gegenüber, die ihnen im Grunde nicht fremd ist. Denn vor dem Mittelalter waren sie selbst an der Entwicklung dieser Kultur beteiligt! Es besteht kein wirklicher Gegensatz zwischen der westlichen Kultur und der muslimischen Zivilisation.

Die Synthese von westlicher und muslimischer Kultur
Im Gegensatz zu den Anhängern der Theorie der israelisch-amerikanischen Verschwörung sieht Hoveyda den "wahren Feind" der muslimischen Welt nicht in der westlichen Kultur, sondern im Integrismus. Denn dieser hat die Entwicklung der muslimischen Zivilisation zum Stillstand gebracht. Ihm gilt Macht mehr als materieller und kultureller Fortschritt.

Der Integrismus hält die Völker in einem Zustand der Abhängigkeit. Sind die Muslime dazu verurteilt, niemals erwachsen zu werden? Hoveyda wendet sich dagegen, den aktuellen Erfolg der islamistischen Bewegungen allein auf die Enttäuschung der Massen angesichts des Misserfolgs der ökonomischen Entwicklungsprogramme oder der sozialen Ungerechtigkeiten zurückzuführen. Die technische Zivilisation wird immer komplexer und beängstigender. Wie verlockend ist da doch die von den Integristen geforderte Rückkehr zur Schlichtheit der traditionellen Gesellschaft mit ihrer Vermischung von Politik und Religion. In einer Welt voller Veränderungen fühlt sich der Gläubige sicher, wenn er sich an das klammert, was sich nicht bewegt. Notwendig ist ein totaler Wandel der Mentalität und der sozialen Organisation. Doch statt den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, klagen sich Traditionalisten und Modernisten gegenseitig an. Sie haben die Wahl: Entweder sie verschließen sich mit integristischen Strukturen gegen die Außenwelt oder sie finden die Frische und Offenheit der ersten Jahrhunderte wieder. De letzte Gedanken findet sich verstärkt bei Olivier  (s.u.).

Die Muslime werden auf die Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen sein. Der Westen kann dazu beitragen, die muslimische Welt aus ihrer Erstarrung zu befreien, indem er sich nur in die Angelegenheiten muslimischer Länder mischt, um den Weg der Demokratie zu unterstützen und die Medien als eine furchtbare internationale Macht erkennt und dementsprechend damit umgeht. Doch die meisten westlichen Intellektuellen gefallen sich darin, einen imaginären Islam hochzuloben. Was die muslimische Welt heute vom Westen trennt, ist eine Frage der Epoche, nicht einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit. Die Immigranten beispielsweise leben im gleichen Gebiet wie die Europäer. Und doch sind sie keine Zeitgenossen. Die integristische Welle, die die muslimische Welt im Moment überrollt, ist nicht mehr als das letzte Zusammenzucken einer kranken traditionellen Gesellschaft, die vor der Alternative steht, sich nach der Vergangenheit zu sehnen oder die Notwendigkeit einer Veränderung zu erkennen. Das erfordert eine enorme Informationsarbeit. Doch zuerst müsste die Geschichte des Islam neu geschrieben werden.

Weniger Neuschreibung, sondern Rückbesinnung tut not nach Olivier Carré: L’islam laïque ou le retour à la Grande Tradition (1993). Mit diesem Titel fordert der Direktor der „Fondation nationale des sciences politiques“, einem Studienzentrum internationaler Forschung, keinen laizistischen oder säkularen Islam, sondern ein sorgfältiges Studium der entscheidenden islamischen Traditionen. Bei diesem Blick in die Geschichte entdeckt man nämlich sehr schnell eine „große Tradition“ eines fast in unserem Sinne aufgeklärten Islam, der Religion und Staat trennte. Im Mittelalter verabschiedete man sich von dieser Denkrichtung und der entsprechenden politischen Wirklichkeit (in Spanien später, in Nordafrika und in Nahen Osten früher), indem man das Tor der Koranauslegung (Idschitihad /idjtihad) schloss und damit vorsichtige Reformansätze des 14. Jahrhunderts unterlief. Stattdessen taucht eine „kurze Tradition“ auf, derer sich auch die gegenwärtigen Islamisten gern bedienen: Durch einseitige Koraninterpretationen schaffen sie bewusste Gegensätze zwischen Gläubigen und Ungläubigen die sie im heutigen säkularen Staat versammelt sehen. Damit ist die (gewaltsame?) Konfrontation zwischen Demokratie und öffentlich ausgeübter Religion, zwischen Staat und Moschee/ Kirche vorprogrammiert. Immerhin gibt es Muslime (wie Mohammed Arkoun), die auf eine laizistische Koraninterpretation unter den Bedingungen der Gegenwart drängen. Die Welt lässt sich nicht mehr in einen Bereich der Ungläubigen und Gläubigen aufteilen: dar al-harb (Haus des Krieges) und dar al-islam (Haus des Islam). Es bringt auch dem Islam nichts, den Gedanken des Individualismus, des privaten Lebens, des von der Scharia unabhängigen Rechtsstaates und die modernen sozialen Errungenschaften als Abfall vom Glauben zu diskreditieren. Immerhin zeigen islamische Ökonomie und selbst die Frauenrechte im Koran eine erstaunliche Flexibilität gegenüber den Zeiterfordernissen. Statt dass der Ruf nach einem islamischen Staat in der Phase des Postkolonialismus die Militanz steigert, gilt es das Verhältnis von in Jahrhunderten (unterschiedlich) gewachsener Scharia und Koran neu zu durchdenken und in entsprechende Regeln zu gießen.

Auf der anderen Seite muss der oft einseitige französische Laizitätsbegriff, der kaum ein Äquivalent in dieser Art in der übrigen westlichen Welt hat, ebenfalls einer Revision unterzogen werden. Carré plädiert darum für einen „postislamischen Islam“, der auf seinen originären Wurzeln sich in eine pluralistische Gesellschaft mit einbringt, die damit nicht nur vom Säkularismus (von der Französischen Revolution herkommend) geprägt ist, sondern von den vielen Werte- und Normeinflüssen, die die unterschiedlichen Gesellschaftsglieder prägen. Dazu gehören eben auch Christentum, Judentum, Islam. Teil einer veränderten Laizität muss auch die Religion sein, die nicht in die Privatsphäre abgedrängt, sondern im Konzert der gesellschaftlichen Kräfte mit am Wohl des Gemeinwesens baut. Der Islam könnte von seinen orthodox-islamistischen Umwegen in der Geschichte zurückkehren in eine islamische Laizität, die mit der Trennung von Staat und Religion nicht nur leben kann, sondern von ihren Wertvorstellungen her das Wohl aller im Auge hat. Christentum und Islam müssen sich allerdings dabei besonders hüten, (wiederum) den Versuchen der Macht zu erliegen, um Theokratie ähnliche Staatsgebilde weder religiös zu legitimieren, noch politisch zu fordern wie das Christentum im Mittelalter, oder die Muslimbrüder in Ägypten bzw. ein Teil der schiitischen Theologie im heutigen Iran. Carrés Untersuchungen zum arabischen Nationalismus (1993: Le nationalisme arabe) und zur Bedeutung der Muslimbrüder, nicht nur in Ägypten (1984: Mystique et politique) zeigen immerhin auch, wie sich einzelne religiöse Vorstellungen politisch verselbständigen und das Gleichgewicht im Nahen und Mittleren Osten einschließlich der arabischen Halbinsel) durcheinanderbringen. Diese Seite muss ebenso berücksichtigt werden wie die Tatsache, dass unsere heutige Kultur weitgehend jüdisch-christlich geprägt ist, auch wenn sie eine Reihe von aufklärerischen Entwicklungen durchgemacht hat. Sollte man in einem solchen Kontext den Islam und damit die Wertvorstellungen von Millionen in Frankreich lebender Menschen ausschließen?

Es ist allen nur gedient, wenn auf der Basis des jeweiligen Glaubens und der dazugehörigen Ethik eine Kooperation mit den übrigen gesellschaftlichen Kräften so zustande kommt, dass mit den Argumenten der Vernunft und eines wachen Geistes die großen Veränderungen an der Wende zum dritten Jahrtausend wahrgenommen werden können. Plurikulturalität und Polynormativität haben doch so viel Grundkonsens, dass man um ein Zerbrechen gesellschaftlicher Ordnungen (in Europa) unter diesen Bedingungen nicht fürchten muss.

Durchaus in der Linie aufklärerischen Denkens seit der Französischen Revolution, aber ebenfalls mit intimer Kenntnis islamischer Strömungen stellt der Politik- und Wirtschaftswissenschaften lehrende Maxime Rodinson das politisch-religiös-wirtschaftliche Geflecht dar, in das der Islam verwoben ist. Ein Teil der Bücher ist auch deutschen LeserInnen zugänglich. Rodinson ist unseres Wissens einer der ersten, der die Faszination Islam (französisch: 1980, deutsch: 1985) aus der engen Verbindung von politischem Denken, Lehren und Glauben und persönlichem Glauben beschrieben hat. In einem kürzlich erschienenen Essayband mit Aufsätzen hauptsächlich aus den achtziger Jahren widmet sich Rodinson verstärkt diesen Fragen.

Maxime Rodinson: L’Islam: politique et croyance (1993; Der Islam: Politik und Glaube)
Rodinson ist ursprünglich Marxist. In dem Sammelband finden sich sowohl allgemeinere Artikel (Die Struktur der muslimischen Gesellschaften seit der Zeit Mohammeds bis heute) als auch speziellere Artikel, die etwa auf dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Situation geschrieben worden sind (iranische Revolution) oder sich mit einem speziellen Phänomen (Integrismus) bzw. einer bestimmten Region (Libanon) beschäftigen.

Der Islam: eine ideologische Bewegung
Rodinson versteht den Islam nicht als ein geschlossenes Konzept, auf das sich das öffentliche und private Verhalten in der muslimischen Welt zurückführen ließe. Deshalb spricht er auch lieber von den Muslimen als vom Islam. Es wäre absurd, die Haltung der politischen Führer, der Massen und der Eliten auf bestimmte Strukturelemente der muslimischen Dogmatik oder einzelne Stellen im Koran oder in der Tradition zurückführen zu wollen. Das Leben der Muslime läßt sich nicht allein aus ihrer Glaubenslehre erklären. Kurz: Das soziale Leben hängt nicht von einer Idee bzw. einem Konzept ab. Islamische Phänomene können somit nicht nur mit anderen islamischen Phänomenen erklärt werden. Rodinson stellt den Islam auf eine Ebene mit den säkularen Ideologien, die auf politische Führung abzielen. Die monotheistischen Religionen zählt er, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, zu den „ideologischen Bewegungen“.

Die Einheit der Essays liegt in der Analyse der Beziehungen zwischen der islamischen Glaubenslehre und dem Verhalten der Muslime. Zur Glaubenslehre zählt er die Strukturen der Bildung, Propagierung und der individuellen und kollektiven Vertiefung des Weltverständnisses und wie diese die politische Macht mit Autorität und Führungsqualitäten ausstatten und sie beeinflussen. Das Verhalten bezieht Rodinson auf die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen, also auf die Autoritäts- und Führungsstrukturen, die die Gesellschaften bestimmen. In seiner Analyse der Beziehung zwischen beiden stützt er sich vor allem auf die Soziologie. Dabei hält er an der Marxschen Sicht der Beziehungen zwischen den politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen einerseits und den ideologischen Strukturen andererseits fest.

Die Originalität des Islam: die Organisation der Gemeinschaft
Wie jede ideologische Bewegung hat der Islam eine neue Gemeinschaft von Gläubigen mit einer spezifischen Ideologie geschaffen, dem Ideal einer gerechten muslimischen Gesellschaft. Die Originalität des Islam sieht Rodinson weder in seiner Glaubenslehre noch in seinem Ritual, sondern in der Organisation der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft (Umma) bildet einen globalen Organismus, dessen Anhänger (zumindest theoretisch) gleichgestellt sind. In seinen Anfängen in Medina war er politisch-religiös: Die Gemeinschaft der Gläubigen war zugleich politische Struktur, Staat. Christentum und Buddhismus verstehen sich nur als eine Gemeinschaft von Gläubigen, die dieselbe Wahrheit anerkennen. Sie wollen nicht die Gesellschaft verändern, sondern den Einzelnen zum Heil führen. Die Vorstellung, dass im Islam Politik und Religion verschmelzen, hat eine reale Wurzel: die Verschmelzung der politischen und ideologischen Macht in Medina. Später jedoch waren Politik und Ideologie getrennt und standen die meiste Zeit sogar in Opposition zueinander.

Obwohl die muslimische Ideologie den Anspruch erhebt, die Gesellschaft zu verändern, kann die Ideologie die Eigendynamik der ethnisch-nationalen Kämpfe, der Kulturen, der ökonomischen Systeme, kurz die Dynamik der Macht nicht durchbrechen. Die Einheit der muslimischen Kultur besteht in ihrer Ideologie, dem Islam. Der ethnische oder nationale Nationalismus, nach Rodinson die mächtigste Religion unserer Zeit, bildet ein gewisses Gegengewicht zu diesem Zugehörigkeitsgefühl der Muslime zur Umma. Rodinson unterscheidet zwei bzw. drei Stufen der muslimischen Ideologie: den Nationalismus einzelner Länder, den arabischen Nationalismus und den Nationalismus der muslimischen Gemeinschaft.

Die Unvereinbarkeit von demokratischen Strukturen und Gemeinschaftsstrukturen von Minderheiten (corps minoritaires de type étatique)
Die politische Struktur des klassischen Islam war der hierarchische Pluralismus, der konfessionelle Gemeinschaftsstrukturen übereinander lagerte. Für konfessionelle Minderheiten stellt das laizistische Modell, das in Frankreich seit der Trennung von Kirche und Staat am konsequentesten angewandt wird, eine große Verlockung dar. Doch die Minderheiten werden sich sehr schnell eines gravierenden Nachteils der westlichen Staatsnation bewusst: Völlige Freiheit und Gleichheit scheinen eine weitgehende Homogenisierung des Staates vorauszusetzen. Dabei werden sie zu unpolitischen Ideengemeinschaften herabgesetzt. Die Konfessionen haben hier lediglich den Status von Vereinigungen von Menschen, die gemeinsamen Vorstellungen anhängen. Ihre Mitglieder müssen in allen Punkten den gesetzlichen Regelungen des Staates Folge leisten (vgl. dazu die Ausführungen von Ulrich Schoen im vorangegangenen Beitrag, wo es um die Situation religiöser Minderheiten in Frankreich geht). In einer theoretisch homogenen Gesellschaft liegt die Entscheidung bei der Mehrheit oder bei den Stärksten (im allgemeinen bei den Muslimen).

Integrismus: ein universelles Phänomen
Der muslimische Integrismus von heute fordert die Rückkehr zum einstigen Pluralismus. Aufgrund des weltweiten Ansehens, das demokratische Prinzipien genießen, übernimmt er deren äußere Form: Im Namen der Mehrheit will er den hierarchischen Pluralismus von einst wieder einführen und die Vorherrschaft der in der Mehrheit befindlichen Gemeinschaft aufrichten, ihr jedoch einen eher nationalen als ideologischen Charakter verleihen. Die Zunahme von autoritären Regimen und Gewaltherrschaft geht nicht auf die Botschaft des Propheten zurück, sondern wird durch den Patriotismus der Gemeinschaft und die ethnischen und nationalen Patriotismen erleichtert. Aufgrund der engen Verbindung in der traditionellen muslimischen Ideologie von idealen zeitlichen (Utopie) und existentiellen Rezepten. Die Ausbreitung technischer Mechanismen und das Verständnis ihrer Kausalität scheinen nach Rodinson der Hauptgrund für eine Entzauberung der Welt. Der Glaube an Gott wurde weitgehend durch den Glauben an den Islam ersetzt, was sich jedoch weniger im Reden als im Handeln der Muslime zeigt. Rodinson sieht hier eine generelle Tendenz zur „Säkularisierung“ bzw. „Laizisierung“ des Islam. Man soll sich so oder so verhalten, nicht weil es Gottes Wille ist, sondern weil man Muslim ist. Prinzipielle Motivation für bestimmte Verhaltensweisen ist der Patriotismus der Glaubensgemeinschaft. Überspitzt formuliert: Man glaubt an den Islam, aber nicht an Allah (Gott). Die Gründe für den heutigen islamischen Integrismus werden häufig als ein Charakteristikum des Islam innerhalb des Islam gesucht, als eine Art Virus, der Fanatismus überträgt. Rodinson unterscheidet zwischen rituellem oder existentiellem Integrismus, wo es um uneingeschränkten (intégrale) Gehorsam gegenüber den Gesetzen geht, und politischem Integrismus. Macht sich der Staat selbst den politischen Integrismus zu eigen, kann er, wie im Iran (oder in Polen) enorme spirituelle Kräfte mobilisieren. Hier sind die ethnisch-nationale Ideologie und die Ideologie der religiösen Gemeinschaft fast völlig identisch. Nun kann der Staat alle Werte mobilisieren, sowohl patriotische Gefühle als auch persönlichen Glauben. Die politisch-religiösen Extremismen der muslimischen Welt sind jedoch nur ein lokaler Aspekt eines universellen Phänomens.

In allen ideologischen Strukturen gibt es einen ständigen Hang zum Integrismus, der jeder Zeit wiederbelebt werden kann. Politische Spiritualität musste meist sehr schnell ihre weltlichen Ideale den üblichen Gesetzen der Politik unterordnen, d.h. dem Kampf um die Macht. Der Inhalt der Ideologie spielt dabei nicht unbedingt eine entscheidende Rolle. Die Revolte und der Wille, eine stabile Ordnung zu schaffen, die zwangsläufig ungleich ist, werden immer nebeneinander existieren. Ebenso wird es immer notwendig sein, das eine oder das andere zu rechtfertigen. Sowohl der Protest gegen eine nachteilige Situation als auch die Autorität, die sie entwaffnen und bekämpfen will, sind immer auf der Suche nach einer legitimierenden (légitimatrice) ideologischen Nische. Religionen, Philosophien, Sekten, Schulen, Parteien und selbst kaum bewusste, vage Tendenzen können diesem Ziel dienlich sein. Ihre Eignung hängt lediglich von den jeweiligen Umständen ab. Sind die ideologischen Bewegungen erst einmal an der Macht, wird deutlich, dass sie niemals in der Lage sind, allen Gläubigen ihre Interpretation der gemeinsamen Glaubenslehre aufzuzwingen. Die Religionen sind nicht etwa gefährlich, weil sie den Glauben an Gott predigen, sondern weil sie als Mittel gegen die Übel in der Gesellschaft nur über die moralische Ermahnung verfügen. Sind sie an der Macht, erliegen sie der Versuchung, im Namen der moralischen Reform eine Ordnung desselben Namens aufzuerlegen.

Schon der Titel des Sammelbandes - Islam: Politik und Glaubenslehre - macht deutlich, wo Rodinson in diesem Beziehungsgeflecht den entscheidenden Faktor sieht: in der Eigendynamik der Politik, der die Ideale der Religion letztlich immer geopfert werden müssen. Obwohl die Essays zum größten Teil älteren Datums sind, sind sie es aufgrund ihres grundsätzlichen Charakters wert, im Zusammenhang wahrgenommen zu werden.

Benutzte und weiterführende Literatur bis 1993
Die fettgedruckten Titel haben bei der hier wiedergegebenen Diskussion eine besondere Rolle gespielt.

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Zuerst erschienen in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne. Religionen im Gespräch Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, S. 290–323


RIG3-France-Laizität, bearbeitet 01.09.2012