Samstag, 7. April 2012

Die Fabel des Jotham oder die Frage nach der Gerechtigkeit Ein Lehrstück über den Umgang mit Gewalt (Variationen zu Richter 9)



1.  Theologisch-didaktische Vorüberlegung
Die Wirkungen biblischer Geschichten zeigen sich daran, ob sie trotz ihrer oft Jahrtausende alten Tradition noch heute „ankommen“. Am deutlichsten wird dies, wenn die HörerInnen oder LeserInnen des Originaltextes oder einer modernisierenden Variante in diese jeweilige Geschichte hineingenommen werden. Dann stellt sich eine Verbindung von damaligen Text und heutigem Wahrnehmen so her, dass eine Partizipation an den Traditionssträngen des Erzählens und an den mannigfachen Weisens des Glaubens derer erfolgt, für die diese Geschichten auch schon Bedeutung hatten. Wir werden so als HörerInnen oder LeserInnen hineingenommen in eine Erzählgemeinschaft des Glaubens.
Diese Erzählgemeinschaft drückt sich nun unterschiedlich aus; bei der Nacherzählung von Jothams Fabel im entsprechenden politischen Kontext werden Erfahrungen weitergegeben, die mit dem Volke Israel verbunden sind, sich aber auch auf andere Situationen aufgrund der dem Erzähler zuzubilligender Freiheit übertragen lassen.
In den Geschichten des Richterbuches insgesamt, aber in verstärkter Weise in der im Norden angesiedelten Simsontradition, erscheint es lohnend, den Aspekt gewisser Rivalitäten mit Davidtraditionen erzählend zu verbinden, also gewissermaßen von heute her nachzuvollziehen, wie bestimmte Erzählungen für bisher weitgehend eigenständige Volksgruppen in anderen Stämmen und dann insgesamt rezipiert werden. Unterschiedliche Erzähltraditionen werden durch das interpretierende Erzählen (in vermuteten Situationen) zu sinnstiftender Gemeinschaft, wie es der exegetische Befund und die historischen Ereignisse der Davidszeit tatsächlich belegen; die Nord- und Südstämme finden zu einem Reich zusammen. Dies soll ein Stück weit nachvollzogen und sparsam. aktualisiert werden.
In den einschlägigen und zum Teil zitierten Kommentaren und Forschungsbeiträgen finden sich alle Details und die historischen Zusammenhänge, hier kommt es vielmehr darauf an, Elementarisierungen konkret zu zeigen und die theologische Verantwortung dafür zu übernehmen. Zugleich müsste etwas über das emotionale Grundraster solcher Geschichten zum Ausdruck kommen. Das ist an dieser Stelle besonders schwierig, weil es nicht möglich ist, das mündliche Erzählen im Blick auf die jeweilige Situation zu konservieren und das Geschriebene automatisch ein Stück Abstraktion mit sich bringt.

2.     Richter 9 oder eine hintergründige Aktualisierung der Jothamfabel
2.1.  Wie einer König wird
Sein Vater war berühmt und ein beliebter Held; er sorgte für Ordnung im Land.
Sein Vater hatte aber auch eine Schwäche für Frauen, auch für ausländische Frauen, was in diesem Falle Folgen hatte, die man normalerweise nicht absehen kann, wenn man ins Ausland heiratet oder eine Ausländerin ehelicht. Sein Vater hatte nämlich so viele Frauen, dass er 70 Söhne in die Welt setzen konnte. Von den Töchtern ist 'mal wieder nicht die Rede. Er liebte nicht nur Frauen, er war auch ein Pascha, und da zählt nur was männlich ist. Immerhin regierte er umsichtig im Lande, darum nannte man ihn auch ehrfürchtig "Großer Richter".
Dann starb der Vater; die Frauen gingen in ihre Heimatstädte und Dörfer zurück. Als Witwen eines solchen Mannes waren sie angesehen, selbst wenn sie zu den sogenannten ausländischen Frauen gehörten und an einen anderen Gott als den des „Großen Richters“ glaubten. Sie hatten teilweise sogar erheblichen Einfluss auf die kleine und große Politik.
Einer der Söhne war ehrgeizig.. Das musste nicht gleich ein Fehler sein. Dieser aber ging in die Stadt seiner Mutter und hetzte die Verwandtschaft auf. "Was ist besser?" fragte er, "dass siebzig Söhne im Lande herrschen oder dass einer für klare Verhältnisse sorgt. Außerdem wohnt meine Mutter auch hier in der Stadt. Ich bin also kein Zugezogener, ich bin einer von euch."
Natürlich war er ein Zugezogener, er gehörte ja einem anderen Stamme an, aber er konnte die Stadt zwischen den Bergen vielleicht wirtschaftlich hochbringen. Das hatte sein Vater, "der große Richter" nämlich einigermaßen zu verhindern gewusst.
Bald hatte er den Stadtrat auf seiner Seite, war er doch ein intelligenter und gewandter junger Mann. "Ja", sagten sie, "er ist unser Bruder, wir werden ihn unterstützen. Wenn er für uns etwas heraus­holen kann, soll es ihm an Geld und Macht nicht fehlen." Aus der Schatztruhe des Zentraltempels gaben sie ihm Geld, Die Priester hatten also auch 'mal wieder ihre Hände im Spiel.
Er hatte soviel Geld, dass er gleich einen kleinen Rachefeldzug beginnen konnte. Rache wofür? Die Königsmacher ahnten, dass es gegen seine Brüder gehen würde, aber das konnte nur zu ihrem Nutzen sein.
Der junge Mann zog los. Er stellte -eine Söldnertruppe zusammen: Verwegene Gestalten mit ebenso verwegener Vergangenheit,
Die machten reinen Tisch. Es war die Nacht der langen Messer, Im Hause des Vaters legten sie alle seine Brüder um. Doch als sie die Toten nachzählten, fehlte einer. Einer kam durch. Er hatte dem Ehrgeiz seines Bruders misstraut und dem Pakt mit den Gegnern seines Vaters. Er hatte sich rechtzeitig versteckt; allerdings war er nur der jüngste von siebzig.
Als die Verwandtschaft beseitigt war, konnte dem jungen Mann mit den ehrgeizigen Plänen niemand mehr das Königtum streitig machen. Er ließ sich zum unumschränkten Herrscher krönen mit dem Wohlwollen der etablierten Politiker und mit dem Segen der Kirche.
Dass er nun einem andern Gott sozusagen politisch verpflichtet war als sein Vater – was macht das schon? Die Namen für Gott, sind doch nur Namen. Bundesgott oder Vätergott, wo ist da schon der Unterschied?
In der Politik zählt schließlich nicht die Religion und auch nicht die Ethik, sondern der Erfolg. Den Erfolg hatte er nun, ein bisschen misstrauisch blieb er dennoch. Er verlegte seine Residenz in ein SchIoss ein paar Wegstunden weiter weg, nah genug zum Eingreifen und weit genug, um nicht immer bei den Politikern und Kirchenfürsten, die ihn in den Sattel gehoben hatten, "Danke" und "Bitte" sagen zu müssen.
Aber, wie schon gesagt, seine Mutter lebte weiterhin in dieser Stadt zwischen den Bergen. Einer der Berge war heilig, eine heilige Eiche stand vor den Toren: Tradition war zugleich und immer religiöse Tradition. Die Stadträte unten in der Stadt wussten das, die Priester auf dem Burgberg wussten es und pflegten es entsprechend, und der junge Mann, der König geworden war, wusste es nur allzu gut.
Ansonsten schien die Welt zwischen diesen beiden Bergen mit Mutter und Sohn, mit Stadträten und Priestern einigermaßen wieder in Ordnung zu sein, bis eines Tages die ganze scheinheilige Idylle zusammenbrach,
Wenn man auf die Felsen des einen Berges über der Stadt kletterte, konnte man direkt auf den Marktplatz der Stadt schauen, Man konnte den Bürgern dort unten vorsingen oder ihnen regelrechte Reden halten, weil die Gesänge auf der anderen Bergseite wie durch einen Verstärker zurückgeworfen wurden. Das war schon manchmal vorgekommen, bisher aber immer harmlos und unpolitisch.
Auf dieser – sagen wir mal – Naturrednertribüne tauchte nun eines Tages ein junger Mann auf, der gerade etwas kräftigen Flaum als Bart sein eigen nennen konnte. Es war der Bruder des König, der einzige, der übrig geblieben war, und nun gejagt, verfolgt und gehetzt.
Der legte sich nun an einem Vormittag, an dem Markt war, über die Felsen und rief:
"He, ihr Leute in der Stadt, kennt ihr schon die Geschichte, die Geschichte, wie die Bäume einen zum König haben wollten?"
Die Bürger der Stadt kannten die Geschichte noch nicht, und da die meisten von ihnen gern Geschichten hörten, blieben sie stehen, Der Handel konnte ruhig noch ein bisschen warten. Sie fragten sich nur, warum der junge Kerl nicht gleich auf den Marktplatz heruntergekommen war und nun von oben seine Geschichte erzählte. Der junge Mann in den Felsen hatte eine gute und melodische Stimme, die Felsen der anderen Bergsseite verstärkten den Ton; es war angenehm, ihm zuzuhören.
Er rief: "He, ihr Männer der Stadt, hört mich, denn Gott hat sich schon längst seinen Teil gedacht, Bald wird er handeln."
 
2.2.  Die Fabel vom Dornbusch
"Da wollten die Bäume doch einen zum König machen, Und sie kamen zum Ölbaum und sagten zu ihm: 'Hallo, Ölbaum, sei unser König!' Doch der Ölbaum winkte ab: 'Kein Interesse, ich stehe doch im Wirtschaftsleben, ich habe doch wahrhaftig genug, Jeder Haushalt bricht zusammen, wenn in der Küche kein Olivenöl zum Backen und Braten da ist, Meine Öle werden in die ganze Welt exportiert, die Börsen in Bagdad, Jerusalem und Theben reagieren darauf, wie meine Ernte ausfällt. Ich habe internationale Verpflichtungen und multinationale Verbindungen, Soll ich mein Öl lassen, für das mich Götter und Menschen preisen, und über den Bäumen herumschweben? Ich habe wirklich Besseres zu tun! Nein, sucht euch einen anderen König!'
Da gingen die Bäume zum Feigenbaum und sagten: 'Hallo, Feigenbaum, komm, sei du unser König!' Aber auch der winkte ab; 'Wozu soll ich König werden? Wie lieben die Menschen schon die Süße meiner Frühfeigen, da sind manche so gierig, dass sie die leckeren kleinen Dinger schon im Mund haben, statt sie in den Korb zu legen (Jes,28,4); und dann erst die Haupternte mit diesen prachtvollen, traumhaften großen Feigen! Soll ich meine Früchte lassen, um über den Bäumen herumzuschweben? Ich habe wirklich Besseres zu tun. Nein, sucht euch einen anderen König!'
Da sprachen die Bäume; 'Wir wollen zum Weinstock gehen, der ist zwar kleiner, aber immerhin.' Da kamen die Bäume zum Weinstock, aber selbst der winkte ab: 'In vino veritas, im Wein liegt Wahrheit; und diese Wahrheit heißt, dass mein Getränk Götter und Menschen glücklich macht. Es steht ja schon in der Bibel, dass der Wein des Menschen Herz erfreuen soll (Ps,104,15). Soll ich alle meine leckeren Weinsorten lassen, den milden weißen, den feurigen roten und den schweren braunen, süßen? Menschen glücklich zu machen, das ist eine wichtige Aufgabe; sollen sie doch einmal ihre Sorgen vergessen können! Soll ich den Menschen die Freude nehmen, nur um über den Bäumen herumzuschweben? Ich habe wirklich Besseres zu tun. Nein, sucht euch einen anderen König!'
Schließlich kamen die Bäume zum Dornbusch. Eigentlich hielten sie ihn ja für einen Nichtsnutz, aber was sollten sie machen? Darum baten sie den Dornbusch: 'Komm, sei du unser König.' Der meinte nicht ganz richtig gehört zu haben und fragte zurück: 'Ehrlich, ihr wollt mich zum König machen, so ganz richtig?' 'Ja. ehrlich', antworteten die anderen Bäume.
'Ja, wenn das so ist', erwiderte der Dornbusch, 'dann bergt euch in meinem Schatten, und wenn nicht, so soll Feuer von mir ausgehen, das selbst die schönsten Bergzedern vernichten wird!"'

2.3.  Unruhe, nicht nur in der Stadt
Die Bürger auf dem Marktplatz sperrten Nase, Mund und Ohren auf, rieben sich die Augen und meinten: "So was hat's ja noch nicht gegeben, wenn das man gut geht." Das war eine Rede vom Felsen, die hatte gesessen, merkten sie doch genau, worauf der junge Mann da oben anspielte: Ihr König hatte seinen Weg nach oben mit Blut besudelt, und den hatten sie zum König gemacht!
Aber der da oben war noch nicht fertig, der wurde noch deutlicher: "Mein Vater hat für euch gekämpft, er hat euch Frieden und Wohlstand gebracht, er hat euere Stadt geschätzt, sonst hätte er nicht eine euerer Frauen zu seiner Frau gemacht, Aber ihr, ihr habt meinen Bruder zum König gemacht, diesen Nichtsnutz, diesen Ganoven, der auf einen Schlag meine und seine Brüder umgebracht hat. 68 Morde, nur ich bin übrig geblieben. Wenn ihr meint, dass ihr recht an meinem Vater gehandelt habt, nun gut, dann genießt den Schatten dieses sauberen Königs, wenn aber nicht, dann gehe das Feuer dieses Mal von euch aus und vernichte diesen Gernegroß."
Der junge Mann verschwand von seiner Felsenkanzel. Er tat auch gut daran, denn der Stadtkommandant hatte schon seine Polizisten losgeschickt, um ihn zu festzunehmen. Aber sie erwischten ihn nicht.
In der Stadt zwischen den Bergen war nun die Idylle endgültig dahin. Manche Bürger legten diese Rede auf ihre Weise aus: Sie hatten einen zum König gemacht, damit ihre Geschäfte besser gingen. Ihr Herrscher ging mit seinen Gegnern nicht zimperlich um, also brauchten sie auch nicht pingelig zu sein. "Hauptsache der Dollar steigt, und der Rubel rollt in unsere Taschen", sagten sie zueinander.
So kamen einige windschiefe Existenzen auf die Idee, eine Zollgesellschaft zu gründen. Nun, der Zoll wurde sowieso schon am Stadttor für den König kassiert, Da fiel doch für die Bürger nicht genügend ab; also kassierten sie weit draußen auf den bergigen Zufahrtsstraßen. Das Geschäft blühte fantastisch, nur hätten sich diese Zollteilhaber besser als Wegelagerer bezeichnen sollen, Ganoven in Mafiamanier; das wäre wenigstens der Wahrheit näher gekommen,
Der König sah sich die Räuberei eine Weile an, dann griff er ein, seine Elitetruppe rieb die seltsamen Kaufleute in den Bergen auf und machte kurzen Prozess mit ihnen.
Aber die Stadt hatte nun keineswegs Ruhe. Kaum waren die Ganoven am Galgen, wurde es noch schlimmer: Revolution, Aufruhr gegen den König, Terror in der Stadt. Ein gewisser Gaal streute in der Stadt die durchaus richtige Information aus, dass es mit der politischen Karriere des Königs nicht weit her wäre. Seine Mutter stamme zwar aus der Stadt hier, aber sein Vater, der habe doch den Frieden auch mit Gewalt gebracht, habe hohe Abgaben für sich gefordert, war doch in Wirklichkeit ein Gegner der Stadt.
Und auf einem Flugblatt konnte man lesen:

DER KÖNIG DER STADT HAT EINEN FREMDEN NAMEN,
ER STAMMT ÜBERHAUPT NICHT VON HIER.
ER IST EIN GEGNER DES VOLKES!
WOLLTE GOTT, DAS VOLK WÄRE UNTER MEINER, GAALS HAND,
ICH WÜRDE DEN DA ZUM TEUFEL JAGEN!"


Das war starker Tobak, und die Lage in der Stadt wurde kritisch. Man drohte die Stadtkommandantur zu stürmen. Der Kommandant schickte ein verzweifeltes Telegramm in die Residenz des Königs.

2.4.  Der Angriff oder der Kampf gegen den Terrorismus
Als der merkte, was gespielt wurde, war er im Handumdrehen da. Die absolut zuverlässige Eingreiftruppe räumte wieder auf. Die Sache war generalstabsmäßig vorbereitet. Das war nicht nur Theaterdonner:
1. Akt: Man bedrohte die Stadt. Man fuhr die modernsten Waffen auf. Dann ging man in Deckung, verschwand scheinbar vor dem nächsten Schlag. Die Aufrührer in der Stadt bekamen es mit der Angst zu tun und machten einen Ausfall. zumal- der Feind nur eine Demonstration der Stärke vorgenommen hatte, wie man fälschlich meinte. Der König hatte nur auf diese Panikreaktion gewartet. Der Stadtkommandant versperrte den Rückweg, der König griff von vorm an. Gaal sah sich in der Falle, Der Stadtkommandant schrie ihm nach: "Na, Gaal, was kommt wohl dort von den Bergen herunter und jagt an der heiligen Eiche vorbei, Du Großmaul., sieh zu, wie du damit fertig wirst. Du wolltest doch die ganze Stadt in deine Kontrolle bringen!"
Dann führten des Königs Truppe und die wieder Tritt fassende Stadtpolizei vor, wie man mit Terroristen fertig wird.
2. Akt: Die Bürger glaubten, nun wäre alles vorbei, schließlich fuhr der König taktisch geschickt nach diesem Vergeltungsschlag in seine Residenz zurück, schien also weit genug vom Schuss. Aber es war keineswegs alles vorbei. Es hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Als man sich wieder wie gewohnt am nächsten Tag zur Arbeit auf den Feldern und in den Weinbergen begab, lag der König mit seiner Elitetruppe schon längst wieder auf der Lauer. Sie hatten sich in zwei Abteilungen geteilt, die eine Abteilung lag versteckt in den Bergen, die andere hatte einen Hinterhalt in der Nähe des Stadttors aufgebaut. Als die Bürger verschreckt von den Soldaten in die Stadt fliehen wollten, machten die Soldaten am Stadttor die Arbeiter nieder. Ehe man richtig wusste, was gespielt war, ehe jemand auf die Idee kam, das Stadttor zu verriegeln stürmten des Königs Soldaten schon die Stadt, zündeten die Häuser an und erschlugen jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.
Einigen gelang es, sich auf den Burgberg zu flüchten und sich im Bunker des Zentraltempels zu verschanzen, aber das half ihnen nichts mehr, Der König, maßlos in seinem Zorn wegen des Aufruhrs, befahl ein Schwelfeuer am Luftschacht des Tempels zu entzünden. In wenigen Stunden hatte man sie alle ausgeräuchert. Ungefähr tausend Männer, Frauen und Kinder mussten dran glauben. Unschuldig oder nicht; Hauptsache Ruhe war im Land. und wenn es Friedhofsruhe war.
Ob dem Stadtkommandanten seine Treue zum König geholfen hat? Wir wissen es nicht, aber das Chaos war ja sowieso schon ausgebrochen.

2.5.  Ein böses Nachspiel
Doch damit nicht genug! Es gibt ein Nachspiel ganz anderer Art, als der König es sich träumen ließ. Da ist ein kleines Landstädtchen, ein paar Kilometer weiter. Auch dort waren die Leute aufsässig geworden. Sie hatten nach der Meinung des Königs aus seinem Strafkommando gegen die Stadt zwischen den Bergen nichts gelernt. So stürmte der Herrscher mit seinen besten Soldaten auch diese Stadt, sozusagen als militärischer Übungs- und Routinefall: Erst die Stadt stürmen und dann den Tempelberg einnehmen.
Aber der Herrscher hatte nicht mit der Klugheit und Treffsicherheit einer schlichten Hausfrau gerechnet, die oben am Burgberg auf der Innenmauer stand. Sie sah den verwegenen König kommen und warf ihre steinerne Handmühle nach ihm. Sie traf gut und nun zu spät für den, der der Größte sein wollte. Es änderte nichts an diesem unwürdigen Ende, dass der Waffenträger des Königs ihn mit dem Schwert durchbohrte, damit nicht die Schande auf diesem Mann für immer bleiben würde: Von der Handmühle einer Hausfrau zu Tode getroffen, geradezu peinlich und lächerlich, aber dennoch tödlich.

3.  Bilanz: Die Stadt und ihre Akteure
Übrigens der ehrgeizige junge Mann hieß Abimelech; er war ein Typ, der über Leichen ging; sein berühmter Vater, der "Große Richter", hieß Gideon, er war Führer über Israel; in seiner Regierungszeit gelang es seinem Volk, Frieden zu halten und auch den politischen Einfluss in die Umgebung auszudehnen. Dadurch geriet auch Sichem, die Stadt zwischen den Bergen Ebal und Garizim in die Abhängigkeit der Israeliten, den nomadischen Einwanderern aus der Wüste.
In Sichem hatte schon einmal ein Großer das Volk versammelt (Jos.24): Josua, der Nachfolger des Mose. Von diesem Ort stammt seine Bekenntnis: "Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen". Er bekannte sich zu Gott, der das Volk aus der ?düste in das Kulturland gebracht hatte. Der Stadtgott von Sichem mit seiner kanaanäischen Bevölkerung hieß auch Gott, Bundesgott oder im Jargon der Priester "Bundesbaal". Der Gott, der Israel ins gelobte Land brachte machte Geschichte. Abimelech, von dem man nicht weiß, wie er wirklich über den Gott Israels, Jahwe, und den Gott von Sichem, den Bundesbaal, dachte, wollte jedenfalls allein Geschichte machen, Jahwe hin und Bundesbaal her.
Er verrechnet sich gehörig, weil er Gott nicht in seine Rechnung einbezieht; und seine Geschichte verliert sich in Unglauben und Chaos.
Aber denken wir auch an den Bruder des Abimelech, den jungen Mann auf der Felsenkanzel; sein Name war Jotham. Er hatte nicht nur Zivilcourage, sondern auch einen festen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes. Darum hielt er dort oben diese lebensgefährliche Rede, ein Gleichnis zum Aufrütteln. Er wusste Gott auf seiner Seite; darum legte er den Finger auf das Unrecht, das seinen Bruder, den skrupellosen Aufsteigertyp nicht im geringsten erschütterte. Er sah nicht nur Tatsachen, er sah hinter die Tatsachen. Er hätte verzweifeln können, aber er zweifelte nicht, dass Gottes Gerechtigkeit Geschichte macht. Wie, das wußte er dort oben im Felsen nicht. Jotham behielt Recht, Gott setzte Jotham ins Recht, ein Recht, das allerdings nicht immer leicht zu erkennen ist. Die Erzähler, denen wir diese Geschichte verdanken nahmen kein Blatt vor den Mund.
Wie das Leben die Karten so mischt, könnte man denken, damals schon und heute auch noch oder schon wieder. Denn Leuten, die alle Macht an sich reißen wollen, sollte man sehr distanziert gegenüberstehen, wie Jotham dem Abimelech. Aber auch Leute, die um des Profites willen, die Moral wechseln wie die Hemden, sollte man nicht so schnell auf den Leim der steigenden Zinsen und der hochprozentigen Gewinne gehen.
Auch über den Namen der Stadt "Sichem" sollte man sich nicht täuschen; solche Städte wird es immer wieder geben, selbst wenn sie zehnmal in Schutt und Asche liegen.
Was nun die Leute betrifft, die Gott im Munde führen wie die Priester von Sichem oder den Aufrührer Gaal: Wer Gott im Munde führt, um eigene Interessen durchzusetzen, ist nicht minder gefährlich wie Abimelech.
Der Name Gottes spielt dabei keine entscheidende Rolle: Bundesbaal, Jahwe, Allah und schlicht Gott. Jeder, der den Namen Gottes in den Mund nimmt, sollte wissen: Gott lässt sich nicht für die eigenen Zwecke einspannen: Gott bleibt Gott; er macht Geschichte, wir machen höchstens Geschichten. Aber er macht Geschichte durch uns, nicht die Götter, die wir für unsere Siege beanspruchen, wie Abimelech, dem Gott der Macht oder wie Gaal, dem Gott des Terrors oder wie jene Frau, die Treffsicherheit ihrer Handmühle dem Gott ihres Landstädtchens zuschrieb:
Gott handelt hintergründig, nicht hinterlistig, Gott handelt im Gleichnis, ein Gleichnis, das den Hörer betrifft: Deine Geschichte steht zur Debatte.
Sicher, man kann auch Jothams Fabel missverstehen, entweder, dass man sie nur als hübsche Geschichte nimmt, oder, dass man Konsequenzen auf Kosten seiner Mitmenschen daraus zieht: Wenn der andere böse ist, habe auch ich ein Recht böse zu sein.
Das ist ein böses Missverständnis. Und letztlich haben solche Missverständnisse verheerende Folgen. Das klingt unheimlich drastisch, wie das für Gaal, den Aufrührer und Abimelech, den König, erzählt wird; es ist aber auch so gemeint – als warnendes Beispiel.
Die Gaals und die Abimelchs, die Stadträte von Sichem und die Geld gebenden Priester sterben nicht aus. Darum sollte man es nicht soweit kommen lassen, dass erst einer seiner Stimme erheben muss gegen die Brutalität und gegen das Unrecht. Man sollte es auf keinen Fall soweit kommen lassen, dass man – um Gottes Willen – zur Handmühle greifen muss.
  
4.  Voraussetzungen und Begründungszusammenhänge für die Art der Erzählweise
1.  Wer die Geschichte in der Bibel nachliest, wird zum einen erstaunt sein, welches Erzähljuwel im Blick auf den Rahmen als auch auf die Fabel selbst hier vorliegt. Der Erzählung zugrunde liegende Text umfass insgesamt Richter 8,30-9,57.
2.  Zum andern fällt natürlich bei der vorliegenden Nacherzählung gegenüber dem Bibeltext auf, dass es sich hier um eine teilweise recht freie Variation zu Richter 9 handelt. Diese Freiheit ist m.E. jedoch theologisch verantwortbar und soll im Folgenden noch etwas weiter verdeutlicht werden.
3.  Zum dritten kann man sich schon beim Lesen dem Originaltextes nicht des Eindrucks erwehren, dass Gottes Handeln und politisches Handeln eng zusammengehören. In der Art, -wie der Erzähler Im Richterbuch die Ereignisse berichtet und seine Bilanz zieht (Ri 9,56.57), betreibt er auf seine Weise politische Theologie; denn was damals in Sichem geschehen ist, wird in einen Reflexionszusammenhang gebracht, der viele verschiedene Elemente enthält, d.h. im Blick auf den Satz von der Gerechtigkeit Gottes theologisch elementarisiert wird: Gott vergilt das Böse, um sein Heilshandeln nicht in Misskredit zu bringen. Dahinter steht auch, dass Gott in Abimelechs Vater Gideon handelte. Das gilt nun auch im Blick auf den Mord des Abimelech an seinen Brüdern. Zugleich wird die Jothamfabel als ein Fluch angesehen, der sich bitter erfüllt.
Der Gedanke der Gerechtigkeit Gottes, allerdings weniger In Hinsicht auf das Vergeltungsprinzip, sondern mehr im Blick auf die notwendige Lebensveränderung versuchte ich mit meiner Bilanz am Schluss beizubehalten. Dass man dabei nicht im Damals stehen bleiben kann, sondern dass Erfahrungen von früher neu konkretisiert werden müssen, das sollen die Anklänge ermöglichen, die die HörerInnen und LeserInnen durch die Nacherzählung assoziieren. Damit kommt gerade von einer alten Erzählung und einem zeitlosen Gleichnis eine politische Dimension ins Spiel, die deutlich macht, dass die Erzähler damals bereits ein Stück weit politische Theologie betrieben. Er tut das allerdings so, dass Gott die Mitte der Geschichte selbst dann bliebt, wenn scheinbar überhaupt kein Bezug erwähnt wird, Gott sich sozusagen im Hintergrund hält. Darauf bin ich in meiner Bilanz besonders eingegangen: Gott handelt hintergründig, nicht hinterlistig, und Gott stellt die jeweils eigene Lebensgeschichte zur Disposition.
Übrigens bereits am Schluss von Richter 8 sind bereits die Bedingungen für das Chaos von Kap. 9 bei Gideon zu sehen: die vielen Frauen, der Abfall der Israeliten von Gott und ihre Zuwendung zum - Stadtgott von Sichem, der im Namen dem Gott Israels sehr ähnlich klingt: Dem Bundesbaal oder Bundesgott steht auf einmal JHWH, der Bundesgott vom Sinai gegenüber. Der Hintergrund ist also weiter, als die folgende Geschichte ausführt. Dass aber Gott und der Glaube bzw. Unglaube in Bezug auf JHWH eine erhebliche Rolle spielen, steht außer Zweifel.
Mit dem Beginn von Kap. 9 versuche ich ziemlich sinngetreu, teilweise im Anklang an wörtliche Rede, die Geschichte nachzuerzählen.
Dass die Priester bei der Königswahl eine nicht unerhebliche Rolle spielen (und dass ich auf diese Weise das kirchenkritische Element einbringe), scheint mir mit 9,6 gegeben zu sein, weil die Bewohner des Millo, also des Tempelbergs und damit die Priester und entsprechende „Elitekader“ eine tragende Rolle spielen.
Auch die Jothamfabel selbst erhält als Ergänzung nur aktualisierende Anklänge, die im Text selbst begründet liegen. Der Sarkasmus, der in der Antwort des Dornbuschs steckt, kommt durch eine Tendenz zur heutigen Umgangssprache noch stärker heraus,
Der Ort, an dem Jotham seine Fabel erzählt, ist sicher nicht der Berg Garizim, sondern am Berg Garizim, dies spielt für die Geschichte selbst auch keine Rolle, wie überhaupt die Geografie zweitrangig und der Effekt entscheidend ist. Darauf konzentriere ich mich bei Jotham, aber auch bei weiteren exegetischen Eingriffen oder Textveränderungen.
Ich habe darum aus dem Original herausgenommen, dass Gott einen bösen Geist zwischen Abimelech und die Männer von Sichem schickte (Ri 9,23), um die Hintergründigkeit des Wirkens Gottes noch stärker, aber auch interpretatorisch offener zu betonen. Mir schien überdies die unklare Überlieferung der Wegelagerei einerseits und des Aufruhrs Gaals andererseits dazu zu nötigen, eine eigene und neue Fassung herzustellen, die beide Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang bringt, die Erzählung, wie sie vorliegt, ist ein Versuch dafür. Sicher kann man darüber streiten, ob nicht manche Erzählzüge auch in die Nacherzählung hätten aufgenommen werden müssen (z.B. das Freudenfest auf dem Tempelberg zu Sichem (Ri 9,27ff), die Vernichtung Sichems durch Abimelech, die so total ist, dass es Wüste ist: er streute Salz an die Stätte (9,45) oder die weiteren Hinweise zum Akt des "Ausräucherns die sehr plastisch dargestellt wird (9,47-49). Dazu aber ist jede Nacherzählung viel zu sehr Provisorium, als dass die vorgeschlagene Fassung Endgültigkeit beanspruchen könnte. Wenn sie aber dazu anregt, mit dieser Geschichte direkt und indirekt aktualisierend umzugehen, ist ihr Sinn im Blick auf gegenwärtige Situation einigermaßen gerechtfertigt.

5.  Ansätze neuer Menschlichkeit – gerade in Fabeln
Wer nach Menschlichkeit fragt, sollte in besonderer Weine erfundene Wahrheit auf diese Intentionen hin überprüfen. Was liegt in diesem Zusammenhang näher, als  Fabeln auch unter dienen Gesichtspunkten neu zu lesen. Glücklicherweise gewinnt diese Erzählgattung wieder eine größere Breitenwirkung. Auch die Literatur hat in diesem Bereich zugenommen. Die hier neu erzählte Fabel soll darauf verweisen, dass in Fabeln sowohl aus der Erzähltradition der Völker, als auch den neu erfundenen – wie etwa bei Gotthold Ephraim Leasing, Clemens Brentano und Wolfdietrich Schnurre  eine auf Zukunft bezogene Lebensklugheit zum Ausdruck kommt. Die Intentionen gehen einmal bei den Fabeln besonders darauf hin, dass der Kleine und Schwache den Sieg davonträgt. Darum sind echte Fabeln kurz und prägnant. Zum anderen versuchen Fabeln mit ihrer „Moral“  zu zeigen, dass durch den Sieg den "Guten" eins neue Menschlichkeit Gestalt gewinnen soll, die Lebensräume eröffnet und Freiheit ermöglicht. Zwar kommen besondere in den Fabeln  Grausamkeiten vor, aber sie sind gewissermaßen die Negativfolie, die Mut zu einem Leben aus der Liebe machen will. Auch aus diesem Grund gehören Fabeln in den Religionsunterricht, dann die Weisheit, die sich in ihnen ausspricht, erinnert nicht nur an allgemeine Lebensweisheiten und Überlebensklugheit, sondern macht auf eine Lebenstiefe aufmerksam, die auch. bei Jesus anklingt, wenn er in seinen Gleichnissen die Gottesherrschaft ansagt oder Matthäus Jesus sagen lässt "Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!" (Mt 10,16).
War Nachfolge Jesu in der Konsequenz solchen Mutes zum Leben sieht, wird Fabeln gern zur Aufarbeitung unterrichtlicher Themen mit heranziehen, weil ihre Lebendigkeit nicht nur Freude in den Unterricht bringen kann, sondern zugleich heilsame Freiheit ansagt, die man letztlich immer nur geschenkt bekommt. Auch wenn in der Bibel Fabeln selten sind – im Grunde nur Jothams Fabel vom Dornbusch (Richt. 9) und vielleicht noch die Geschichte von Bileams Esel, die aber eher zu den Märchen gehört (4. Mose 22), aber sie sind Teil der narrativen Traditionen, die für die Bibel typisch sind. Hebräische und christliche Bibel ermuntern darum gerade im Blick auf die von Gott, geschenkte Menschlichkeit, alle Versuche wahrer Menschlichkeit anzubahnen und aufzunehmen. Der Religionsunterricht dürfte sicher dafür der geeignete Ort sein, und die LeserInnen mögen selbst prüfen, wieweit „Jothams Fabel“ die gestellte Aufgabe erfüllt

Der Originaltext in deutscher Übersetzung: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/ri9.html

Literatur
  • Allgemein zum Buch Richter, s. Bibelkommentare
  • Christoph Dohmen. Die Bücher Josua und Richter. Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament Bd. 5.
    Stuttgart: Kath. Bibelwerk 2006
  • Walter Gross: Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament / Richter. Freiburg u.a.: Herder 2009 (umfangreiches wissenschaftliches Werk)
  •  Hans Wilhelm Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth. ATD 9. Göttingen: V & R  1985,
    6. unveränderte Aufl., bes. S. 198-207
  • Otto Kaiser, Einleitung in das Alte Testament.
    Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1969, bes. S. 122,124
  • Antonius H.J. Gunneweg, Geschichte Israels bis BarKochba.
    Stuttgart u.a: Kohlhammer 1972, bes. S. 46-50
 © Reinhard Kirste
relpäd/Richter_9, völlig überarbeitet: 19.10.09

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