Bilder:
Jüdischer Friedhof Altena
Vorbemerkung
Das Achtzehn-Bitten-Gebet
Jüdischer Friedhof Altena
Vorbemerkung
Im Folgenden sollen Anschauungen dargestellt
werden, wie sie im heutigen Judentum vertreten werden. Deshalb wird die
religionsgeschichtliche Herkunft und Entwicklung einzelner Aussagen
des jüdischen Glaubens kaum erörtert, jedoch immer wieder auf Texte aus der traditionellen Liturgie
der Gottesdienste zurückgegriffen, die auch Grundlage des gottesdienstlichen
Lebens der jüdischen Gemeinden in Deutschland ist.
Zeichenerklärung:
b = babylonischer Talmud, im Judentum
kanonisch
j = Jerusalemer oder palästinensischer Talmud.
j = Jerusalemer oder palästinensischer Talmud.
Das Achtzehn-Bitten-Gebet
Dreimal täglich preist der Jude im
Achtzehn-Bitten-Gebet den Gott,
"der die Toten lebendig macht". Vollständig zitiert heißt diese
zweite Bitte des aus neunzehn Bitten bestehenden Gebetes:
Du bist mächtig in Ewigkeit, HERR,
der Du die Toten lebendig machst,
stark (bist Du), zu helfen.
Du ernährst die Lebenden in Güte,
Du machst die Toten lebendig in
großer Barmherzigkeit,
Du stützest die Fallenden und
heilst die Kranken, befreist die Gefangenen
und hältst Treue den im Staub Schlafenden.
Wer ist wie Du, Herr
der Macht, und wer gleicht Dir, König,
der tötet und lebendig macht und Heil sprießen lässt.
Und treu bist Du, Tote lebendig zu machen.
Gepriesen
seist Du, HERR, der die Toten lebendig
macht". (Eigene
Übersetzung)
Diese Bitte gehört "mit zu den
ältesten Bestandteilen des Achtzehngebets" (Schwaab, Emil: Historische
Einführung in das Achtzehngebet. Gütersloh 1913, 57) und reicht damit
vermutlich in die vormakkabäische Zeit, d.h. in die Zeit vor dem 2. Jh. v.u.Z.,
zurück (s. Ismar Elbogen: Der
jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. Nachdruck
Hildesheim: Olms 1967, 30). Die Bitte ist universal: Gott macht alle Menschen
auf der ganzen Welt lebendig, nicht nur jüdische (vgl. Elke Morgen Nieuw, 67).
Nur wer, wie die Sadduzäer, die Auferstehung der Toten leugnet, hat nach
rabbinischer Anschauung keinen Anteil an ihr bzw. an der künftigen Welt (vgl. b
Sanhedrin 90a).
Fünfmal wird in dieser Bitte
ausgesprochen, dass Gott "Tote lebendig macht", und einmal betont, dass
er "den im Staube Schlafenden die Treue" hält, wobei an die im Staub
ruhenden Leiber gedacht ist. Übrigens ist hier das hebräische Wort für
"Staub" dasselbe wie in Genesis 3,19: "Denn Staub bist du und
zum Staub wirst du kehren." (Übersetzung nach Martin Buber). Der Begriff
"Staub" ist Genesis 2,7 entnommen: "und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker."
(Buber). Auch wird in der obigen Bitte hervorgehoben, dass Gott "tötet und lebendig macht", womit
betont wird, dass auch der Tod von Gott verhängt ist, da es keinen Bereich
gibt, der Gottes Macht entzogen ist. Diese Wendung ("der tötet und
lebendig macht") hat ihre Quelle in der Tora, wo Gott nach Deuteronomium
32,39 sagt: "ich töte und mache lebendig". Der Talmud deutet diese
Stelle folgendermaßen: "Die Rabbanan (Ehrentitel rabbinischer Gelehrter)
lehrten: Ich töte und mache lebendig;
man könnte glauben, er töte den einen und mache den anderen lebendig, wie es
gewöhnlich in der Welt zugeht, so heißt es: ich
verwunde und schaffe Heilung; wie die Verwundung und Heilung an derselben
Person erfolgt, ebenso erfolgt auch die Tötung und Belebung an derselben
Person. Hieraus entnehme man eine Erwiderung gegen diejenigen, welche sagen,
die Auferstehung der Toten sei nicht in der Tora zu finden." (Übersetzung
nach Goldschmidt).
Entsprechend sagt ein jüdischer
Mensch, wenn er den Friedhof betritt, folgendes:
"Gepriesen seist
Du, HERR, unser Gott, König der Welt, der euch gebildet hat nach dem Recht, der
euch speist und ernährt nach dem Recht, der euch
tötet nach dem Recht, der euer aller Zahl kennt nach dem Recht, der künftig
euch zurückkehren lässt und lebendig
werden lässt nach dem Recht. Gepriesen seist Du, HERR, der die Toten lebendig macht."
(eigene Übersetzung nach dem hebräischen Text im "Sefer Hachajim", 173).
(eigene Übersetzung nach dem hebräischen Text im "Sefer Hachajim", 173).
Betont wurde der Glaube an die
Auferweckung der Toten z.Z. der Entstehung der zweiten Bitte des
Achtzehngebetes gegenüber den Sadduzäern (s.o.), die meinten, mit dem Tode sei
alles aus (vgl. z.B. Apostelgeschichte 23,8. "die Sadduzäer sagen nämlich,
es gäbe keine Auferstehung", wogegen Paulus sich vor dem Hohen Rat als
Pharisäer und damit als Anhänger des Glaubens an eine Auferstehung der Toten
bekennt; V.6).
Der Glaube an die Belebung der Toten
kommt auch noch am Ende des Morgengebetes zum Ausdruck, nämlich in den von Mosche Ben Maimon (1135-1204), einem der
größten Gelehrten des Mittelalters, formulierten dreizehn Grundlehren des Judentums
(die jüdische Abkürzung seines Namens Rabbi Mosche Ben Maimon ist RaMBaM, die
griechische Namensform Maimonides). Die letzte dieser Lehren, und das könnte
eine Steigerung, eine Klimax, sein, lautet: "Ich glaube mit vollkommenem
Glauben, dass die Belebung der Toten zu einer Zeit sein wird, wenn es dem
Schöpfer gefallen wird (wörtlich: wenn die freie Entscheidung vom Schöpfer
ausgehen wird), gepriesen sei sein Name und erhoben sein Gedenken für immer und
in alle Ewigkeit." (eigene Übersetzung).
Der Talmud hebt hervor, dass die
Belebung der Toten zu den drei großen Dingen gehöre, zu denen Gott allein die
Schlüssel habe, wobei der Regen und die Geburt die beiden anderen sind (b Taanit 2a/b).
Der
jüdische Friedhof
Wegen des Glaubens, dass Tod und
Verwesung nicht das letzte Stadium sind, wird der jüdische Friedhof auch
"Haus des Lebens" (hebräisch "bejt hachajim"), in Mittel-
und Osteuropa auch "guter Ort" genannt. Letzteres kann
selbstverständlich auch als Euphemismus verstanden werden, hat aber wohl den
genannten tieferen Grund.
Der Tote wird immer mit dem Gesicht in
Richtung Jerusalem, also bei uns in südöstlicher Richtung, bestattet.
"Dort wird nach alter Überlieferung am Ende der Tage die Auferstehung der
Toten stattfinden. Die Körper der Frommen, die außerhalb des Heiligen Landes
beerdigt wurden, werden sich in Höhlen unter der Erde, die Gott ihnen machen
wird, zum Heiligen Land wälzen (hebräisch Gilgúl) und dort mit ihren Seelen
vereint werden (vgl. jKilajim 32c,17ff.). Für den Auferstehungsleib bleibt vom
verweslichen Leib ein Knochen (Knorpel) des oberen Rückgrats übrig, 'Lus'
genannt, der 'weder vom Wasser aufgelöst noch vom Feuer verbrannt noch in einer
Mühle zermalmt' werden kann" (Midrasch Wajikra rabba 18,1; vgl. Bereschit
rabba 28,3; nach Adalbert Böning:
Hebräische Inschriften auf dem jüdischen Friedhof in Schwelm. In: Beiträge zur
Heimatkunde der Stadt Schwelm und ihrer Umgebung. Neue Folge. 38. Heft. 1988,
S. 131).
Auferstehung
der Toten und Weiterleben der Seele
Jüdischer Glaube an eine Fortexistenz
nach dem Tode besteht also aus dem Glauben an eine Auferstehung der Toten, der
verbunden ist mit dem Glauben an ein Weiterleben der Seele. So wird der Tod
auch ein "Ausgehen der Seele" genannt (zum folgenden vgl. besonders
Wahle, Lehren, 293ff.). Erst dann, wenn die Seele den Körper verlassen hat, ist
der Mensch wirklich tot. Der hebräische Begriff für Seele ist an einer ganzen
Reihe von Belegstellen im Talmud "néfesch" (vgl. Genesis 35,18:
"Es geschah, als ihre néfesch hinausging"), während an anderen
Stellen dafür "neschamáh" steht, von der in Genesis 2,7 die Rede ist:
"und Gott blies in seine (scil. des Menschen) Nase neschamáh des Lebens,
und der Mensch wurde zu einer lebendigen néfesch." Es geht hier nicht um
die Frage, ob nach wissenschaftlicher Erkenntnis néfesch und neschamáh an
diesen Stellen nicht "Leben" und "Odem" bedeuten, sondern
um die Interpretation dieser Begriffe in der jüdischen Tradition. In Anlehnung
an Genesis 2,7 heißt es im jüdischen Morgengebet: "Mein Gott, die Seele
(neschamáh), die Du rein in mich hineingegeben hast, Du hast sie geschaffen, Du
hast sie gebildet, Du hast sie mir eingeblasen, Du bewahrst sie in mir und Du
wirst sie von mir nehmen und sie in mich zurückgehen lassen in der künftigen
Welt." Und am Schluss dieses Gebetes aus dem 2./3. Jahrhundert u.Z. heißt
es: "Gepriesen seist Du, HERR, der die Seelen in die toten Körper
zurückgehen lässt." (eigene Übersetzung; Text aus bBerachoth 60b).
Der Mensch erhält also nach
traditioneller Anschauung die Seele von Gott, dieser wird sie beim Tod aus dem
Körper zurückholen und einst - bei der Auferstehung der Toten - zurückgeben. In
der Zwischenzeit sind die Seelen bei Gott. Nach b Chagiga 12b befinden sie sich
mit den Seelen derer, die noch geboren werden sollen, und mit dem Tau, mit dem
Gott die Toten beleben wird, im obersten, dem siebenten Himmel. Diese
Vorstellung klingt auch im zur Erinnerung an Verstorbene gesungenen Gebet
"El maléj rachamím" (= Gott voller Erbarmen) an, wenn es da heißt, dass
der Körper im Grabe ruht, während die Seele sich im Gan Éden (wörtlich: Garten
der Wonne, vgl. Genesis 2,8: "Und Gott pflanzte einen Garten in
Eden"), dem Paradies, aufhält. Dieses Zitat findet man auch recht häufig
auf Grabsteinen. Fast immer steht aber auf hebräisch verfassten Grabinschriften
eine Abkürzung der diesem Gebet entnommenen, ursprünglich aus 1. Samuel 25,29
stammenden Worte: "Seine/ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des
Lebens!" Häufig ist auf den in der Landessprache verfassten
Grabinschriften die hebräische Abkürzung dieses Wunsches ein letzter Rest aus
der hebräischen Gebetssprache. Im Gegensatz dazu heißt es von dem Schicksal der
Seelen der Gottlosen, dass sie "weggeschleudert, zerrissen und
verbrannt" werden (Wahle, 297).
Nach bBerachoth 17a ist es die Meinung
Raws, eines Gelehrten des 3. Jahrhunderts u.Z., dass in der "künftigen
Welt die Gerechten dasitzen und sich am Glanze der Gegenwart Gottes (hebräisch
Schechiná, ein nachbiblischer Begriff, wörtlich übersetzt
"Einwohnung") ergötzen" (eigene Übersetzung). Nach anderen
erfreuen sich die Gerechten aber auch irdischer Genüsse (vgl. bKetubbot 111b):
"Sie (die Rabbanan, die Gelehrten) sagten: Nicht wie diese Welt ist die
zukünftige Welt; in dieser Welt muss man sich quälen, (den Wein) zu lesen und
zu treten, in der künftigen Welt aber wird man eine einzige Traube auf einem
Wagen oder einem Kahne holen, sie in einen Winkel des Hauses legen und daraus
wie aus einem großen Fasse brauchen; das Holz davon wird unter dem Kochtopfe
brennen." (Übersetzung nach Goldschmidt).
Bei
Gott sein
Die Gerechten sind also bei Gott, sie
stehen ihm sogar näher als die Engel (Weber, 345.163). Nach Midrasch wajikra
rabba 11 (Weber, 345) führt Gott den Reigen der Seligen an, die ihn ständig
preisen (Schemot rabba c.7; zitiert nach Weber, 345). Nach Jalkut Schim.,
Beresch. 20 (zitiert nach Weber, 345, mit modernisierter Orthographie) sieht
das Paradies folgendermaßen aus:
"Zwei Pforten von
Rubinen führen in das Paradies. An demselben stehen sechzig Myriaden heiliger
Engel, und eines jeglichen Angesicht glänzt wie der Glanz des Himmels. Wenn nun
ein Gerechter kommt, so ziehen sie ihm die Totenkleider aus und ziehen ihm acht
Kleider an von den Wolken der Herrlichkeit und setzen ihm zwei Kronen auf sein
Haupt, deren eine von Perlen und Edelgestein, deren andere aus Gold von Parvaim
(2 Chron. 3,6; Parvaim ist ein unbekanntes Land, aus dem das Gold stammt) ist;
auch geben sie ihm acht Myrten in seine Hand, preisen ihn und sagen zu ihm:
Gehe hin, iss dein Brot mit Freuden! Sie führen ihn an einen Ort, wo
Wasserbäche fließen, umgeben von achthundert Arten von Rosen und Myrten; und
jeder hat ein Zelt für sich, je nach dem Grade seiner Herrlichkeit (Jes. 4,5).
Und es fließen daraus vier Flüsse hervor, einer voll Milch, einer voll Wein,
einer voll Balsam und einer voll Honig. Über jedem Zelte ist ein goldener
Weinstock, und daran sind dreißig Perlen, deren jede wie der Morgenstern
glänzt. Unter jedem Zelte aber steht ein Tisch von Edelgestein und Perlen, und
sechzig Engel stehen über dem Haupte jedes Gerechten und sprechen zu ihm: Gehe
hin und iß Honig mit Freuden; denn du hast das Gesetz studiert, welches süßer
denn Honig und Honigseim ist (Ps. 19,11); trinke den Wein, der in den Trauben
seit der Schöpfung aufgehoben ist, denn du hast in dem Gesetze studiert, das
dem Weine gleicht (Hoheslied 8,2). Und der Hässlichste unter ihnen ist (so
schön) wie Joseph und Rabbi Jochanan (vgl. Baba
mezia 84a) an Gestalt.
Stücke von silbernen
Granatäpfeln sind gegen die Sonne ringsherum gehängt, und es ist keine Nacht bei
ihnen (Sprüche 4,18). Und es wird jeder in den drei Nachtwachen erneuert. In
der ersten wird er klein und geht an den Ort, wo die kleinen Kinder sich
freuen. In der zweiten wird er ein Jüngling und geht an den Ort der Jünglinge
und freut sich wie die Jünglinge sich freuen. In der dritten wird er alt und
geht an den Ort der Alten und freut sich wie die Alten. Und es sind in dem
Paradies achthunderttausend Arten von Bäumen in allen seinen Ecken, und der
geringste unter ihnen ist mehr zu preisen als alle Gewürzbäume. In jeder Ecke
sind sechzig Myriaden heiliger Engel, die mit lieblicher Stimme singen. Und in
der Mitte ist der Baum des Lebens, dessen Äste das ganze Paradies bedecken. Er
hat fünfhunderttausend Arten von Geschmack, von denen keiner dem andern gleicht;
auch ist der Geruch bei jedem anders als bei dem andern. Sieben Wolken der
Herrlichkeit breiten sich über dem Baume aus, und man schlägt von vier Seiten
her an seine Äste, damit sein Geruch von dem einen Ende der Welt bis zum andern
wehe." Selbstverständlich gibt es auch noch gewisse Unterschiede im Grade
der Herrlichkeit, die die einzelnen Frommen erreichen.
Tiefsinnig und schön ist die
Vorstellung vom Leviathan, dem
Urweltdrachen. Im Gegensatz zum babylonischen Mythos, wo der Urweltdrache eine
Gegenmacht zum Schöpfergott ist und von diesem bezwungen werden muss, ehe die
Welt geschaffen werden kann, ist er in der Bibel nur ein Geschöpf Gottes. Nach
bAwoda sara spielt Gott sogar täglich drei Stunden mit dem Leviathan (vgl.
Psalm 104,26), nach bBaba bathra 74b hat Gott von allen Lebewesen ein Paar
erschaffen, so auch vom Leviathan. Von diesen beiden heißt es:
"Hätten sie sich
miteinander begattet, so würden sie die ganze Welt zerstört haben. Was tat der
Heilige, gepriesen sei er? Er kastrierte das Männchen, das Weibchen aber tötete
er und pökelte es für die Frommen in der zukünftigen Welt ein." Warum Gott
mit dem Männchen spielt, aber das Weibchen eingepökelt hat, hat zwei Gründe:
einmal schickt es sich nicht, mit dem Weibchen zu spielen, und dann schmeckt
das Fleisch des Weibchens einfach besser. (Übersetzung nach Goldschmidt).
Diesseits
und Jenseits
Die eben erwähnte zukünftige Welt,
hebräisch "ha-olám habbá", ist einerseits "eine Bezeichnung für
die Welt des Jenseits, in welche die Seele nach dem Tode eintritt. Noch
häufiger aber ist unter ihr die Welt des Heils zu verstehen, die Gott in
Zukunft an Stelle der jetzigen Weltordnung treten lassen wird. Manchmal ist
nicht erkennbar, welche von beiden Bedeutungen gemeint ist. Das hat zum Teil
seinen Grund darin, dass in die Hoffnung auf die Welt des künftigen Heiles
durch ihre Verbindung mit dem Auferstehungsgedanken die Jenseitshoffnung
mithineingezogen wird. Ihrem ursprünglichen Sinne nach aber sind beide
Vorstellungen durchaus zu scheiden. Der metaphysische Gegensatz von Diesseits
und Jenseits lässt beide Welten zusammen bestehen. Die jenseitige Welt ist
eine künftige nur vom Standpunkt des Menschen aus, der nach dem Tode in sie
eingeht. Der Jenseitsglaube in diesem Sinne ist der Glaube an das Fortleben der
Einzelpersönlichkeit. Der Glaube an die zukünftige Welt des Heiles setzt eine
neue Welt an Stelle der jetzigen. Der Gegensatz ist hier vom Standpunkt der
Welt aus gefasst. Die jetzige Weltordnung gilt nur als eine provisorische und
erst die Zukunft wird den eigentlichen gottgewollten Zustand bringen."
(Jüdisches Lexikon, Bd. IV/1, Sp.559f.)
Da die Auffassungen des rabbinischen
Judentums, wie es sich im Talmud und in den Midraschim, den predigtartigen
Auslegungen verschiedener biblischer Bücher, zeigt, nicht einheitlich sind,
zieht Hedwig Wahle am Ende ihres
Aufsatzes "Die Lehren des rabbinischen Judentums über das Leben nach dem
Tod" folgende Schlussfolgerungen:
"Die einen (unter
den rabbinischen Autoritäten) sehen die Seele als das Wesentliche an, die anderen
hingegen den Leib. Die ersteren beschreiben daher das Leben der Seele nach dem Tode. Dieses ist
verschieden für die Gerechten und für die Frevler. Die gerechten Seelen
befinden sich in der Nähe Gottes, sie ruhen dort und warten auf die volle
Seligkeit, nämlich auf die Wiedervereinigung mit dem Körper bei der
Auferstehung. Die Seelen der Frevler hingegen werden in Gottesferne gedacht,
herumschweifend oder gepeinigt. Über ihr Los in der Endzeit finden wir nichts
Klares ausgesagt.
Die zweite Gruppe
sieht den Leib als das Wesentliche
an, daher sprechen diese Texte von einem Weiterleben des Menschen als Leib und
Seele, jedoch in einem verminderten Dasein. Auch hier wird das Los der
Gerechten und Frevler auseinandergehalten, obwohl über die Frevler kaum etwas
ausgesagt wird, höchstens dass ihre Leiber verfaulen. Über die Gerechten
erfahren wir, dass sie noch die volle Seligkeit erwarten. Es lässt sich demnach
aus den meisten Texten eine gewisse Vorläufigkeit des Zwischenzustandes
herauslesen. Dieser Zustand beginnt mit dem individuellen Gericht, welches in
manchen Texten vom Endgericht nicht deutlich unterschieden wird.
Doch alle diese
Gedanken sind für die Rabbinen nur nebensächlich. Es kommt ihnen vor allem
darauf an, die Schöpfermacht Gottes aufzuweisen. Gott hat den Menschen
erschaffen und erhält ihn am Leben. Auch Tod und Sterben stehen in Verbindung
mit Gott. Für jene Menschen, die gerecht lebten, die Gebote hielten und gute
Werke verrichteten, bedeutet der Tod ein Weiterleben mit Gott. Unmittelbar nach
dem Tod wird die Entscheidung gefällt, ob der Mensch zu den Gerechten oder zu
den Frevlern zu zählen ist. Lohn und Strafe nach dem Tod sind jedoch nach den
meisten Texten nur vorläufig. Auf die Zwischenzeit folgt eine Endzeit, in der
das Los von Gerechten und Frevlern ewig sein wird."
Das
Verständnis von der unsterblichen Seele im Reformjudentum
Es muss noch angemerkt werden, dass
das Reformjudentum, das im letzten Jahrhundert entstanden ist, die Lehre vom
Weiterleben der unsterblichen Seele verabsolutiert hat. Hier macht sich der
Einfluss des jüdischen Aufklärers Moses
Mendelssohn (1729-1786) bemerkbar, der seinerseits in dieser Frage stark
von Platons Lehre bestimmt war. So hat er z.B. Platons Dialog
"Phaidon", in dem dieser die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele
entwickelt, nachgedichtet (vgl. Moses Mendelssohn: Schriften über Religion und
Aufklärung. Darmstadt 1989, 201ff.: "Phädon oder über die Unsterblichkeit
der Seele"; vgl. Kohler, Grundriss, 221). Wie dieses Gedankengut sich
verbreitete, zeigt eine Festlegung der amerikanischen Konferenz der
Reformrabbiner aus dem Jahre 1869. Dort heißt es in Punkt sechs von sieben
Punkten, in denen diese Rabbiner die Grundlagen des Reformjudentums vorstellen:
"Der Glaube an eine Auferstehung des Fleisches hat keine Gültigkeit. Das
jüdische Verständnis der Unsterblichkeit bezieht sich ausschließlich auf das
Fortleben der Seele." In einer Folgekonferenz in Pittsburgh 1885 wird
diese Ansicht aufgenommen und verstärkt: "Wir bestätigen die Lehre des
Judentums, dass die menschliche Seele unsterblich ist. Dieser Glaube gründet
auf der Lehre vom göttlichen Charakter des menschlichen Geistes, der immerdar
Glück findet in der Gerechtigkeit und Unglück in der Ungerechtigkeit. Wir
verwerfen folgende nicht im Judentum wurzelnde Lehren: den Glauben an die
Auferstehung des Fleisches, an die Hölle (ge
hinnóm) und das Paradies (gan éden) als
die Orte ewiger Strafe und ewigen Lohnes."
In einer dieser Erklärung
vorausgegangenen Diskussion bemerkte ein Mitglied der Kommission, "die
orthodoxe Lehre von einem Lohn im Paradies und von einer Strafe in der
Hölle" (sei) "ausschließlich mittelalterlicher Unsinn und
größtenteils nichtjüdischen Ursprunges". Man stellt in dieser Äußerung
eine gewisse Abgrenzung gegenüber dem fest, was von dieser Richtung im Judentum
für ausschließlich christliche Lehre gehalten wurde. Dabei bemerkte man
offensichtlich nicht, dass "in dieser zentralen Frage der Eschatologie und
Theologie kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem pharisäischen Judentum
und dem Urchristentum" bestand (Ben-Chorin, Jüdischer Glaube, 302f.)
Übrigens wurde auf einer entsprechenden Konferenz 1937, in der manches andere
zeitgemäßer gestaltet wurde, diese Lehre in positiver Formulierung beibehalten:
"Der Mensch hat eine unsterbliche Seele." (Nach Soetendorp, Symbolik,
97).
Schalom
Ben-Chorin weist auf
weitere Vorstellungen über das Fortleben nach dem Tode innerhalb des Judentums
hin. Er vertritt u.a. die Meinung, "dass fast alle bekannten Vorstellungen
über Leben nach dem Sterben in das Judentum Eingang gefunden haben."
(Jüdischer Glaube, 306) und erwähnt neben den hier referierten Auffassungen
noch die von der Seelenwanderung (Gilgul HaNeschama) bzw. der
Seelenschwängerung (Ibur HaNeschama). Gemeint ist das Eingehen einer abgeschiedenen
Seele in eine lebende (Dybbuk). Diese Anschauung stammt aus der jüdischen
Volksfrömmigkeit des Chassidismus, die sie ihrerseits der Kabbala, der
jüdischen Mystik, entnommen hat (Ben-Chorin, 307). Einen Hinweis auf diese
Lehre sieht Ben-Chorin in einem Text aus dem sephardischen Ritus des
Nachtgebets: "Herr der Welt, vergib mir in allem, womit ich dich erzürnt
und beleidigt habe oder womit ich gesündigt habe gegen dich ... in dieser oder
einer anderen Verkörperung (be-Gilgul se bejn be-Gilgul acher)." So hat also
auch die Anschauung von einer Seelenwanderung, die wir sonst nur aus östlichen
Religionen kennen, Einzug in jüdische Kreise gefunden, wenn diese auch nur eine
Minderheit darstellen.
Zusammenfassung
Aus diesem kurzen Überblick über
traditionelle und neuere Anschauungen des Judentums über das Weiterleben nach
dem Tode ersehen wir, dass die jüdischen Vorstellungen sich insbesondere in der
Lehre der römisch-katholischen Kirche (und der orthodoxen Kirchen)
niedergeschlagen haben. Im neuen "Katechismus der katholischen
Kirche" (München etc. 1993, S.124, Nr.366) heißt es dazu: "Die Kirche
lehrt, dass jede Geistseele unmittelbar von Gott geschaffen ist ... und dass
sie unsterblich ist: sie geht nicht zugrunde, wenn sie sich im Tod vom Leibe
trennt, und sie wird sich bei der Auferstehung von neuem mit dem Leib
vereinen." Die evangelischen Kirchen lehren dagegen im Anschluss an die
Aussagen des Neuen Testaments und des Apostolischen Glaubensbekenntnisses
lediglich die "Auferstehung des Fleisches", d.h. des Leibes. --- vgl.
dazu Evangelischer Erwachsenenkatechismus. Gütersloh 1975, 888f ---
Benutzte und empfehlenswerte Literatur
(in Auswahl nach dem Stand von 2001)
(in Auswahl nach dem Stand von 2001)
---Ben-Chorin, Schalom: Jüdischer Glaube.
Tübingen 1975. S. 299-320.
---
Elke Morgen Nieuw: Inleiding tot de
Joodse gedachtenwereld aan de hand van de Schemonéh Essréh, het Achttiengebed.
B. Folkertsma-Stichting voor Talmudica. Arnhem-Neukirchen 1978. S.
66-71.147-165.
---
Encyclopaedia Judaica.
Jerusalem
1972, s.v. RESURRECTION. Vol.14,95ff.
--- Goldschmidt, Lazarus: Der babylonische
Talmud, neu übertragen von L. Goldschmidt. Nachdruck
Berlin 1964-1967.
--- Jüdisches Lexikon. Begründet von G. Herlitz und B. Kirchner.
Nachdruck Königstein 1982, s.v. AUFERSTEHUNG DER TOTEN. Band I, Sp. 566-568; OLAM HASE, OLAM HABA. Band IV/1. Sp. 559-563.
---
Kohler, Kaufmann: Grundriss einer
systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage. Leipzig
1910. S. 207-232.
---
Sefer Hachajim. Israelitisches Gebet-
und Erbauungsbuch. Hrsg. S. E. Blogg. 11. Auflage, bearbeitet von A. Sulzbach.
Frankfurt/Main 1905. Nachdruck Basel o.J.
--- Sidur Sefat Emet. Jüdisches Gebetbuch,
mit deutscher Übersetzung von Rabbiner S. Bamberger.
Nachdruck Basel 1960 u.ö.
Nachdruck Basel 1960 u.ö.
---
Soetendorp, Jacob: Symbolik der jüdischen
Religion. Gütersloh 1963. S.92-98.
---
Strack, Hermann
L./Billerbeck, Paul: Kommentar
zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch.
München 1926. Vgl. besonders das Register und die Exkurse in Band IV.2.
München 1926. Vgl. besonders das Register und die Exkurse in Band IV.2.
---
Talmud bawli. Jerusalem 1974.
---
TRE (Theologische
Real-Enzyklopädie) 4,443-450.
Auferstehung. I/2. Judentum (Günter Stemberger); (hier auch weitere
Literaturangaben)
---
Wahle, Hedwig: Die Lehren des
rabbinischen Judentums über das Leben nach dem Tode.
In: Kairos 14, 1972, 291-309. (Eine wichtige neuere Monographie.)
In: Kairos 14, 1972, 291-309. (Eine wichtige neuere Monographie.)
--- Weber, Ferdinand: Jüdische Theologie.
Ed. Delitzsch/ Schnedermann. Nachdruck Hildesheim 1975. S. 336-405.
Beitrag von Adalbert Böning, Hagen
Zuerst erschienen in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau (Hg.): Leben nach
dem Tode. Iserlohner Con-Texte Nr. 12 (ICT 12). Iserlohn (1993), 2001, 2. Aufl., S. 16–21
ICT 12/Böning-Tod-Juden,
aktualisiert, 11.03.08
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