Montag, 3. Oktober 2022

Christoph Elsas: Unterstützung der Allgemeinen Menschenrechte durch Psalm 8 und Mystik

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Erweiterter Gesprächsbeitrag von Prof. Dr. Christoph Elsas zur Geburtstagsfeier am 20. Juni 2022 für Prof. Dr. Erhard Gerstenberger und seiner Ausgestaltung zum Beitrag beim Workshop Human Rights in Ancient Near East, Israel and Hellas under Special Consideration of the Septuagint des ISBL
International Meeting Salzburg 20.7.2022.
Dieser Beitrag soll  erscheinen in: 
 Studies on the Theology of Septuagint Volume IV, WUNT

Für meinen alttestamentlichen Kollegen Erhard Gerstenberger, dem ich zum 90. Geburtstag diesen Beitrag über religionsgeschichtliche Kontexte zu Psalm 8 und Mystik hinsichtlich Menschenrechten widme, geht Israels Monotheismus auf Minderheits-Erfahrung zurück.1 Das verbindet ihn mit den neuzeitlichen Begründungen universaler Menschenrechte und auch der Mystik, die ich als Vermittlung zwischen ihnen und anderen religiös-kulturellen Traditionen thematisiere:

Die aus Europa als Minderheiten nach Nordamerika Ausgewanderten proklamierten in der Unabhängigkeitserklärung der USA 1776: „dass alle Menschen gleich geschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“ (that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights). Das stand in den Traditionen von Christentum und europäischer Aufklärung. Schon das Vorbild freiheitlicher Staatsform in der Demokratie Athens erkannte die gleichen Rechte allerdings nur männlichen Bürgern zu. Jetzt 1776 waren die vor den Euroamerikanern im Land ansässigen und die für sie versklavt ins Land gebrachten Menschen nicht mitgemeint. Neben der Theonomie dieser Erklärung der Menschenrechte steht mit der säkularen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in der Französischen Revolution ihr Verständnis als der Ausdruck des Allgemeinwillens im Dienst des allgemeinen Nutzens. Im Vorjahr hatte Immanuel Kant im Beschluss seiner „Kritik der Praktischen Vernunft“ von der dem Menschen eigenen „Bewunderung und Ehrfurcht“ gesprochen, die „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ erwecken.

Das klingt an Psalm 8 an und ermöglicht zugleich eine Vermittlung mit den Quellen unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Nur ist leider selten menschenfreundliche Verwirklichung der hohen Ideale von Menschenrechten zu bewundern, und dass sie durch Monotheismus oder Mystik unterstützt werden, nicht augenfällig – was haben Menschen nicht schon zu leiden gehabt, wenn andere das Verständnis von Monotheismus oder Mystik für sich vereinnahmten? So begegnet auch Psalm 8 schon seit über zweitausend Jahren ironisch gewendet in der Frage des biblischen Hiob an seinen Gott: „Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und bekümmerst dich um ihn? Du suchst ihn täglich heim und versuchst ihn alle Stunden.“ Und andererseits steht am Schluss doch die Gottesgewissheit: „Ijob entgegnete IHM, er sprach: ‚Ich habe erkannt, dass du alles vermagst … Höre doch und ich selber will reden, ich will dich fragen und du lass es mich kennen! Aufs Hörensagen des Ohrs habe ich dich gehört, jetzt aber hat dich mein Auge gesehn.“ (Hiob 7,17f und 42,1-5 in der Übersetzung von Martin Buber) Bleibt es nicht dabei, fragt Erhard Gerstenberger nach einem reichen Menschenleben, dass die beschreibenden Verbalisierungen der Gotteserfahrung sämtlich von kontextuellen Bedingungen abhängig und weitgehend Kreation unserer begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten im Reflex auf eine „schlechthinnige Abhängigkeit“ sind? Inwiefern kann dann ein „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ angesichts all der Mächte der Unmenschlichkeit das reale Praktizieren der Allgemeinen Menschenrechte unterstützen?

In einem neu erschienen Diskussionsband zur Menschenwürde hat Franz-Josef Bormann den Verfechtern einer kontingenten Interpretation der Menschenwürde die Anhänger einer absoluten Deutung der Menschenwürde in der Nachfolge Kants gegenübergestellt - die „auf die in Freiheit, Vernunftbegabung und Handlungsfähigkeit wurzelnde Anlage zur sittlichen Subjektivität jedes Menschen verweisen“. Ihr entspreche „ein universaler, egalitärer, unveräußerlicher, inkommensurabler und kategorischer Anspruch auf Achtung (sc. der Selbstzwecklichkeit des Menschseins).“ Es sei dann zu fragen, „welchen Beitrag eine Erinnerung an die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie dabei leisten kann.“2 Patristische und scholastische Traditionen sprechen - neben der verlierbaren Würde sittlicher Tadellosigkeit - von der unaufhebbaren Würde des Menschen, die aus seiner Gottebenbildlichkeit resultiert, die mit der Vernunftausstattung verbunden wird. Wenn das den herausgehobenen Status des Menschen „aus einer praktischen Perspektive durch eine besondere Verantwortlichkeit bestimmen“ soll, ist „nach den notwendigen Voraussetzungen einer Befähigung zur tatsächlichen Verantwortungsübernahme des Menschen zu fragen.“ So ist bei der unvergleichlichen Handlungsmacht des Menschen „zu berücksichtigen, dass die für das verantwortliche Handeln erforderlichen Einzelkompetenzen dynamische entwicklungsoffene Größen darstellen und entsprechend „die unverzichtbaren Minimalbedingungen der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme“ zu schützen sind. D.h. dass „schon die individuelle Anlage zu ihrem Gebrauch unter den Schutzbereich der Menschenwürde fällt.“3

In Psalm 8 sind - angesichts tiefer Verunsicherung durch den Verlust der irdischen Macht Israels im Exil - die Erwartungen an die Könige altorientalischer Großreiche ganz auf den Gott Israels gerichtet. Die Pyramidentexte Ägyptens rühmen den jungen Gott Horus als den Rächer seines getöteten königlichen Vaters Osiris, des Urbilds jedes Pharaos. Der spät- oder nachexilische Psalm 8 handelt von der Herrlichkeit des Herrschers Israels, der der Herr alles Geschaffenen ist, aber seine bleibende Macht, die er dem Menschen allgemein übergibt, gegen alles Feindliche auf hilflose Kleinkinder baut, wie Vers 3 zuspitzt. Aber der Vers steht nicht isoliert im Psalm, wie die Forschung öfters annahm. Denn vor allem die Kleinen leben deutlich aus der Liebe, mit der diese unermessliche Größe an sie denkt und sich ihrer annimmt. Von diesem Gott Israels wird ein jeder Mensch zum „Herrschen in den Grenzen der Schöpfung“ gekrönt4: Was menschlicher Mund – vom Kleinkind an - ausspricht, kommt aus dem Inneren, wo das Herz das Wichtigste ist, und auch, was sich erst zu Sprache entfalten wird, hat Teil an der Mächtigkeit des göttlichen Wortes. Denn Kinder sind nach biblischer Überzeugung eine Gabe Gottes, erfahren als Teil der Familie ihre Menschenwürde, werden nach Joel 2,16 auch schon als Säuglinge in die gottesdienstliche Versammlung einbezogen und treten als Erben der Verheißung in den Bund Gottes mit seinem Volk ein.5

Solange sie ihre Bundesverpflichtung noch nicht voll wahrnehmen können, gelten Kinder als unmündig. In der Jesus-Tradition wurden gerade Kinder das Beispiel für alle, die als unmündig, beladen oder stigmatisiert gelten, und werden in ihrem Verhältnis zur Gottesherrschaft hervorgehoben – sie treten Gott mit leeren, offenen Händen gegenüber (Mk 9-10). Damit spielen für Menschenwürde vorzuweisende ausgebildete Fähigkeiten zu Erkenntnis, Sprache und Verantwortung keine Rolle, sondern das „Geheimnis des Wesens der Ursprungsmacht“6. Nach der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte durch die UNO nach dem Zweiten Weltkrieg ist jetzt seit 1990 auch die von der UN-Vollversammlung einstimmig angenommene Kinderrechtskonvention völkerrechtlich in Kraft: Kinder bedürfen wegen ihrer mangelnden körperlichen und geistigen Reife des besonderen Schutzes - so ist ihnen der Anspruch auf Fürsorge und Unterstützung zur harmonischen Entfaltung ihrer Persönlichkeit zuzusichern.

Auch wenn der normative Kern des Würdebegriffes geltungstheoretisch unabhängig ist von spezifisch religiösen Vorstellungen, können Überlegungen zu Psalm 8 das säkulare Recht zusätzlich einsichtig machen, denn der Psalter Davids gehört zu den Traditionen von Judentum, Christentum und auch Islam. Nach den Klagen über die gottlosen Feinde in den Psalmen 1-7 dankt dieser Psalm 8 in seinem Lob des Schöpfers für das Bollwerk gegen sie und führt das ausgerechnet auf Kleinkinder zurück: Dass sie allein hilflos sind, mindert nicht die königliche Stellung und Berufung der ganzen Menschheit, mit Gott für seine wunderbare Schöpfung zu sorgen.7 Entsprechend übersetzt der Psalmen-Kommentar von Dieter Böhler 2021 Psalm 8,2b.3: „Der du deinen Glanz verleihst über den Himmel, auf den Schrei von Kindern und Säuglingen hin hast du gegründet eine Feste, wegen deiner Bedränger, um einhalten zu lassen Feind und Rächer.“ Dazu weist Böhler in seiner Auslegung darauf hin, dass „Gottes Name auf der ganzen Erde“ außer in den Versen 2 und 10 von Psalm 8 nur in Exodus 9, 16 ein Thema ist: Dort ist vorher - in Ex 3,14 - die Selbstkundgabe des Gottes Israels in der Namensoffenbarung „Ich bin da“ angesprochen, die ihn jetzt mit Pharao einen Machtkampf führen lässt, wer der wahre Gott sei. Für diesen Hintergrund kann Böhler auch – mit der Mischna - die spätalttestamentliche Tradition in der Weisheit Salomos anführen: Nach Weish 10,21 ist der Sieg über Pharao am Roten Meer auch von Kindern besungen worden; nach 11,7 wurde die Blutwasser-Plage gegen Ägypten für den angeordneten Kindermord verhängt; nach 18,5 war auch der letzte Schlag gegen Ägypten, die Tötung seiner Erstgeborenen und dann die Vernichtung der Heeresmacht Reaktion auf das Vorgehen gegen Israels Kinder; und vorher wird 12,5f die Landnahme als Bestrafung der Kanaanäer für deren Kinderopfer gedeutet. Ps 8,4-7 überträgt dieses von Israel in Ägypten bei seinem Gott erlebte „gedenken“ und „sich kümmern“ auf alle Menschen überhaupt: Denn „der Gott von Ex 1-9, dessen Namen Ps 8 feiert, ist eben auch der Gott von Gen 1 … Sein Name ‚Ich-bin-da‘ will ‚auf der ganzen Erde‘ V 2a.10) mächtig werden.“ Die wirkmächtig gewordene Deutung von Gottes Abwehrfeste gegen alles Feindliche in V 3 als Lob aus Kindermund, die Mt 21,15 zum Konflikt um Jesu Tempelreinigung zitiert, stammt aus der Septuaginta und dürfte auf die genannte Tradition in Weish 10,21 zurückgehen.8

Wie kann eine solche Zuspitzung von biblischem Denken globales Eintreten für den Menschenrechtsgedanken aufgrund der gleichen Würde aller Menschen unterstützen? Welche Ansätze ermöglichen Konvergenzen mit anderen Religionskulturen?9 Eine wichtige Rolle wird hier der Mystik seit der Übersetzung der hebräischen und aramäischen Bibeltexte ins Griechische der Septuaginta zukommen: Die Reflexion geht hier nicht aus vom menschlichen Ich, sondern wie in Jesaja 6 und Ezechiel 1 von der Herrlichkeit der Schau des Thronwagens Gottes bzw. wie in Psalm 8 seines Himmels. Von Israels Erfahrung mit diesem Gott geleitet, der seine kann der Mensch gegen Unterdrückung auf Gerechtigkeit setzen. Denn sie wird als die Ordnung des Schöpfers und Herrn der Welt bekannt, und im Griechentum lehrte sie Plato als die wahre, intelligible Weltordnung zu verstehen.

Was die Kinder betrifft, so freute man sich in der hochgeschraubten Zivilisation des Hellenismus an ihrer unverfälschten Natürlichkeit und stellte sie vor allem bei Spielen dar, wo sie mit aller Unzulänglichkeit ihrer Kräfte die Tätigkeiten von Erwachsenen nachahmten, auch kultische. Darin treten nach philosophischer Ansicht die Naturanlagen beim Kind in aller Reinheit hervor. Für die Stoa - die die Gleichheit aller Menschen lehrte - waren das die Integrität und Schönheit des Körpers und eine gewisse geistige Substanz als Anlage für späteres Streben nach der Tugend. Und eine besondere Rolle spielt die Darstellung der göttlichen Liebesmacht Eros als Kind.10 Mit der Tradition von Platos Symposion wurde dieser Eros eine Bezeichnung des menschlichen Triebes, den jeder und jede Einzelne als Anlage in sich hat: als der göttliche Funke in den Menschen, der sie zur ursprünglichen Natur zurückführt.11

Mit der Mystik kommen außer Monotheismus auch andere Deutungen der Abgründigkeit in den Blick, in die menschliches Leben eingetaucht ist. In der vom Platonismus geprägten Auslegungsgeschichte der Bibel war Kosmotheismus in hoch reflektierter Form als Monismus präsent.12 Eine Allgemeindefinition für Mystik hat von der etymologischen Verbindung mit Griechisch myô, myeô, mystêrion auszugehen: Versenkung in den verborgenen Seins-Grund und Identifikationswissen, bei dem die Sprache über sich hinaus verweist auf eine nur in Paradoxen anzudeutende personale Erfahrung letzter Realität.13 Im Westen war es das hellenistische Ägypten, das durch Handel über Alexandria dem Osten verbunden war, wo man im 1. Jh. dafür forderte, den Geist zu leeren und das alte Ich loszulassen. So sprach Philos jüdisch-platonische Interpretation von der Zuwendung des göttlichen Geistlichtes, vor der das Licht des menschlichen Geistes weicht (Hereses 265 zur Ekstase in Gen 15,12), und eine hermetisch-platonische Interpretation von der Erleuchtung des Menschen, der sich in seinem gesamten Denkvermögen mit der göttlichen Intelligenz verbindet (Asclepius 29). Erst die Interpretation gibt der Erfahrung im jeweiligen Kontext mitteilbare Bedeutung.14  Grundpositionen platonischen Philosophierens waren und blieben, dass Grund und Sinn nur vom überweltlichen, unbedingten Guten kommt, dass die menschliche Vernunft sich wahrhaft orientieren kann nur nach übersinnlichen Ideen, die dauerndes Sein haben und dass alles Sinnliche nur eine abbildhafte raum-zeitliche Erscheinung ist.

Platonisches Philosophieren ist mit der Verheißung verbunden, an das Göttliche anzunähern und anzugleichen – und dass das, was Gottähnlichkeit hat, nicht untergehen kann. Bis zu Plotins Neuplatonismus im 3. Jh. war in platonischer Tradition solche Angleichung an den Gott der sichtbaren himmlischen Ordnung zu vollziehen: durch möglichst vollkommene Abstraktion nach der via negationis und hilfsweise der via eminentiae und analogiae. Plotin lernte darüber hinaus in Alexandria, Lehren daraufhin zu prüfen, ob sie sich einer Folgerichtigkeit einfügen lassen, die wie vom Gott des Monotheismus Israels von einem höchsten Einen bestimmt wird: das oberhalb aller Aussagen steht und auf überrationalem Weg von einem reinen Sinn in seiner Evidenz erfahren werden kann. Damit kam es zur neuplatonischen kosmischen Mystik, weil dieses höchste Eine zwar von allem abgehoben ist und doch in einem jeden und in einer jeden gegenwärtig ist durch ein Element, das ihm sehr nahe verwandt ist.15

Die biblische Tradition gehört grundlegend durch das regelmäßige meditative Rezitieren der Psalmen mit der Mystik zusammen. Der Psalter war das Gebetbuch der exilierten jüdischen Gemeinschaft geworden und die Christen hatten von der Synagoge Schriftlesung und Gebet übernommen und mit ihrer Eucharistie-Feier verbunden – als dem Moment, wo die Gegenwart Gottes in Christus kommuniziert wird. Im 4. Jh. organisierte Pachomios die Einrichtung von Klöstern für gut 10.000 Mönche und Nonnen von Ägypten bis Syrien und erwartete von deren Gemeinschaften, die von Gott mit Jesus Christus und schon im Psalter Davids geoffenbarten Gebets-Worte auswendig zu lernen: Sie sollten mit ihnen leben, indem sie den ganzen Tag das Vaterunser und so viele Psalmen wie möglich sprechend und singend auf den Lippen hatten – um sich so deren spirituellen Gehalt durch die ruminatio, „das .Kauen des göttlichen Wortes“, anzueignen. Im syrisch sprechenden Christentum gab und gibt es für solches beständige Leben im Austausch zwischen Gott und Mensch durch Gebetsrezitation den Terminus qeryânâ, der im arabischen qur’ân bei der Gemeinschaft der Muslime seine Entsprechung fand.16

Der mit griechischer Sprache und der apophatischen platonischen Interpretation biblischer Theophanien wie bei Gregor von Nyssa bestens vertraute Euagrios Pontikos wurde Ende  des 4. Jh. in Alexandria Führer des gebildeten Mönchtums. Er hielt ausdrücklich zu Beten und Singen der Psalmen an, das rein war von Bildern, Gedanken, Konzeptionen.17 Spätestens mit ihm kamen in der mystischen Rezitation von Psalm 8 biblische und griechische Assoziationen zusammen (bei hê megaloprepeia sou hyperanô tôn ouranôn und dem folgenden ek stomatos nêpiôn kai thêlanzontôn): Die alles bestimmende Majestät des einen Gottes oberhalb aller Horizonte steht in engster Relation gerade zum seiner Zugehörigkeit zur Erdenwelt gemäß lebenden Menschen, der sich nicht – wie in der Tragödie - in Hybris überhebt und göttliche Macht anmaßt. Auch für Gebildete wurde deshalb die beste Absicherung auf Erden, wie für ein Kleinkind das Leben als Geschenk rein aus Liebe für einen jeden Menschen zu verstehen und an diesem Machtausüben des Höchsten auch das eigene zu orientieren.

Im griechisch-orthodoxen Christentum bezogen die Dionysios Areopagita zugeschriebenen Schriften um 500 die neuplatonische kosmische Mystik mit weltweiter Wirkung ein. Im 12. Jh. wurde im Westen die Nonne Hildegard von Bingen mit ihren visionären Schilderungen des Menschenanteils am Kosmos und der Schöpfungskraft Gottes als kosmischer Christus die wichtigste Repräsentantin der Frauenmystik.18 Auf beiden fußte um 1300 der hochgebildete Mönch Meister Eckhart. Seine Vermittlung zwischen individualistischem mystischem Überschwang und kirchenhierarchischer Reglementierung implizierte Kritik an exklusiven Festlegungen hier wie dort - wenn er predigt: „Wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne Weise sucht, der erfasst ihn, wie er in sich selbst ist; und ein solcher Mensch lebt mit dem Sohn (Gottes), und er ist das Leben selbst“ (3441f mit Pr. 5b Q) - denn „alle Kreaturen sind ein schlechthinniges Nichts“, d.h. nichts anderes als bedürftig nach Gott. Eckhart lehrte hierbei auch das Ideal der Jungfräulichkeit gleichbedeutend mit dem Wort „Kind“ so verstehen, dass der Mensch ebenso „frei und ledig ist, wie er war, da er noch nicht war“ (343 mit Pr. 4 und 2 Q). Entsprechend predigte er von der bei jedem Menschen möglichen Gottesgeburt in der Seele (344-349). Daraus folgerte er gegen die Tradition die gleiche Würde unter den doch wechselseitig zusammengehörenden Menschengruppen wie Herr und Knecht und argumentierte mit der Schöpfungsgeschichte für die gleiche Menschenwürde von Mann und Frau: Wo „die Natur von ihrem Werke ablässt, da hebt Gott zu wirken und zu schaffen an; denn wären nicht Frauen, so wären auch keine Männer“, und „als Gott den Menschen schuf, da schuf er die Frau aus des Mannes Seite, auf dass sie ihm gleich wäre – er schuf sie weder aus dem Haupte noch aus den Füßen …“ (356f mit Pr. 28 und 6 Q).

Erstaunlich parallel zu Meister Eckhart entwickelte vor ihm schon Ibn Arabi – und zwar als islamisch-theologisch und griechisch-philosophisch hochgebildeter Sufi-Meister von den Koranversen zu Adam und Eva her - seine Argumente für ihr ursprüngliches und im Kind wieder anschauliches Einssein und die gleiche Würde von Mann und Frau. Beiden, dem islamischen und dem christlichen Mystiker, ging es um die Vertiefung und Verlebendigung ihrer Tradition. Sie sind darin wichtig für monotheistische, sogar transkulturell auch schon für neuhinduistisch-monistische und sogar für neubuddhistisch-atheistische Fundierungen der Menschenrechte:

Aldous Huxley, der durch mit der kalifornischen Vedanta Society meditierte und über Drogen-induzierte Mystik publizierte, bekannte 1954, er habe durch Meskalin-Genuss die von Eckhart Istigkeit genannte nackte menschliche Existenz erfahren und kenne damit die Höhe der Kontemplation. Doch fehle ihm noch die Realisierung von deren Fülle wie in der vita activa von Martha, welche Eckharts Predigt 28 in der Interpretation von Lukas 10,38-42 über die vita contemplativa ihrer Schwester Maria stellte: die Realisation der Allgegenwart Gottes, die in der Welt tätig werden lässt.19 Ramakrishnas Schüler Vivekananda hatte zur Präsentation beim Weltparlament der Religionen“ auf der Weltausstellung in Chicago 1893 als altindische All-Einheits-Lehre von Selbst, Welt und Gottheit den bisher den Brahmanen vorbehaltenen Advaita-Vedânta popularisiert in den Westen gebracht. In dieser Tradition vom Guru als „Lebendes Wort“, sinnlich wahrnehmbare Form immanenter Transzendenz, wurde Huxleys Suche mit einem Riesenerfolg von modernen Meistern wie Chinmayananda und Dayananda aufgenommen: Sie lehrten die Originalquellen zur Atman-Brahman-Relation öffentlich als universale Botschaft für alle unabhängig von Kaste, Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Nationalität. 1990 charakterisierte eine Publikation der Chinmayananda Mission entsprechend das Leben in der All-Einheit durch „a profound concern for the problems of the world and an uncredible unconcern for their own.“20

Aus der altchinesischen Tradition ist die daoistische Mystik bekannt. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch im Mutterleib das Maximum der himmlischen Gabe des Lebens erhält, die dem göttlichen Potential im Kosmos entspricht. Diese „Früherer Himmel“ genannte Begabung ließ sich durch Ausbildung entwickeln und in Schutzritualen einsetzen.21 Auch das sonst als wu wei gelehrte Nicht Handeln ist ein Tun, das möglichst absichtslos ist wie das der Natur, ohne auf sich zu reflektieren – ein Gedanke, der im ostasiatischen Buddhismus aufgenommen worden ist. Hier erschienen ab 1961wichtige Bücher zu Meister Eckhart aus der Sicht von japanischem Zen- und Amida-Buddhismus. Keiji Nishitani betonte in seinem dafür grundlegenden Buch, dass das Selbst nichts ist, dass es ohnmächtig ist und das offene Feld für Erlösung und Liebe von der anderen Seite sein muss.22 Mystik kann also Brücken über viele Religionen und zur Fundierung von Menschenrechten aus deren Traditionen schlagen, was zu einem homogenisierten Angebot globaler Spiritualität führen kann.23 Die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften wahren dann die Pluralität, wenn sie in ihrer Dogmatik die je eigene Basis für Mystik und Begründung der Menschenrechte herausarbeiten.

Solche Mystik-Traditionen können die von Athens Humanismus und Demokratie angeregten säkularen Begründungen universaler Menschenrechte unterstützen. Und sie treffen sich darin mit den von Jerusalem angeregten, die sich wie Psalm 8 an der Menschenwürde und am Lebensrecht aller im Lob des Schöpfers als dem Bundesgott orientieren, der seine Herrschaft zusammen mit dem Menschen aufrichten will24 – nicht zuletzt im Blick auf die Kinder und Enkel25: Athen wandte sich gegen menschliche Hybris und Tyrannei. Jerusalem lässt in Ps 8,3 mit seinen vielen Stichwort- und Motivverbindungen zur Psalmensammlung 3-14 den Gott Israels der unwahrhaftigen Rede aller Feinde, die sich wie in Psalm 12 unterdrückerisch voller Hybris Weltherrschaft anmaßen, das wahrhaft Festgegründete entgegensetzen. Das kann es weltweit werden, was zu seinem Lob aufruft: Die Zusage des „Ich-bin-da“ auf den Schrei von Kindern und Säuglingen hin, die grundlegend die Angewiesenheit verkörpern, die allem Menschsein gemeinsam ist.26

Literatur:

Baier, Karl: High Mysticism. On the Interplay between the Psychedelic Movement and Academic Study of Mysticism, in Wilke 2021, 363-396.

Böhler, Dieter: Psalmen 1-50 (Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament),
Freiburg u.a. 2021.

Bormann, Franz-Josef: Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde,
in: Pfordten, Dietmar von der/ Philipp Gisbertz-Astolfi (Hg.), Menschenwürde.
Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit, Tübingen 2022, 127-145.

Brueggemann, Walter/ William Bellinger, Jr.: Psalms (New Cambridge Bible commentary),
Cambridge 2014.

Crüsemann, Frank: Die Macht der kleinen Kinder. Ein Versuch, Psalm 82b.3 zu verstehen,
in: ders. u.a. (Hg.): Was ist der Mensch? FS Walter Wolff, München 1992, 48-60.

Dafni, Evangelia G.: Genesis, Plato und Euripides (Biblisch-theologische Studien 108),
Neukirchen-Vluyn 2010.

Elsas, Christoph: Potentiale religiös-kultureller Traditionen zur Achtung von Menschenrechten,
in: Richard Faber (Hg.): Streit um den Humanismus, Würzburg 2003, 111-119.

--: Mystik in der Globalisierung, Berlin 2017.

Gerstenberger, Erhard S.: Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v.Chr.
(Biblische Enzyklopädie Bd. 8) , Stuttgart 2005.

Görg, Manfred: Der Mensch als königliches Kind nach Ps 8,3, in: BN 3,1977, 1-13.

Graham, William A.: Beyond the Written Word:
Oral Aspects of Scripture in the History of Religion, New York 1987.

Gutierrez, Miguel: Some Reflections about the Literary Structure and about the Anthropology of Psalm 8, in:
Grund-Wittenberg, Alexandra/ Annette Krüger/ Florian Lippke (Hg.): Ich will dir danken unter den Völkern:
Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur.
Festschrift für Bernd Janowski zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2013, 36-48.

Herms, Eilert: Würde des Menschen, in: RGG 8, 2005, 1737-1739.

Herter, Hans: Kind, in: Kleines Wörterbuch des Hellenismus. Hrsg. v. H. H. Schmitt/ E. Vogt,
Wiesbaden 1988, 369-375.

Hong, Jonathan: Der ursprüngliche Septuaginta-Psalter und seine Rezensionen:
eine Untersuchung anhand der Septuaginta-Psalmen 2;8;33;49 und 103 (BWANT 224), Stuttgart 2019.

Janowski, Bernd: Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten Testament,
in: ders. (Hg.): Der ganze Mensch: zur Anthropologie der Antike
und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012, 109-127.

King, Richard: From Mysticism to Spirituality: Colonial Legacies
and the Reformulation of “The Mystic East”, in: Wilke 2021, 453-466.

Kunz-Lübcke, Andreas: Gotteslob aus Kindermund.
Zu einer Theologie der Kinder in Psalm 8, in: Berlejung, Angelika/ Heckl, Raik (Hg.),
Mensch und König. Studien zur Anthropologie des Alten Testaments.
FS Rüdiger Lux (HBS 53), Freiburg i.Br. u.a. 2008, 85-106.

Neumann-Gorsolke, Ute: “Mit Ehre und Hoheit hast Du ihn gekrönt“ (Ps 8,6b).
Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, in: JBTh 15 (2000), 39-65.

--: Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten (WMANT 101), Neukirchen-Vluyn 2004.

--: „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen …“. Ps 8,3 im Spiegel der Teilkomposition Ps 3-14, in:
Grund-Wittenberg (s. Gutierrez) 2013, 15-35.

Ramelli, Ilaria L.E.: Mysticism in Middle and Neoplatonism in Judaism, ‘Paganism’,
and Christianity, in: Wilke 2021,29-53.

Reiter, Florian C.: Chinese Daoist Mysticism and its Practical Aspects, in: Wilke 2021, 343-359.

Schellenberg, Annette: Der Mensch, das Bild Gottes? (AThANT 101), Zürich 2011.

Wilke, Annette: Advaita-Vedânta, Mysticism, and Perennial Philosophy.
Outsider and Insider Discourses and the Opening of an Orthodox Monastic Tradition
by Swami Chinmayananda and Swami Dayanada, in:
Dies. / Robert Stephanus/ Robert Suckro (Eds.): Constructions of Mysticism as a Universal:
Roots and Interactions Across Borders, Wiesbaden 2021, 397-451.

Anmerkungen

1 Gerstenberger 2005.

2 Bormann 2022, 129.

3 Ebd., 137f

4 Neumann-Gorsolke 2004; vgl. dies. 2000 und 2013 im Rückgriff auf Görg 1977.

5 Dies. 2004, 48-51.

6 Herms 2005.

7 Kunz-Lübcke 2008; Brueggemann/ Bellinger 2014, 59-61.

8 Böhler 2021, 1722-175.180f.

9 Elsas 2003.

10 Herter 1988.

11 Platon, Symposion 191d-193d, dazu Dafni 2010,66).

12 Elsas 2017,66.

13 Ebd., 19.

14 Ebd., 19-21.

15 Ebd., 212f.217.

16 Graham 1987, 90.129-137.

17 Ramelli in Wilke 2021,44-48.

18 Elsas 2017, 217.

19 Baier 2021,368f.

20 Wilke 2021,399.445.

21 Reiter 2021, 343.347.

22 Elsas 2021, 358f.

23 King 2021, 461.

24 Gutierrez 2013, 46 sowie Elsas 360f. und Wilke 2021, 399.

25 Crüsemann 1992, 60.

26 Neumann-Gorsolke 2013, 17-22).

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