Samstag, 1. Dezember 2018

Unheilvolle Vergangenheit erinnern, um für eine heilvolle Zukunft zu lernen

Shoah-Mahnmal in Herne (2010)
Wegen mehrfacher Schändung ist das Denkmal
seit längerer Zeit eingezäunt
und teilweise verdeckt. 
Mehr zur Geschichte: hier
Pläne zum Schutz des Mahnmals im Rahmen
einer Neugestaltung
(WAZ , 28.02.2017)
Die Kulturwissenschafterin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2018, Aleida Assmann, hat in ihren Buch: Der Europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. (München: Beck 2018) als dritte Lehre gefordert, die historische Wahrheit als Basis für den Aufbau einer  neuen Erinnerungskultur zur Sprache zu bringen. Denn die Erinnerung hat es mit schwerwiegenden Verbrechen der eigenen Geschichte zu tun; darum muss sie  selbstkritisch sein, sie braucht die historische Forschung, und die Bedeutung der Zeugenschaft gewinnt neue Bedeutung. Denn in den "mündlichen Zeugnissen" werden die Wunden der Vergangenheit sichtbar.
Mehr zum Buch von Aleida Assmann: hier

Ein solches Beispiel sind die Erinnerungen einer Zeitzeugin aus Herne, die als Kind den Nationalsozialismus im Ruhrgebiet und in einem ostpreußischen Dorf erlebte.

Kindheitserinnerungen in der NS-Zeit
und während der Judenverfolgung

           Ich bin 1932 Im Januar geboren und wuchs während der NS-Zeit und der 
           Judenverfolgung auf. Besonders an einige Erlebnisse mit Juden erinnere ich mich
 noch heute.
          1938 befand ich mich im ersten Schuljahr, als ich zum ersten Mal bewusst mit Juden in Berührung kam. Das sind Erinnerungen an die sogenannte Reichskristallnacht oder Progromnacht. Wir wohnten damals schon mitten in der Stadt, etwa 200 Meter von der Hauptgeschäftsstraße entfernt und in der Nähe der Synagoge.  Die Nacht war unruhig, aber das war nichts Besonderes, denn vor unserem Haus befand sich ein kleiner Marktplatz. (Heute ein Parkplatz). Hier hielt die Hitlerjugend, nicht gerade leise, ihre Aufläufe ab. Auch wir Kinder spielten da. Als ich nach dieser Nacht zur Schule ging, die sich gleich um die Ecke befand, erklärte man uns: “Heute ist kein Unterricht, heute gehen wir über die Bahnhofstraße (Hauptgeschäftsstraße, die etwa einen Kilometer lang ist)
und sehen uns die vielen jüdischen Geschäfte an.“
          Wir wurden die Straße rauf und runter geführt und hörten bei jedem jüdischen Geschäft: “Da! Schon wieder ein Jude“. Wir sahen Glasscherben auf den Gehwegen, eingeschlagene Schaufenster, geplünderte Auslagen und eingetretene Türen. Vor jedem Geschäft standen SS Leute. Ein Nachbar aus unserem Haus war Geschäftsführer in einem zerstörtem jüdischen Tapetengeschäft. Obwohl er kein Jude war, wurde ihm der Zutritt zum Geschäft verwehrt, und er hatte somit seine Arbeitsstelle verloren.
          Ein Friseur betrieb auf dieser Straße einen Friseursalon. Er war kein Jude, hatte aber nach Meinung der Nazis ein jüdisches Aussehen. Er war klein, trug einen dunklen Vollbart und eine sehr starke Brille, da er sehr kurzsichtig war. Zu seiner Kundschaft gehörten viele jüdische Frauen. Als er morgens in sein Geschäft wollte, standen die SA oder SS-Männer davor und sagten zu ihm:
„Verschwind du Judenlümmel, oder willst du eins drüber bekommen?“
Darauf erwiderte er: „Was wollt ihr? Ich bin doch selber in der SA,
und das ist mein Geschäft“.
          Ich habe immer noch die rauchende, zerstörte Synagoge vor Augen. Heute befindet sich dort die AOK und auf einem Rasenstück davor steht eine Gedenktafel.

          Einige Zeit bevor die Synagoge zerstört wurde, fragte ich meine Großmutter: „Warum gehen wir nicht in diese Kirche? Die ist doch viel näher als unsere?“ 
          Meine Großmutter sagte:“ Wir sind doch evangelisch und gehen auch nicht in die katholische Kirche, obwohl die näher ist. Die Synagoge ist eine Kirche für Juden.“

Deutlich sind mir auch die Plakate mit Judenhass in Erinnerung:
Juda verrecke, Juden sind Volksschädlinge, Kauft nicht bei Juden,
Die Juden sind unser Untergang.

Auch wie Juden dargestellt wurden: sie seien schon am Äußeren zu erkennen: sie haben einen verschlagenen Blick, eine große krumme Nase (Judennase), sie haben eine gebeugte, kriecherischer Haltung; man erkennt Juden an ihren Namen, zum Beispiel: Kohn, Rosenzweig , Rosenkranz, Löw, ...

Ich glaube, ab 1941 mussten die Juden einen gelben Stern auf ihrem Kleidungsstücken tragen, bei den Frauen mit dem Namen Sara und bei den Männern mit dem Namen Israel.  Als ich zum ersten Mal auf unserer Geschäftsstraße eine Frau mit dem Stern auf dem Mantel sah, rief ich laut: “Mutti Mutti, ich will auch so einen Stern haben!“ Meine Mutter hielt mir schnell den Mund zu und sagte:
“Bist du still!“ Heute weiß ich, meine Mutter hatte Angst, denn der Feind hörte mit, was ja auf vielen Plakaten während der Zeit zu lesen stand. 

1943 (ich war 11 Jahre alt), wurden im April im Ruhrgebiet die Schulen in „bombensichere“ Gebiete ausgelagert. Meine Oberschule war vorgesehen, nach Pommern verschickt zu werden. Die Eltern hatten aber die Wahl, ihre Kinder entweder mit der Schule verschicken zu lassen oder zu Verwandten in bombensichere Gegenden zu bringen.  Meine Mutter brachte mich zu entfernten Verwandten in ein kleines Dorf nach Ostpreußen. Meine Tante war NS-Fürsorgerin und eine sehr überzeugte Volksgenossin.
Ein Ereignis mit einer jüdischen Frau habe ich bis heute nicht vergessen:  Ende August 1943 wurden Frauen und Kinder, sogenannte Bombenflüchtlinge, aus Berlin nach Ostpreußen verschickt. Auch unser kleines Dorf musste Frauen und Kinder aufnehmen. Sie wurden in Familien eingewiesen. Im Haus meiner Tante wohnte eine junge Frau mit einem Kind (ca. drei oder vier Jahre alt). Sie musste eine junge Frau mit einem kleinen Baby aufnehmen. Es war eine für mich auffallend hübsche Frau. Die Mieterin kam zu meiner Tante und war ratlos: Sie wüsste nicht, was die junge Frau habe; sie weine unaufhörlich und sage immer wieder: „Ich habe so große Angst“.
Meine Tante sprach mit der jungen Frau und bekam heraus, dass sie Jüdin sei und ihr Baby von einem SS Mann war. Meine Tante hatte nichts Besseres zu tun, als sofort zum „braunen“ Bürgermeister und Parteigenossen zu laufen. Das Ergebnis war, dass die Frau am nächsten Tag nach Berlin zurückgeschickt wurde. Mir war klar, die Frau geht in den Tod; denn einiges ich hatte schon aus den Gesprächen der Erwachsenen über Juden aufgeschnappt.
        
          In der Zeit vor der Kinderlandverschickung spielten wir Kinder zweier Straßen auf einem Platz, der zwischen den beiden Straßen gelegen war. Wir waren eine Clique, die nicht gerne mit anderen Kindern aus anderen Straßen spielen wollte. Unsere Eltern unterstützten das zum Teil, auch weil sie glaubten, in der vermeintlich „besseren“ Straße zu wohnen. Eines Tages tauchte ein Mädchen aus meiner Schule auf, das auf einer benachbarten Straße wohnte und mit uns spielen wollte. Sie war "Halbjüdin" und in der Schule sagte man, wir sollten uns von ihr fernhalten. Alle schauten verlegen auf ihre Schuhspitzen und traten von einem Fuß auf den anderen. Nur ich sagte etwas: “Du kannst nicht mit uns spielen. Du bist nicht von unserer Straße“.
          Ich traf das Mädchen Ende der 40er Jahre wieder, und sie sagte zu mir, dass sie eigentlich böse mit mir sein müsste, denn ich hatte ja damals gesagt: “Du bist nicht von unserer Straße. Du darfst nicht mit uns spielen.“
          Ich habe nicht gesagt, was der eigentliche Grund war.
Ich schäme mich heute noch für mein Verhalten von damals.
          Das, woran wir glauben mussten, endete für uns schlimm, und ich konnte es mir lange nicht vorstellen, ohne Hitler zu leben und es fiel mir schwer, zu akzeptieren, was im "Dritten Reich" passiert war.
          Was meine Mutter während dieser Zeit gewusst hat, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich aber, dass ich oft zum Spielen nach draußen geschickt wurde, wenn Erwachsene sich unterhielten. Wenn wir in der Stadt Bekannte trafen, hieß es:
         “Geh schon mal vor“ oder „Geh nach Hause“. Sie muss aber etwas gewusst oder geahnt haben, aber wohl nicht in dem Ausmaß, in dem es wirklich war.

Dieser Bericht wurde im Rahmen eines Seminars an der TU Dortmund im Wintersemester 2018/2019 diskutiert. Das Seminar hatte des Thema: Heilswege und und Brückenbauer (in den Religionen), mit einem besonderen Teil: Unheilswege - Auschwitz und der Holocaust
Details zum Seminar hier [besonders Abschnitt 3]. 

CC

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen