Dienstag, 6. Dezember 2016

Welche Religion hatte Abraham?

Melchisedek, der Priesterkönig von Salem (1. Mose 14) 
und das wandernde Gottesvolk im Hebräerbrief


Treffen von Abraham und Melchizadek,
Ölgemälde von Dierick Bouts (1410/1420-1475)

Dieser Text gehört nicht nur zu den geheimnisvollen und alten Traditionen der Bibel, sondern bringt auch ein religiöses Verständnis zum Ausdruck, das ein Gottesbild voraussetzt, auf das sich Abraham trotz eines anders gearteten Glaubens einlässt. Die Formulierung in 1. Mose 14,18-19 ist aufschlussreich (nach der Zürcher Übersetzung): »Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus; er war ein Priester des höchsten Gottes. Und er segnete ihn und sprach: Gesegnet ist Abram vom höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der höchste Gott, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat«. Zuvor war schon angemerkt worden, dass selbst der König von Sodom Abraham entgegen gekommen war.
Hubertus Halbfas merkt an, daß 1. Mose 14,18-20 und Psalm 110,4 die Erinnerung an eine jebusitische, d.h. kanaanäische eher ›polytheistische‹ Tradition bewahren, nach der Melchisedek zugleich oberster Priester und Stadtkönig von Jerusalem ist. Nach der Eroberung Jerusalems durch David übernehmen die israelitischen Könige diese ›heidnische‹ Tradition und bezeichnen sich ebenfalls als Könige ›nach der Ordnung Melchisedeks‹.[1]
Hier scheint also hinter allen Unterschieden der Göttervorstellungen, die in Kanaan beheimatet waren, die Vorstellung eines höchsten Gottes durchzuscheinen, der hinter all den Göttern steht, so dass die kanaanäischen Götter nur als Abschattungen dieses höchsten Gottes anzusehen sein könnten. Abraham und der geheimnisvolle Priester von Jerusalem haben einen neutestamentlichen Nachklang erhalten, indem Jesus diese umfassende Funktion des Melchisedek übernimmt. Damit wird auch im Hebräerbrief auf die umfassende Weite und Religionen überschreitende Bewegung des Glaubens hingewiesen (Hebräer 7):
»Denn dieser Melchisedek, König von Salem, Priester des höchsten Gottes … König der Gerechtigkeit, dann aber auch König von Salem, das bedeutet König des Friedens, heißt, ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum, der weder einen Anfang der Tage noch ein Ende des Lebens hat, vielmehr dem Sohne Gottes ähnlich gemacht ist, bleibt Priester für immer … denn es ist offenkundig, dass unser Herr aus Juda hervorgegangen ist; von Priestern aus diesem Stamm aber hat Moses nichts geredet. Und in noch höherem Maße ist dies ersichtlich, wenn nach der Ähnlichkeit mit Melchisedek ein anderer Priester bestellt wird, der es nicht nach der Vorschrift eines fleischlichen Gebots geworden ist, sondern nach der Kraft unzerstörbaren Lebens. Denn es wird über ihn bezeugt: ‹Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks‹.«
Das Ergebnis ist, dass die Christen des Hebräerbriefes, die sich am Ende des 1. Jahrhunderts offensichtlich mit dem jüdischen Kult auseinandersetzten,[2] nun einen solchen Hohenpriester in Jesus haben, der der Garant eines neuen und besseren Bundes ist. Der alte Bund mit Israel wird durch den neuen vollkommenen Bund abgelöst.
Der Hebräerbrief nimmt nicht nur den Gedanken des Priesterkönigs auf und projiziert ihn auf Christus, sondern er thematisiert auch die Wanderung Abrahams im Sinne des wandernden Gottesvolkes, das auf dem Weg zur Ruhe Gottes ist und dem die Engel als Begleiter dienen.[3] Abraham hat schon ohne sein Wissen Engel beherbergt, und dies geschieht nun auch denen, die Gastfreundschaft üben, den Pilgern auf dem Wege also eine Raststätte bereiten (Hebr 13,2).
Aber die Adressaten sind selbst Pilger auf dem Wege zu Gott (ähnlich wie Abraham, 
Hebr 11,8). Sie werden dann zur großen Ruhe eingehen, einer Ruhe, wo die Unterschiede aufhören und der Geist der Trennung in Konfessionen und Religionen nicht mehr weht. Diese Ruhe beschreibt der Hebräerbrief im 4. Kapitel, indem er die Sabbatruhe der ersten Schöpfung aufnimmt, um dem Gottesvolk die neue Schöpfungsruhe zuzusprechen. In diese Ruhe werden alle eingehen, die auf Gottes Stimme gehört haben, d.h. die geglaubt haben und nicht ungehorsam gewesen sind (Hebr 4,11). So gilt unter der Bedingung des Gehorsams gegenüber Gott unbeschränkt: »Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes« (4,9), die dann eintritt, wenn alle Werke getan worden sind. Um diesen Weg der Vollendung möglich zu machen, tritt dann der Hohepriester Christus ein.
Sicher sind all diese Überlegungen auf das Gottesvolk, d.h. auf die Christen bezogen, dennoch schimmert hier eine Grenzüberschreitung durch, die mit Bilde des aufrichtigen Herzens markiert wird.

Aus: Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen.Interkulturelle Bibliothek, Bd. 7. Nordhausen: Bautz 2006, S. 26-28
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[1]    H. Halbfas: Die Bibel erschlossen und kommentiert. Düsseldorf: Patmos 2001, S. 160.
[2]    z.B. Willi Marxsen. Einleitung in das Neue Testament. Gütersloh: 1963, 191.
[3]    Vgl. Ernst Käsemann: Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief.
        Göttingen: V & R 1961, 4. Aufl.

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