Samstag, 17. Dezember 2016

Jesus von Nazareth: Heilungserfahrungen jenseits religiöser Grenzen

See Genezareth mit Golan-Höhen (Wikipedia)
Es gibt viele Elemente, die auf Menschen unterschiedlicher Einstellungen vorbildhaft wirken. Die Bergpredigt hat z.B. für Gandhi vorbildhafte Bedeutung gehabt. Diese vorbildhafte und zugleich so menschlich nahe Vorbildrolle lässt sich etwa an zwei Geschichten erläutern, die über die eigene Religion (Judentum oder Christentum hinaus) Bedeutung gewonnen haben:

a)  Seewandel und Heilung           

     in Verbindung mit einer buddhistischen Geschichte
Die Speisung der 5000 (Mk 6,30-44parr), die Stillung des Sturms (Mk 6,45–52parr) und die Heilung der Tochter einer Syrophönizierin (Mk 7,24–30), ggf in Bezug zur Begegnung der Frau am Brunnen in Samaria (Joh 4,1–41) zeigen neben anderen neutestamentlichen Texten Möglichkeiten und Formen der religiösen Grenzüberschreitung, die der johanneische Christus so formuliert:
„In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen …“ (Joh 14,2)
Dass andere religiöse Traditionen ähnliche Geschichten überliefern und damit schon in der Antike grenzüberschreitendes Gedankengut sichtbar wird, kann man z.B. an den an den buddhistischen Jatakas (ca. 550 Erzählungen) sehen: http://www.palikanon.com/khuddaka/jataka/j000b.htm
Dort gibt es eine erstaunliche Parallele zum Seewandel (Nr. 190): http://www.dharmaweb.org/index.php/Jataka_Tales_of_the_Buddha,_Part_III
Ein Laienbruder, unterwegs zu seinem Meister Buddha, kam an das Ufer eines Flusses. Der Fährmann war nicht mehr da. Von freudigen Gedanken an den Buddha getrieben, ging der Bruder über den Fluss. Als er aber in die Mitte gelangt war, sah er die Wellen. Da wurden seine freudigen Gedanken an Buddha schwächer, und seine Füsse begannen einzusinken. Doch er erweckte wieder stärkere Gedanken an Buddha und ging weiter auf der Oberfläche des Wassers.
b)  Nacherzählung zum Seewandel
     und zur Heilung eines syrophönizischen Mädchens
  • Erinnerungen an die Speisung der 5000 (Mk 6,30-44)
  • Die Erscheinung auf dem Wasser (Mk. 6, 45-52)
  • Die unvergesslichen Begegnungen bei Tyrus (Mk 7,24-30)
  • Erlebnis in Samarien (Johannes 4,1-41), vgl. Johannes 14,2: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen ...“
Er war es leid, er war es wirklich leid. Die Wunder hatten ihn nicht nur körperlich, sondern auch seelisch geschafft. Dabei wollte er gar keine Wunder tun. Aber er hatte es nicht mit ansehen können, wie Tausende seiner Predigt begeistert gefolgt waren und nun hungrig und ermattet im Grase lagen. Da hatte er seine Jünger aufgefordert von dem bisschen, was sie hatten, der Menge zu geben. Und das Unvorstellbare geschah, Tausende wurden satt und liessen noch übrig. Da wollten die Leute ihn zum König machen, weil er so tolle Dinge tun konnte. Aber das hatte ihm gerade noch gefehlt. Immerhin war es Abend geworden und die Leute wollten denn doch nach Hause. Dazu mussten sie über den See fahren.
Die Jünger organisierten den Abtransport. Dann war es endlich ruhig. Es wurde auch still in ihm. Er betete. Als er aber seine Blicke über den See schweifen liess, sah er, wie seine Jünger mit tückischem Gegenwind zu kämpfen hatten, der ihr kleines Boot fast zum Kentern brachte. Das war so ungewöhnlich nicht für den See Genezareth. Aber musste das nun ausgerechnet heute Abend sein? Immerhin waren seine Jünger von diesem langen Tag auch ganz schön kaputt, und sie schienen keinen Zentimeter voranzukommen. Die Stunden vergingen, und dieser Sturm hörte nicht auf.
Gegen Morgen hielt es ihn nicht länger in der Einsamkeit. Er wollte vor seinen Jüngern am andern Ufer ankommen und sie empfangen. Da passierte es wieder - das Wunder. Sie sollten es gar nicht merken. Wie ein Geist huschte er über das Wasser. Als die Jünger jedoch diese Erscheinung sahen, gerieten sie in Panik. Was sollte er tun? Er redete ihnen gut zu und kam ins Boot. Mit einem Mal hörte der Sturm auf.
Es verschlug ihnen die Sprache. Das blanke Entsetzen stand noch in ihren Gesichtern. Und trotz der Speisung von Tausenden und dieser Begegnung auf dem Wasser - sie hatten noch immer nichts kapiert.
Die einen – besoffen von Wundergläubigkeit, die anderen verängstigt,
wenn Ungewöhnliches geschieht. Er hatte vorläufig genug von seinen Glaubensfreunden.
Er brauchte einfach einmal andere Leute. Die eigenen Frommen können einem ganz schön auf den Geist gehen.
Römischer Triumphbogen in Tyros (Wikipedia)
So ging er - wie schon so oft - ins Heidenland. „Heidenland“, das war ein beliebter Ausdruck der Frommen, wenn sie sich den ganzen Götzenkult und Aberglauben in der Nachbarschaft vor Augen hielten. Dorthin konnte er unerkannt gehen. Soweit hatten sich wohl seine Wunder noch nicht herumgesprochen. Es ist schon eine Last, ein Promi zu sein.
Aber da, in dieser Ecke vor Tyros im Süden des Libanon, da konnte er für sich sein. Doch er hatte sich gründlich getäuscht. Es dauerte gar nicht lange, da kam eine Frau zu ihm. Er machte sich zuerst keine Sorgen, erkannte er doch an ihrer Kleidung, dass sie keine Jüdin war. Sie hielt ihn an und erzählte ihm von ihrer kranken Tochter. Ein Dämon hatte sich in ihr eingenistet und drohte ihr, das Leben zu rauben. Es sprudelte nur so aus dieser gequälten Frau heraus, dann fiel sie auch noch vor seinen Füssen nieder, so dass er nicht weitergehen konnte. Sie flehte ihn an, den bösen Geist aus ihrer Tochter auszutreiben. Sie schaffte es einfach nicht mehr als Mutter.
Aber der sonst so milde Jesus hatte seinen schlechten Tag. Er schlug ihr gewissermaßen die Antwort um die Ohren: „Zuerst müssen die Kinder satt werden. Es ist nicht in Ordnung, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Mit dem Bild von den Hunden setzte er noch eins oben drauf, denn Hunde galten in Israel als unrein. Und jetzt verglich er diese arme Frau und ihr krankes Kind mit Hunden. Jeder kann sich die Reaktion auf so eine Beleidigung ausmalen, muss sie doch wie ein Ausdruck tiefster Menschenverachtung wirken.
Aber die Frau reagierte ganz anders, als es sich der Mann aus Nazareth erwartet hatte: „Gewiss, Herr, wandte sie ein, „aber die Hündchen bekommen doch wenigstens die Brotkrumen, die die Kinder unter den Tisch fallen lassen.“
Hündchen, hatte sie gesagt, wo er doch aussätziger Köter gemeint hatte. Vor seinem inneren Auge blitzte eine andere Geschichte auf, die er kürzlich in Samarien, dem sog. Ketzerland erlebt hatte. Bei wesentlich besserer Stimmung hatte er eine Frau am berühmten Jakobsbrunnen um Wasser gebeten. Damals hatte er alle frommen Vorurteile abgelegt: Zuerst hatte er als Mann eine Frau angesprochen, was eigentlich verboten war, und dann hatte er diese Frau angesprochen, die wahrhaftig einen liederlichen Lebenswandel führte und es auf sieben Männer in kurzer Zeit gebracht hatte, geschweige denn Ehemänner. Das sah man ihr auch an. Dazu musste man noch nicht einmal Prophet sein. Damals hatte er nicht den traditionsbesessenen Juden herausgekehrt. und wie wunderbar war diese Geschichte ausgegangen. Siedend heiss schoss ihm dieses Erlebnis durch den Kopf, und wie mit einem Windstoß, war seine ganze miese Stimmung und Aggression verflogen.
„Das ist ein Wort“, sagte er zu der Frau. Und er dachte: „Ich mit meinen Wundern bin doch eine Null gegen eine solche Frau, das ist doch Glaube und nicht das, was ich mache, und wenn es noch so wunderbar ist.“
Da spürte er trotz aller Müdigkeit und Abgeschlagenheit wieder diese innere Kraft in sich. Heiter und mild beugte er sich herunter zu der Frau und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist die Meisterin und ich der Jünger, geh nach Hause, deine Tochter leidet keine Qualen mehr.“
Die Frau ging nach Hause. Sie war noch ganz benommen. Als sie ins Zimmer kam, lag ihr Kind auf dem Bett und lächelte die Mutter an. Zum ersten Mal seit langem.
Der Mann aus Nazareth jedoch nahm sich vor, nie mehr einen Menschen wegen seines anderen Glaubens zu verachten. Er fing an, sich richtig wohl zu fühlen - im Heidenland.

Didaktische Anmerkungen
Nur am Rande sei erwähnt, dass es im Buddhismus eine Parallelgeschichte zur Speisung der 5000 gibt. Hier steht etwas anderes im Vordergrund- Durch die Neuerzählung wird zum einen interreligiöses Lernen möglich, wenn man/frau sich darauf einlässt, dass Jesus sowohl geografisch wie geistig das Territorium der jüdischen Religion verlässt. Die Einbindung mehrerer Geschichten in diesen Erzählzusammenhang ermöglicht zum anderen, den Auftrag Jesu unter verschiedenen Gesichtspunkten teilweise etwas abseits der üblichen exegetischen Auslegungen zu sehen:
·      Jesus widersetzt sich den klassischen Messiasvorstellungen, in denen der Messias ein irdisches Reich aufrichten wird.
·      Jesus wird bewusst mit seinen menschlichen Schwächen gezeichnet. Der dogmatische Topos der Sündlosigkeit wird um der menschlichen Glaubwürdigkeit und Authentizität Jesu aufgegeben.
·      Mit dem messianischen Zeitalter sind Wunder der verschiedensten Art verbunden, auf die die Adressaten entweder gar nicht oder in ganz anderer Weise gefasst sind. Das Aufregende an der syrophönizischen Frau ist, dass Jesus darauf nicht gefasst ist und im Grunde ähnliches an sich selbst erlebt wie seine Jünger bei dem Sturm auf dem See.
·     Die zusammengestellten Geschichten eignen sich besonders gut, um Grenzüberschreitungen ins Licht zu rücken und deutlich zu machen, dass auch anders Glaubende gleichwertig dem eigenen Glauben und der eigenen religiösen Tradition sind. Auch Jesus gehört hier zu den Lernenden, er lernt aber erstaunlich gut und vorbildhaft für seine Nachfolger/innen.
·     Dabei wird nicht die Schwierigkeit von Grenzüberschreitungen verschwiegen. Gerade unbewusste Denkvorausetzungen und Vorurteile können so überwunden werden. So wird ein interreligiöser Dialog möglich. Hier regiert nicht die Furcht, man dürfe das Andersartige und Fremde der anderen Religion nicht ansprechen.
·     Wer aber riskiert, die Begegnung mit anderen Glaubenstraditionen zu suchen, wird vielleicht verblüfft feststellen, dass in anderem Glauben oft eine tiefere Erkenntnis (vielleicht sogar die einem selbst verborgene Wahrheit) steckt, als im eigenen bisherigen Glaubensleben.
·     Letztlich lässt sich mit dieser und ähnlichen Geschichten eine Verbindung zur Erzählung von den Höhenheiligtümern des Salomo  (1. Könige 3,1-28) ziehen. Es wird eine ähnliche Tendenz sichtbar, nämlich in der Vielfalt sich auf das eine Göttliche, die letzte Wirklichkeit einzulassen.
·    Eine Vorverurteilung und Negativ-Bewertung einer anderen Religion ist von daher nicht mehr möglich; allerdings brauchen im Dialog die Schwächen und Fehlentwicklungen in den einzelnen Religionen nicht verschwiegen werden. Sie können vielmehr helfen, ohne dass sich die überhebliche Vorstellung einschleicht: „Ich bin stolz, ein Christ zu sein“ (als religiöse Variante zu: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“). 
Reinhard Kirste
Bearbeitet,  Erstfassung in:
„Gespiegelte Wahrheit. Biblische Geschichten und Kontexte anderer Religionen.
Iserlohner Con-Texte 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, S. 39–40
Lizenz: Creative Commons: 


relpäd/Syrophönzierin, 17.12.16 

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