Sonntag, 7. August 2016

Lukas 7,36-50: Die "Sünderin" - heilsame Wirkungen der Frohen Botschaft



Predigtgedanken zum Evangelium
am 11. Sontag nach Trinitatis

1.  Zweifelhafte Rechtgläubigkeit
Das kennen wir alle – sich vergleichen mit den anderen: Ich möchte sein / oder ich möchte nicht sein, wie dieser oder wie jene. Insofern begegnen uns in dieser Jesusgeschichte zwei unterschiedliche Menschentypen. Da ist zum einen der fromme und strenge Pharisäer, der alle Gottes Gebote möglichst exakt einhält. Er ist kein Heuchler, sondern ein ernsthaft Glaubender. Und da ist jene Sünderin, wahrhaftig kein unbeschriebenes Blatt, aber eine Frau, die endgültig mit ihrer Vergangenheit bricht und ein neues Leben beginnen will.
Im Hause des Pharisäers Simon ist alles von bürgerlicher Rechtgläubigkeit und offensichtlich auch von einer gewissen religiösen Arroganz geprägt. Man kann vermuten, dass bei diesem kleinen Abend-Event die Gäste so ähnlich denken wie der Gastgeber. In diesem Hause werden in Bezug auf die Gastfreundschaft offensichtlich feine Unterschiede gemacht. Diese Unterschiede fallen noch größer aus, wenn man sich jemand einlädt, den man eigentlich für einen problematischen Gläubigen oder gar für einen Häretiker hält. Zwar gibt man sich diskussionsoffen, aber die Vorurteile wirken sich bis in die Empfangsgesten aus. Der Rabbi aus Nazareth bekommt noch nicht einmal eine Schüssel Wasser, um sich Hände und Füße zu waschen. Wir erleben hier eine Gastfreundschaft, die schon fast beleidigend wirken muss, jedenfalls nicht von Herzen kommt. Sie ist berechnend. Sie dient offensichtlich nur der eigenen Eitelkeit oder der Verbesserung des gesellschaftlichen Renommees. Der fromme Pharisäer hat vielleicht sogar in der Diskussion die Absicht, den selbst ernannten Rabbi aus Nazareth theologisch bloßzustellen.
Dass hier von Anfang an etwas schief läuft, wird in dem Augenblick offenkundig, als es eine Frau schafft, uneingeladen in dieses ehrenwerte Haus zu kommen. Dazu gehört in einer von Männern dominierten Gesellschaft schon erheblicher Mut. Diese Frau ist in einer solchen Gesellschaft völlig fehl am Platz. Im Evangelium wird sie etwas nebulös als Sünderin umschrieben. Männerphantasien haben die Sünden dieser Frau immer wieder mit sexuellen Beziehungen in Verbindung gebracht. Man hat sie mit Maria Magdalena identifizieren wollen, und Künstler aller Zeiten haben die Szene entsprechend ins Bild gesetzt. In Varianten findet sich übrigens diese Geschichte noch einmal als Salbung von Bethanien. Die Handlung der Frau wird dort auf Jesu Tod gedeutet: „Sie hat meinen Leib bereits im Voraus zu meinem Begräbnis gesalbt“ (Mk 14,8, vgl. Mt. 26,12 und Joh 12,7).
Aber zurück zu Simons Abendparty. Während also Gastgeber und Gäste ihre Masken der Rechtschaffenheit vor sich  hertragen, kommt diese Frau ohne Maske. Ihre Verfehlungen verbirgt sie nicht, sondern lässt sie weinend aus sich heraus. Sie wagt das gesellschaftlich Ungeheure, weil sie spürt, dass dieser Jesus keine Maske trägt, sondern sie annimmt, wie sie ist – mit allen Verfehlungen und mit dem dringenden Wunsch, neu zu beginnen.
2.  Schluss mit der Maskerade
Durch ihr Verhalten reißt sie den übrigen Gästen und dem Gastgebern faktisch die Maske vom Gesicht. Das erinnert übrigens sehr an ein Gedicht von Erich Kästner. Dort wird davon erzählt, dass  die ins Haus kommenden Leute ihre Gesichter abgaben –  Traum vom Gesichtertausch:

Als ich träumte, was ich jetzt erzähle,
drängten Tausende durch jenes Haus.
Und als ob es irgendwer befehle
und das eigne Antlitz jeden quäle,
zogen alle die Gesichter aus.
Wie beim Umzug Bilder von den Wänden
nahmen wir uns die Gesichter fort.
Und dann hielten wir sie in den Händen,
wie man Masken hält, wenn Feste enden.
Aber festlich war er nicht, der Ort.
Ohne Mund und Augen, kahl wie Schatten,
griffen alle nach des Nachbarn Hand,
bis sie wiederum Gesichter hatten.
Schnell und schweigend
ging der Tausch vonstatten.
Jeder nahm, was er beim andern fand.
Männer trugen plötzlich Kindermienen.
Frauen trugen Bärte im Gesicht.
Greise lächelten wie Konkubinen.
Und dann stürzten alle, ich mit ihnen,
vor den Spiegel, doch ich sah mich nicht.
Immer wilder wurde das Gedränge.
Einer hatte sein Gesicht entdeckt !
Rufend zwängte er sich durch die Menge.
Und er trieb sein Antlitz in die Enge.
Doch er fand es nicht. Es blieb versteckt.
War ich jenes Kind mit langen Zöpfen?
War ich dort die Frau mit rotem Haar?
War ich einer von den kahlen Köpfen?
Unter den verwechselten Geschöpfen
Sah ich keines, das ich selber war.
Da erwachte ich vor Schreck. Mich fror.
Irgendeiner riss mich an den Haaren.
Finger zerrten mich an Mund und Ohr.
Ich begriff, als sich die Angst verlor,
dass es meine eignen Hände waren.
Ganz beruhigt war ich freilich nicht.
Trug ich Mienen, die mich nicht betrafen?
Hastig sprang ich auf und machte Licht,
lief zum Spiegel, sah mir ins Gesicht,
löschte aus und ging beruhigt schlafen.     

Aus: Erich Kästner: Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt. Hg. Peter Rühmkorf. Zürich: Atrium 2008, S. 67f

Der Pharisäer geht noch nicht einmal beruhigt schlafen. Er zweifelt stattdessen noch mehr an der spirituellen Kompetenz Jesu, denn: Wenn dieser Jesus ein Prophet wäre, hätte er wissen müssen, von wem er da so liebevoll einbalsamiert wurde (V. 39). Es ist schon eigenartig, wahrscheinlich kommen sich die Gäste vor, als seien sie im falschen Film: Jesus lässt die Frau einfach gewähren. Diese Szene voller Zärtlichkeit hat geradezu etwas Revolutionäres. Da kann es leicht zu Missverständnissen kommen, wenn eine Frau zu Füßen eines Mannes weint, seine Füße quasi mit den Tränen wäscht und anschließend mit ihren Haaren trocknet und einsalbt ...
Jesus spürt die Gedanken des Simon. Da muss man wohl noch nicht einmal Prophet sein! Er greift den für den Pharisäer und seine Gäste ausgesprochen peinlichen Vorfall mit einem Gleichnis auf:
3.  Gleichnis von den zwei Schuldnern (V. 40-43)
Da sprach Jesus ihn an: „Simon, ich muss dir etwas sagen!“ Simon erwiderte: „Rabbi, bitte sprich!“ Jesus begann: „Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher, der eine schuldete ihm 500 Silberstücke, der andere 50. Weil keiner von ihnen zahlen konnte, erließ er beiden ihre Schulden. Welcher von ihnen wird wohl dankbarer gewesen sein?“ Simon antwortete: „Ich nehme an, der Mann, der ihm die höhere Summe geschuldet hat“.
„Du hast recht“, sagte Jesus
(Übersetzung in Anlehnung an die „Gute Nachricht“. Stuttgart 1971).
Vom Tischgespräch mit der formal richtigen Antwort des Rechtgläubigen gelingt nicht die Umsetzung zur Tischgemeinschaft. Das Tun der sog. Sünderin führt nicht zur Horizonterweiterung.
Die dogmatischen Bretter vor dem Kopf bleiben! Nicht die liebende Zuwendung ohne Vorbedingung erkennen die Gäste. Vielmehr fragen sie sich: Wer ist dieser Jesus eigentlich? Was nimmt der sich heraus? Schließlich sind seine Herkunft und sein Renommee, ebenso wie seine theologische Kompetenz höchst fragwürdig. Wieso kann Jesus dieser Frau Heilvolles zusprechen, ihr Mut für die Zukunft machen?
4.  Geschenk der Freiheit

Offensichtlich hat Jesus eine derartige Aura des Vertrauens um sich, dass man alle Masken ablegen kann. Man kann sich so zeigen wir man ist: Schuld behaftet und doch im tiefsten Herzen von Liebe erfüllt – liebevoll und zärtlich zugleich. In einer solchen Atmosphäre spielt die problematische Vergangenheit eines Menschen auf einmal keine Rolle mehr.

Der Schweizer Dichter-Pfarrer Kurt Mart (geb. 1921) spricht eine solche Situation so an:

„Wenn die bücher aufgetan werden
wenn sich herausstellen wird
dass sie niemals geführt worden sind:
weder gedankenprotokolle noch sündenregister
weder mikrofilme noch computerkarteien
wenn die bücher aufgetan werden
und siehe! Auf seite eins:
‚habt ihr mich für einen schnüffler gehalten?’
und siehe! Auf seite zwei:
‚der grosse Aufpasser
oder unbruder: eure erfindung!’
und siehe! Auf seite drei:
‚nicht eure sünden waren zu groß-
eure lebendigkeit war zu klein!’
wenn die bücher aufgetan werden!“
Aus: Kurt Marti:  Abendland. Neuwied u.a.: Luchterhand 1980


Die „Sünderin“ kann und darf sich frei fühlen. Das macht Jesus deutlich, indem er betont, was diese Frau mit ihrem ungewöhnlichen Tun gerade bewiesen hat: Der Rabbi aus Nazareth erkennt in ihr das liebende Herz, darum kann sie neu anfangen. Darum sagt Jesus – übrigens noch einmal zu den Gästen: „Ihr sind die Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt“ (S. 47.48). Sie kann von diesem ungastlichen Ort in Frieden gehen.
Daran wird deutlich: Frohe Botschaft offenbart sich in Zuwendung und Liebe. 
Der Liederdichter Gerhard Tersteegen hat es so formuliert [in seinem Geistlichen Blumen-Gärtlein inniger Seelen von 1757]: Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart. Diese Liebe wirkt auf den ganzen Menschen, auf alle seine Sinne, auf den Geist, die Seele, aber eben auch auf den Körper. Die Wahrheit des Evangeliums ist die Wahrheit der Zärtlichkeit
Die Frohe Botschaft hat diese sehr sinnliche Seite: Hände auflegen, sich vertrauensvoll aneinander festhalten. Friedvolle und heilsame Gemeinschaft wirklich zum Ausdruck bringen und nicht nur bereden. Die kleinen Gesten sollte man dabei nicht unterschätzen. Davon redet schon die Bergpredigt. Der Frieden auf der Welt beginnt im Frieden des Herzens. Das sollte man sich in diesen Tagen besonders klar machen in Erinnerung an die Atombombenabwürfe auf von Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. Denn mit dem Frieden des Herzens kann man keine Bomben werfen  – nirgendwo auf der Welt!
Ich möchte mit einem Gebet des Niklaus von Flüe (1417–1487) schließen:
„Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir“. Amen.
Reinhard Kirste 

relpäd/Lk 17,36–50,  06.08.16


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