I. Homiletische Vorüberlegungen
Galater 5,1-6 (mit V. 13-16) hat für die Entwicklung von Luthers Rechtfertigungslehre eine große Rolle gespielt. Die exegetischen und
theologiegeschichtlichen Bezüge sind aber für eine Übertragung in die heutige Zeit relativ kompliziert, gerade wenn man das "Reformationsjubiläum" 1517/2017 mit bedenkt. Das zeigen die wichtigen Stichworte dieses Textes:
Der Begriff Beschneidung gehört nicht zum geläufigen Vokabular der meisten
ZuhörerInnen einer Predigt. Darum möchte ich ihn als Symbol bestimmter Zwänge zu Erfolg und Glück aktualisieren. Man mus darum auch nicht die Problematik der galatischen Gemeinden aufnehmen. Das junge Christentum, aus dem Judentum kommend, war herausgefordert, bestimmte jüdischen Riten zu überdenken, neu zu interpretieren oder gar abzuschaffen. Heute haben wir es in der Kirche oft mit leergelaufenen Riten und Kulthandlungen zu tun, die eine "Beschneidung" herausfordern. Das wäre dann eine Beschneidung symbolischer Art.
Die Problematik des Verhältnisses
von Juden und Christen sollte man nicht der
Beschneidungsfrage konkretisieren. Immerhin muss man von Gemeinden ausgehen,
die selbst mit den biblischen Bezügen allgemein nicht mehr vertraut sind (geschweige denn mit der Anspielung auf
Hagar und Sara).
Die Äußerungen des Paulus zur Freiheit Christi spielen im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre eine wichtige Rolle. Dass Problem
der Rechtfertigung taucht heute meist im Zusammenhang von Selbstrechtfertigungen auf. Da werden Fehler vertuscht, Pannen verschleiert, dementiert und gelogen, bis die Wahrheit dann doch mühsam und bröckchenweise an Land kommt. Luther dagegen rang mit der
Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er erfuhr erst nach vielen Versuchen
und inneren Kämpfen, dass er sich die Rechtfertigung vor Gott nicht verdienen konnte, sondern
dass sie ein Geschenk bedingungsloser göttlicher Gnade ist.
Vers 6 könnte der hermeneutische Schlüssel für eine Predigt sein,
in der sich diese Schwerpunkte bedenken ließen:
in der sich diese Schwerpunkte bedenken ließen:
- Die leergewordenen Riten beschneiden
- Loslassen und frei werden, die Chance des Neuanfangs
- Sich von der Liebe prägen lassen
II. Predigtskizze zu Galater 5,1-6
Chancen für Gerechtigkeit - Zeichen der Freiheit
(23. Sonntag n. Trinitatis - auch Reformationsfest)
Chancen für Gerechtigkeit - Zeichen der Freiheit
(23. Sonntag n. Trinitatis - auch Reformationsfest)
1. Beschneidung der Riten
Was Paulus an die Gemeinden Galatiens schreibt,
geht uns eigentlich nichts mehr an. Wir praktizieren die Beschneidung nicht
mehr, wie es in der jüdischen Religion heute noch üblich ist und übrigens auch
im Islam praktiziert wird. Mit diesem Thema haben wir also im Grunde nichts zu
tun. Oder vielleicht doch in einem übertragenen Sinne? Könnte es nicht sein,
dass wir eine Reihe unserer auch frommen Bräuche und Verhaltensweisen beschneiden
müssten?
In vielen unserer Gemeinden hat sich ein
Traditionalismus breit gemacht. Das ist eine Art, Neues außen vor zu lassen.
Das Bestehende ist doch genug! Eine heutige Bedeutung von Beschneidung könnte
aber heißen: Beschneidung unserer Riten,
damit Neues wachsen kann, im Sinne von: lebendiger Liturgie, offenen Begegnungen
in unseren Gemeinden gerade mit den Andersdenkenden! Veränderung tut
dringend not, damit ein frischer Wind über die Patina unserer bisherigen Praxis
weht.
2. Was ist Gerechtigkeit?
Auch wenn in dieser Gemeinde hier vielleicht alles
noch zufriedenstellend läuft, sind doch die Risse und Knackpunkte in unserer
Kirche unübersehbar. Es werden Strukturreformen
durchgeführt. Sie haben eigentlich nur verwaltungstechnischen Charakter: Mehr Gemeindegliederzahlen
pro Pfarrer, also größere Gemeinden und weniger Pfarrer, Einsparpotenziale
suchen usw.
Aber noch größer sind die Probleme und die Risse in unserer Gesellschaft:
Unrecht, Brutalität, Gewalt gegen Ausländer,
Flüchtlinge und Behinderte nehmen zu. Die derzeit beklagten Missstände unserer
Gesellschaft sind allerdings Symptome einer tieferen Krise: Vielen geht es von
Jahr zu Jahr wirklich schlechter, die Renten der nachwachsenden Generationen
sind keineswegs sicher.
Wenn wir Nachrichten hören und im Fernsehen schauen, geht es ständig um zunehmende Konflikte und Gewaltakte weltweit, um gesellschaftliche Veränderungen, Krise unserer Beziehungen, die Krise unserer Wirtschaft, das Auseinanderklaffen zwischen unermesslichem Reichtum der Wenigen und zunehmender Armut der Vielen, die Krise unserer Umwelt, das Versagen faktisch aller politischen Friedensbemühungen. All diese Krisen lassen sich weder wegreden, noch aussitzen. Was also ist zu tun, wenn im täglichen Miteinander wie der sog. großen Politik die Moral auf der Strecke bleibt?
Wenn wir Nachrichten hören und im Fernsehen schauen, geht es ständig um zunehmende Konflikte und Gewaltakte weltweit, um gesellschaftliche Veränderungen, Krise unserer Beziehungen, die Krise unserer Wirtschaft, das Auseinanderklaffen zwischen unermesslichem Reichtum der Wenigen und zunehmender Armut der Vielen, die Krise unserer Umwelt, das Versagen faktisch aller politischen Friedensbemühungen. All diese Krisen lassen sich weder wegreden, noch aussitzen. Was also ist zu tun, wenn im täglichen Miteinander wie der sog. großen Politik die Moral auf der Strecke bleibt?
Im Privaten wie Nationalen scheint sich gar ein neues Verständnis von Ungerechtigkeit
durchzusetzen. In einem Schulgottesdienst haben es die Schüler einmal auf
den Punkt gebracht: Gerechtigkeit ist,
wenn es mir gut geht, Ungerechtigkeit ist, wenn es mir schlecht geht.
3. Veränderung
Eine neue Fassade, ein neues Make up reichen wohl
nicht. Auch die pfiffigste Werbeagentur und die tollsten Plakate werden die
Krisen nicht wegzaubern. Martin Luther wäre mit der Reformation sicher
gescheitert, wenn er sich nur an den üblen Tricks des Ablasshandels
festgebissen hätte. Es ging ja nicht nur darum, dass man mit Geld seine Seele
nicht freikaufen kann, sondern es ging und es geht um die Veränderung der
Seelen und der Herzen. Da diese sich offensichtlich nicht zum Besseren ändern,
scheint sich auch für die Gerechtigkeit keine neue Chance zu bieten.
Ein Rechtsanwalt hat mir
einmal gesagt: "Was wollen Sie denn? Auch beim Gericht gibt es keine
Gerechtigkeit, höchstens ein Urteil!" Also:
Keine Chance für Gerechtigkeit?
Wenn dem so ist, muss, dann muss ein deutliches "Nein" die erste Reaktion sein.
Nein zu den Hasstiraden gegen Ausländer, Nein zur Abschottungsmentalität gegen
Flüchtlinge, Nein zur Konzentration unermesslichen Reichtums bei Wenigen, Nein
zum Waffenhandel der Kriegsgewinnler auch bei uns. Dazu gehört Mut, denn mit diesem Neinsagen sagen
wir: Wir spielen nicht mehr mit! Das sieht fast nach zivilem Ungehorsam aus.
Und gegen den Strom der allgemeinen Meinung zu schwimmen, steht nicht hoch im
Kurs. Aber solche Tugenden brauchen wir, damit eine Reformation "an Haupt und Gliedern", wie man damals zu
Luthers Zeiten gern sagte, stattfinden kann. Das gilt natürlich auch für die
Kirche, die sich immer wieder reformieren muss: Ecclesia semper reformanda.
3. Neu
anfangen
Dazu gehört natürlich auch, Fehler einzugestehen
und die Chance des Neuanfangs zu wagen. Das scheinen die größten Hindernisse
heute zu sein. Man muss natürlich fairerweise zugeben, dass Eingeständnisse von
Fehlern und Schuld in unserer Gesellschaft nicht honoriert werden. Oft wird bis
tzum letzten Augenblick gelogen! Irgendwie wollen wir alle gut dastehen, ja, sehen uns
gezwungen, besser als die anderen zu sein. Dabei wäre Courage im Alltag
angebracht = wenn Menschen beschimpft oder ausgegrenzt werden. Jeder von Ihnen
kennt sicher Beispiele. Gerade wenn wir angesichts des Unrechts und fehlendem
Respekt vor dem Andern wegschauen, werden die zarten sensiblen Seiten unseres
Menschseins beschnitten: Wir verkaufen unsere innere Unabhängigkeit.
Ein besonderes ermutigendes
Beispiel von innerer Freiheit ist die Geschichte jenes Flüchtlings, der
eine große Summe Geld fand und sie unverzüglich zur Polizei brachte …
4. Die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat
Wie sieht es bei uns
Christen mit dieser Freiheit aus? Martin Luther ist nicht nur durch seine 95
Thesen von 1517, sondern unter anderem durch eine kleine Schrift von 1520 berühmt
geworden: Von der Freiheit eines
Christenmenschen .Dort schreibt er: "Ein
Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan",
aber er fügt hinzu: "Ein
Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Diese logisch nicht
aufzulösende Widersprüchlichkeit hat
aber eine tiefere Wahrheit in sich. Im Grunde haben wir sie alle schon
erfahren: Wenn sich zwei Menschen wirklich lieben und gemeinsam ihren Lebensweg
gehen, sieht es so aus, als verzichteten sie auf viel Freiheit. In Machomanier
spottet man dann über das Joch der Ehe. In der Wirklichkeit der Liebe ist es
aber genau umgekehrt: je mehr sich die beiden Liebenden aufeinander einlassen,
und zwar auf Dauer, je mehr sie sich an den Partner binden, umso mehr geben sie
sich frei und werden glücklicher.
Wenn wir schon im menschlichen Miteinander Freiheit
aus liebender Hingabe erfahren, ist nicht einzusehen, warum die Freiheit, von
der Paulus spricht, gänzlich anderer Natur oder ein neues Sklavenjoch sein
sollte. Die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, wird sich als neu
geschenkte Lebensmöglichkeit herausstellen.
Wir brauchen also
Orientierung. Sie kommt sehr schön in einem indianischen Gebet zum Ausdruck:
Wenn ich zurückschaue, bin ich mit Dankbarkeit erfüllt.
Wenn ich nach vorn schaue, bin ich von Vision erfüllt.
Schaue ich nach oben, bin ich von Stärke erfüllt.
Wenn ich in mich schaue, entdecke ich Frieden.
Wenn ich nach vorn schaue, bin ich von Vision erfüllt.
Schaue ich nach oben, bin ich von Stärke erfüllt.
Wenn ich in mich schaue, entdecke ich Frieden.
(Quero Apachen Gebet -
Vgl. Prayers and Meditations of the Quero Apache)
Vgl. Prayers and Meditations of the Quero Apache)
5. Die Balance der Freiheit
Diese Freiheit ist ein
geradezu himmlisches Angebot! Gott
kommt ganz menschlich in seiner frei machenden Liebe zu uns, das heißt ganz
konkret im Nächsten, wie das z.B. im Gleichnis
vom barmherzigen Samariter erzählt wird. Jede Begegnung heute und morgen
kann zum Signal dafür werden. Achten wir auf solche Zeichen! Gerechtigkeit, Liebe und
Freiheit brauchen eine menschenwürdige Balance.
Leider lässt sich diese Balance im Alltag oft nicht
so schnell herstellen, wie hier in der Predigt gesagt. Aber sehen wir uns doch
die Zeichen an, auf die wir selbst gewiesen werden, wie es Dostojewski gesagt
hat: Liebe heißt, einen Menschen so
sehen, wie ihn Gott gemeint hat. Hoffen wir, dass die Menschen, die uns
begegnen, wenigstens etwas davon merken, dass wir von der Freiheit, zu der uns
Christus befreit hat, angesteckt worden sind.
Besinnung als
Predigtschluss
Wenn
Christus euch befreit, dann seid ihr wirklich frei.
Wenn
Christus euch Raum gibt, dann seid ihr nicht mehr in eure Enge verliebt.
Wenn Christus euch Luft zum
Atmen gibt, dann habt ihr keine Beklemmungen mehr.
Wenn Christus euch aus dem Gefängnis eurer Selbstgerechtigkeit
herausholt,
dann
weitet sich euer Horizont.
Wenn Christus euch befreit,
dann seid ihr wirklich frei.
Wenn Christus euch Raum
gibt, dann seid ihr nicht mehr in eure Enge verliebt.
Wenn Christus euch Luft zum
Atmen gibt, dann habt ihr keine Beklemmungen mehr.
Wenn Christus euch aus dem
Gefängnis eurer Selbstgerechtigkeit herausholt,
dann
weitet sich euer Horizont.
Wenn Christus euch ruft,
dann ergreift eure Befreiung.
Lasst hinter euch die
Ängste, gegen den Strom zu schwimmen.
Lasst hinter euch die Lieblosigkeit, mit der ihr den anderen
abschüttelt.
Lasst hinter euch den Neid, der eure Freundschaften vergiftet.
Lasst hinter euch den Zwang, immer besser als die anderen sein zu wollen.
Lass hinter euch die Schuld, die euch den Blick auf die Zukunft
verstellt.
Lasst hinter euch die Schatten der Vergangenheit,
die euch die Gegenwart vermiesen und die Hoffnung verdunkeln.
Weil Christus euch befreit hat,
darum seid ihr wirklich frei.
Lasst euch nicht wieder fangen,
lasst euch nicht wieder beugen,
lasst euch nicht wieder zwingen.
Vielmehr: Mit dem Geschenk
der Freiheit, befreit andere zur Liebe,
mit dem Verzicht auf eigene Rechthaberei wehrt ihr dem Unrecht.
Wo Christi Freiheit ausbricht, bricht sich Versöhnung Bahn.
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Gebet zum Thema
Herr, Jesus Christus, lass uns nicht zuerst danach
fragen, was uns die Freiheit nützt,
sondern was sie uns anbietet,
lass uns das Geschenk deiner Freiheit annehmen,
damit wir es weitergeben,
damit Unterdrückte, Geängstigte und Verbitterte
frei werden
von ihrer Unterdrückung, ihrer Angst und ihrer
Verbitterung.
Du
hast uns Freiheit geschenkt,
nicht
damit wieder anfangen zu unterdrücken,
nicht
damit wir wieder anfangen, die Herren zu spielen,
nicht
damit wir riskieren, Gemeinschaft zu zerstören,
sondern
du hast uns Freiheit geschenkt,
damit
wir alle Formen der Unfreiheit aufdecken
und
zu Freiheit stehen, zu der du uns befreit hast.
Zur Freiheit gehört Mut.
Du selbst bist mutig den weg der Erniedrigung
vorangegangen.
Dieser Mut hat dich das Leben gekostet,
aber uns die Freiheit gebracht,
die Freiheit von der Macht, die Freiheit von der
Selbstgerechtigkeit,
die Freiheit hin zu Güte und Liebe.
Wir bitten dich,
gib uns den Mut, deine Freiheit durch unser
alltägliches Leben zu bezeugen. Amen.
Reinhard
Kirste
Neubearbeitung des Beitrags zum Reformationsfest unter Zugrundelegung von Galater 5,1-6, in:
Gottesdienst Praxis Serie A (Hg.: Erhard Domay): IV. Perikopenreihe, Bd. 3:
9. Sonntag n. Trin bis Ewigkeitssonntag.Gütersloher Verlagshaus 1994, S. 104-112
Relpäd/Gal 5,1-6-Predigtskizze, 20.08.2016
Gottesdienst Praxis Serie A (Hg.: Erhard Domay): IV. Perikopenreihe, Bd. 3:
9. Sonntag n. Trin bis Ewigkeitssonntag.Gütersloher Verlagshaus 1994, S. 104-112
Relpäd/Gal 5,1-6-Predigtskizze, 20.08.2016
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