Sonntag, 16. Februar 2014

Ruth - die Moabiterin im Stammbaum Jesu



... Die Stammbäume Jesu in Matthäus 1 und Lukas 3,23-38 sind voll von Besonderheiten. Im Lukasevangelium hören wir, dass Jesus für einen Sohn Josephs „gehalten“ wurde und dass beim Zurückgehen in der Genealogie letztlich klar wird: Jesus als Sohn Adams ist der neue Adam. Anders bei Matthäus 1,1-17. Neben der Zahl der Vollendung, der Sieben arbeitenden Zahlensymbolik, die nicht mit historisch-kritischer Nachprüfung bewertet werden sollte und durch ihre Konstruktionselemente Deutungsprobleme aufwirft, sind es hier vierzehn ( = 2 mal 7) Geschlechter zurück bis zu Abraham, der hier als der Urvater Jesu gilt. Diese Geschlechterreihe wird systematisierend zweigeteilt: Vor und nach der babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v. Chr. Was aber diese Genealogie so ungewöhnlich macht ist, dass hier Frauen genannt werden:

1. Thamar, die quasi eine Zeugung und Nachkommenschaft von ihrem Schwiegervater Judaerzwang, indem sie sich als Prostituierte verkleidete und ihn so verführte
(Genesis 38,12-26)
2.   Rahab, die Chefin eines Freudenhauses und in Jericho beheimatet – sicher den Göttern Kanaans zugetan (Josua 2,1)[1]
3.    Ruth (Rut), die zugewanderte Heidin aus Moab
4.   Bathseba ( = Tochter des Überflusses, die Üppige), die interessanterweise als Frau des Hethiters Uria in die Genealogie bei Matthäus aufgenommen wird, also ebenfalls eine Heidin (vermutlich trotz ihres hebräischen Namens) oder sollte man lieber von einer hethitisch-jüdischen Mischehe ausgehen? Unabhängig von ihrem Glauben wird sie von David aus eindeutig ersichtlichen Motiven und mit üblen Intrigen zur Ehefrau macht (2. Samuel 11+12)
5.  Maria, die nach dem Matthäus-Evangelium mit Joseph noch nicht verheiratet war und der darum auch der Makel eines unehelich geborenen Sohnes nicht ganz abhanden kommt.

       Alle dieses Frauen haben eine Schlüsselstellung im Fortgang der Heilsgeschichte, obwohl die meisten von ihnen mit erheblich dunklen Stellen in ihrer Biografie. zumindest aber an die Göttern Kanaans Glaubende und damit religiös konträr zum Monotheismus Israels. Irmtraud Fischer nimmt das in ihrem Ruth-Kommentar zum Anlass, die veränderte Sichtweise dieser Erzählung zu betonen, weil hier eindeutig die Frauen im Mittelpunkt stehen. Das führt sogar dazu, dass die Männer begünstigenden Rechtsvorschriften eine positive Auslegung im Sinne der Frau bekommen.[2]
Die Erzählung führt uns in die Zeit der Staatenbildung [um 1000 v. Chr.], die noch viele Unsicherheiten aufwies. Erst unter David und Salomo gelang es einen den Kanaanäern vergleichbaren Staat zu bilden. Das Buch Ruth erinnert damit an die Richterzeit, wo charismatische Führer und ihre spontan aus den Stämmen Israels zusammen gerufenen Truppen ersten militärischen und rechtlichen Schutz boten ...
Dennoch aber bleibt letztlich unklar, warum Ruth in die Heilsgeschichte kommt, denn es wäre auch eine weniger komplizierte Genealogiegeschichte möglich gewesen. So aber haben wir ein geradezu klassisch inklusives Verfahren vor uns, indem die so aufrichtige Ruth mit ihrer Liebe zum Volk ihrer Schwiegermutter quasi die geistigen Voraussetzungen erfüllt, um „jüdisch“ zu werden. Interessanterweise schweigen sich jedoch die Erzähler darüber aus, wie es denn zu verstehen sei, dass Ruth in 1,16 sagt, dass der Gott ihrer Schwiegermutter auch ihr Gott sei. Bedeutet die Anerkennung Jahwes (Adonaj) als einzigen Gott oder bleibt Ruth auch dem Gott der Moabiter, Kamosch, treu? …
Man muss davon ausgehen, … dass die jeweiligen Regionalgötter unter veränderten Bedingungen weiter existierten. Es dauerte lange, bis sich die henotheistischen Tendenzen des Gottesglaubens monotheistisch und damit auch universalistisch durchsetzten. Erst Hosea, Jesaja, Jeremia und Deuterojesaja sagen deutlich, dass die anderen Götter Nichtse sind, nichts bewirken und darum völlig nutzlos und sinnlos sind. (Hosea 13,2, Jesaja 2,18; 41,29; 45,22, Jer 2,5.8.11).
So ergibt sich eine religionsgeschichtliche Verwandtschaft zwischen dem kanaanitischen Baal, dem babylonischen Marduk, besonders was ihre jeweiligen Schöpfungs- und Ordnungsaufgaben betrifft.[3]
Wir müssen schließlich auch bei David und Salomo davon ausgehen, dass die funktionale Verwandtschaft der Götter Kanaans mit Jahwe, dem Gott Israels, multireligiöse Tendenzen begünstigte und angesichts der liberalen Religionspolitik der beiden Könige, besonders dann unter Salomo, einen religiös pluralistischen Kultbetrieb mit vielen synkretistischen Varianten in Jerusalem ermöglichte.[4]
Sowohl David als noch stärker Salomo sind Teil der altorientalischen Welt, in der sich um 1000 traditionelle Gottesvorstellungen verändern. Besonders Salomo betrieb offensichtlich eine systematische Religionspolitik, die auf Israel als quasi Vielvölkerstaat Rücksicht nahm. Die Kanaaniter wurden ja nicht vertrieben, sondern es gab eine Mischung aus konfliktträchtigen und sicher auch handelsorientierten eher friedlichen Begegnungen.[5]
Blickt man auf das Buch Ruth zurück, so lässt sich folgern, dass die Differenzen zwischen den einzelnen Gottesverständnissen zwar vorhanden, aber offensichtlich nicht so gravierend waren, dass nicht eine Übernahme in eine andere Religionsgemeinschaft relativ leicht erfolgen konnte …
Das Buch Ruth nun zeigt Tendenzen, dass die Vereinnahmung Ruths durch den Jahweglauben zwar Teile ihrer moabitischen Identität beseitigt, aber ihre völlige Integration in die Gesellschaft Bethlehems verändert auch das Selbstverständnis der Bethlehemiten bis dahin, Ruth zur Stammutter Davids und damit auch des künftigen Messias zu machen, wie dann die Weiterentwicklung der Davidstradition bis hin ins Neue Testament zeigt. Vier Gesichtspunkte gilt es [hier] zu verifizieren:
1. Wie stark vereinnahmend inklusivistisch (interessanterweise nie exklusivistisch!) gedacht wird, es bleibt Tatsache für die hebräische Bibel, dass eine Moabiterin – wie auch immer in den Stammbaum Davids gerät und damit auch in die Heilslinie, die auf den Messias zielt.
2. Das Matthäusevangelium nimmt die vorgegebene Heilslinie verstärkend auf, indem Ruth ausdrücklich in der Genealogie Jesu erwähnt wird. Dass dies nicht zwingend ist, beweist der Stammbaum des Lukas, wo andere Interessen maßgebend sind.
3.  Dass für einen Stammbaum recht ungewöhnlich, gleich vier Frauen mit problematischen kulturellen und religiösen Wurzeln die Heilslinie zum Messias hin garantieren, macht für Matthäus die Einmaligkeit und bisherige Analogielosigkeit des in Bethlehem, der Davidsstadt, zur Welt kommenden Messias und Weltenheiland auffällig.
4.  Indem die wie immer geartete Erinnerung an die Moabiterin Ruth nicht getilgt wird, sondern sogar umdeutend betont wird, öffnet sich gleichzeitig die Heilsgeschichte für Menschen anderen Glaubens. Damit behalten beide Texte, sowohl der alttestamentliche wie der neutestamentliche trotz ihrer andere Götter letztlich nicht akzeptierenden Tendenz eine gewisse Flexibilität, die es m.E. unter heutigen Bedingungen erlaubt, pluralistische Konsequenzen aus dem Buch Ruth zu ziehen …
Die verschiedenen theologischen Kommentare sowohl alttestamentlich zu Ruth als auch zum Matthäusevangelium schwanken zwischen einer strengen und milden inklusivistischen Deutung, das gilt auch für die feministischen Auslegungen …
So finden wir zwar immer wieder pluralistische Ansätze, weil auch die biblischen Autoren mit theologischen Konstruktionen arbeiten, um ihre Intentionen im Blick auf die universale Kraft des Jahweglaubens bzw. das Heil in Christus zu verdeutlichen, aber wirklich pluralistische Möglichkeiten scheinen durchweg ausgeschlossen zu bleiben.
Dennoch lohnt es für eine weitergehende Interpretation zwei Faktoren festzuhalten:
  1. Das religiöse Umfeld Israels zur Zeit der Staatengründung bis hin zur Religionspolitik Salomos mit seinen polytheistischen und synkretistischen Varianten und dem Aufbau eines monotheistischen Gottesglaubens.
  2. Die Variationsbreite im Gottesverständnis einer Ruth aus dem 9./10. Jahrhundert v. Chr. und des Buches Ruth, das immerhin eine inklusivistische Vereinnahmung einer Moabiterin ermöglicht, ohne dass es grundlegende Widerstände im Blick auf den alten Götterglauben und das neue henotheistische bzw. monotheistische Gottesverständnis gab ...
Angesichts der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen das Buch Ruth angesiedelt ist, nehme ich aufgrund der schon in den biblischen Texten auffälligen „Flexibilität“ bei der Etablierung des Jahweglaubens als Monotheismus nun eine über den Text hinausgehende hermeneutische Entscheidung vor, die die vereinnahmende Tendenz des Buches Ruth verlässt und Möglichkeiten der Gleichwertigkeit der Religionen in einer Weiterinterpretation des Buches Ruth postuliert. Ich sehe dies auch dadurch gerechtfertigt, dass die Aufnahme Ruths in die Genealogie Jesu eine bewusste Konstruktion darstellt, die schon beim Evangelisten Matthäus eine Öffnung des christlichen Glaubens für die „Heiden“ ermöglicht. Dass Rahab und Ruth im Stammbaum Jesu eindeutig „heidnische“ Vorstellungen einbringen, die dann sozusagen durch die Kommunikation mit den Israeliten richtig gestellt werden, bietet gerade bei Matthäus eine Öffnung, die es lohnt pluralistisch weiterzuführen.
Es ist geradezu als ein Glücksfall anzusehen, dass eine Moabiterin in die Genealogie Jesu gerät. Sie ermöglicht, das inklusivistische Verständnis aufzubrechen. Schon mit der altorientalischen Bezeichnung „El“ verbergen sich unterschiedliche Gottesbilder. Keineswegs ist in der Ruth-Geschichte schon ein klassischer quasi bilderloser Monotheismus vorherrschend, sondern bei allen in der Ruth-Geschichte auftretenden Personen erscheint hinter den sich unterschiedlich geschichtlich äußernden Göttern das Göttliche, die Gottheit, und zwar eine Gottheit, die die Welt hin zum Frieden ordnet und ein harmonisches Zusammenleben verschieden denkender und glaubender Menschen ermöglicht.
So gilt für mich insgesamt: Die Variationsbreite, mit der Ruth sowohl im Buche Ruth als auch bei Matthäus gesehen wird, eröffnet religionspluralistische Möglichkeiten dahin gehend, dass ein hermeneutisches Kriterium zum Messias-Verständnis bereit gestellt wird, das sich zum einen selbst biblisch legitimieren lässt (über die Konstruktion der Genealogie) und zum andern gegenseitiges Verständnis so fördert, dass nicht eine Abwertung der anders Glaubenden dabei heraus kommt: …
Religiöse Verständnisse sind und bleiben geschichtlich bedingt, aber gerade ihre Bedingtheit erlaubt es, den Blick zu weiten und darum mit Ruth in der Genealogie Jesu zu erkennen, dass zum einen auch Jesus, der Sohn der Maria – als der Heil bringende Messias-Christus – nicht ohne die „Heiden“ auskommt und zum andern, dass Jesus in den Kontext der weltweit Glaubenden hinein genommen wird. Er bleibt damit Heilsbringer. Es bleibt jedoch offen, ob er der einzige Heilsbringer ist. Selbst unter christlichen Gesichtspunkten müssen  seine „heidnischen“ Vorfahren als gleichwertige Partner des göttlichen Heilsgeschehens berücksichtigt werden …
So wird Ruth, die Moabiterin mit ihrem Gott Kamosch / El / Elohim / Jahwe (Adonaj) zum komplementären und notwendig ergänzenden Element eines Glaubens, der die engen regionalen Grenzen eines Landes hin auf eine weltweite Dimension übersteigt.
Reinhard Kirste
Eine Moabiterin in der Genealogie Jesu - Auszug aus: YOUSEFI, Hamid Reza / BRAUN, Ina / SCHEIDGEN, Hermann-Josef (Hg.): ‚Orthafte Ortlosigkeit der Philosophie’. Eine interkulturelle Orientierung. Festschrift für Ram Adhar Mall zum 70. Geburtstag. Nordhausen: Bautz 2007, S. 511–525.

[1]  vgl zu dem kananäischen Götterpantheon Helmer Ringgren: Die Religionen des Alten Orients.
ATD Ergänzungsreihe, Sonderband. Göttingen: V & R 1979, S. 216-225.
[2]  Vgl. Irmtraud Fischer (übersetzt und ausgelegt): Rut. Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament. Hg. Erich Zenger. Freiburg u.a.: Herder 2001. I. Fischer dürfte überhaupt diejenige sein, die die intensivsten Untersuchungen (gerade im Sinne auch einer feministischen Bibelauslegung) zum Buch Ruth angestellt hat …
[3]  Cohn bezieht sich dabei auf Richter 5, Psalm 65 und 74, aaO, S. 132f.
[4]  Cohn aaO S. 137f.
[5]  Vgl. dazu Javier Alonso López: Salomón. Entre realidad y el mito. Madrid: Oberon 2002, S. 49ff, 57ff. Hier wird die Nähe von Salomos Regierungsstil zu dem der Pharaonen besonderes betont.
Zur multireligiösen Offenheit Salomos vgl. Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen. Interkulturelle Bibliothek Bd. 7. Nordhausen: Bautz 2006, S. 36-53.

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