Erinnerungen an die Speisung der 5000
(Mk 6,30-44),
die Erscheinung auf dem Wasser (Mk 6, 45-52),
sowie die
unvergesslichen Begegnungen bei Tyrus (Mk 27,24-30)
und in Samarien (Johannes
4,1-41)
Vgl. Johannes 14,2: „In meines Vaters Hause sind viele
Wohnungen ...“
Er
war es leid, er war es wirklich leid. Die Wunder hatten ihn nicht nur
körperlich, sondern auch seelisch geschafft. Dabei wollte er gar keine Wunder
tun. Aber er hatte es nicht mit ansehen können, wie Tausende seiner Predigt
begeistert gefolgt waren und nun hungrig und ermattet im Grase lagen. Da hatte
er seine Jünger aufgefordert von dem bisschen, was sie hatten, der Menge zu
geben. Und das Unvorstellbare geschah, Tausende wurden satt und liessen noch
übrig. Da wollten die Leute ihn zum König machen, weil er so tolle Dinge tun
konnte. Aber das hatte ihm gerade noch gefehlt. Immerhin war es Abend geworden
und die Leute wollten denn doch nach Hause. Dazu mussten sie über den See
fahren.
Die
Jünger organisierten den Abtransport. Dann war es endlich ruhig. Es wurde auch
still in ihm. Er betete. Als er aber seine Blicke über den See schweifen liess,
sah er, wie seine Jünger mit tückischem Gegenwind zu kämpfen hatten, der ihr
kleines Boot fast zum Kentern brachte. Das war so ungewöhnlich nicht für den
See Genezareth. Aber musste das nun ausgerechnet heute Abend sein? Immerhin
waren seine Jünger von diesem langen Tag auch ganz schön kaputt, und sie
schienen keinen Zentimeter voranzukommen. Die Stunden vergingen, und dieser
Sturm hörte nicht auf.
Gegen
Morgen hielt es ihn nicht länger in der Einsamkeit. Er wollte vor seinen
Jüngern am andern Ufer ankommen und sie empfangen. Da passierte es wieder - das
Wunder. Sie sollten es gar nicht merken. Wie ein Geist huschte er über das
Wasser. Als die Jünger jedoch diese Erscheinung sahen, gerieten sie in Panik.
Was sollte er tun? Er redete ihnen gut zu und kam ins Boot. Mit einem Mal hörte
der Sturm auf.
Es
verschlug ihnen die Sprache. Das blanke Entsetzen stand noch in ihren
Gesichtern. Und trotz der Speisung von Tausenden und dieser Begegnung auf dem
Wasser - sie hatten noch immer nichts kapiert.
Die
einen - besoffen von Wundergläubigkeit, die anderen verängstigt, wenn
Ungewöhnliches geschieht. Er hatte vorläufig genug von seinen Glaubensfreunden.
Er
brauchte einfach einmal andere Leute. Die eigenen Frommen können einem ganz
schön auf den Geist gehen.
So
ging er - wie schon so oft - ins Heidenland. „Heidenland“, das war ein
beliebter Ausdruck der Frommen, wenn sie sich den ganzen Götzenkult und
Aberglauben in der Nachbarschaft vor Augen hielten. Dorthin konnte er unerkannt
gehen. Soweit hatten sich wohl seine Wunder noch nicht herumgesprochen. Es ist
schon eine Last, ein Promi zu sein.
Aber
da, in dieser Ecke vor Tyrus im Süden des Libanon, da konnte er für sich sein.
Doch er hatte sich gründlich getäuscht. Es dauerte gar nicht lange, da kam eine
Frau zu ihm. Er machte sich zuerst keine Sorgen, erkannte er doch an ihrer
Kleidung, dass sie keine Jüdin war. Sie hielt ihn an und erzählte ihm von ihrer
kranken Tochter. Ein Dämon hatte sich in ihr eingenistet und drohte ihr, das
Leben zu rauben. Es sprudelte nur so aus dieser gequälten Frau heraus, dann
fiel sie auch noch vor seinen Füssen nieder, so dass er nicht weitergehen konnte.
Sie flehte ihn an, den bösen Geist aus ihrer Tochter auszutreiben. Sie schaffte
es einfach nicht mehr als Mutter.
Aber
der sonst so milde Jesus hatte seinen schlechten Tag. Er schlug ihr
gewissermassen die Antwort um die Ohren: „Zuerst müssen die Kinder satt werden.
Es ist nicht in Ordnung, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden
vorzuwerfen.“ Mit dem Bild von den Hunden setzte er noch eins oben drauf, denn
Hunde galten in Israel als unrein. Und jetzt verglich er diese arme Frau und
ihr krankes Kind mit Hunden. Jeder kann sich die Reaktion auf so eine
Beleidigung ausmalen, muss sie doch wie ein Ausdruck tiefster
Menschenverachtung wirken.
Aber
die Frau reagierte ganz anders, als es sich der Mann aus Nazareth erwartet
hatte: „Gewiss, Herr, wandte sie ein, „aber die Hündchen bekommen doch
wenigstens die Brotkrumen, die die Kinder unter den Tisch fallen lassen.“
Hündchen,
hatte sie gesagt, wo er doch aussätziger Köter gemeint hatte. Vor seinem
inneren Auge blitzte eine andere Geschichte auf, die er kürzlich in Samarien,
dem sog. Ketzerland erlebt hatte. Bei wesentlich besserer Stimmung hatte er
eine Frau am berühmten Jakobsbrunnen um Wasser gebeten. Damals hatte er alle
frommen Vorurteile abgelegt: Zuerst hatte er als Mann eine Frau angesprochen,
was eigentlich verboten war, und dann hatte er diese Frau angesprochen, die
wahrhaftig einen liederlichen Lebenswandel führte und es auf sieben Männer in
kurzer Zeit gebracht hatte, geschweige denn Ehemänner. Das sah man ihr auch an.
Dazu musste man noch nicht einmal Prophet sein. Damals hatte er nicht den
traditionsbesessenen Juden herausgekehrt. und wie wunderbar war diese
Geschichte ausgegangen. Siedend heiss schoss ihm dieses Erlebnis durch den
Kopf, und wie mit einem Windstoss, war seine ganze miese Stimmung und
Aggression verflogen.
„Das
ist ein Wort“, sagte er zu der Frau. Und er dachte: „Ich mit meinen Wundern bin
doch eine Null gegen eine solche Frau, das ist doch Glaube und nicht das, was
ich mache, und wenn es noch so wunderbar ist.“
Da
spürte er trotz aller Müdigkeit und Abgeschlagenheit wieder diese innere Kraft
in sich. Heiter und mild beugte er sich herunter zu der Frau und flüsterte ihr
ins Ohr: „Du bist die Meisterin und ich der Jünger, geh nach Hause, deine
Tochter leidet keine Qualen mehr.“
Die
Frau ging nach Hause. Sie war noch ganz benommen. Als sie ins Zimmer kam, lag
ihr Kind auf dem Bett und lächelte die Mutter an. Zum ersten Mal seit langem.
Der
Mann aus Nazareth jedoch nahm sich vor, nie mehr einen Menschen wegen seines
anderen Glaubens zu verachten. Er fing an, sich richtig wohl zu fühlen - im
Heidenland.
Didaktische Anmerkungen
Nur
am Rande sei erwähnt, dass es im Buddhismus
eine Parallelgeschichte zur Speisung der 5000 gibt. Hier steht etwas anderes im
Vordergrund- Durch die Neuerzählung wird zum einen interreligiöses Lernen
möglich, wenn man/frau sich darauf einlässt, dass Jesus sowohl geografisch wie
geistig das Territorium der jüdischen Religion verlässt. Die Einbindung
mehrerer Geschichten in diesen Erzählzusammenhang ermöglicht zum anderen, den
Auftrag Jesu unter verschiedenen Gesichtspunkten teilweise etwas abseits der
üblichen exegetischen Auslegungen zu sehen:
- Jesus widersetzt sich den klassischen Messiasvorstellungen, in denen der Messias ein irdisches Reich aufrichten wird.
- Jesus wird bewusst mit seinen menschlichen Schwächen gezeichnet. Der dogmatische Topos der Sündlosigkeit wird um der menschlichen Glaubwürdigkeit und Authentizität Jesu aufgegeben.
- Mit dem messianischen Zeitalter sind Wunder der verschiedensten Art verbunden, auf die die Adressaten entweder gar nicht oder in ganz anderer Weise gefasst sind. Das Aufregende an der syrophönizischen Frau ist, dass Jesus darauf nicht gefasst ist und im Grunde ähnliches an sich selbst erlebt wie seine Jünger bei dem Sturm auf dem See.
- Die zusammengestellten Geschichten eignen sich besonders gut, um Grenzüberschreitungen ins Licht zu rücken und deutlich zu machen, dass auch anders Glaubende gleichwertig dem eigenen Glauben und der eigenen religiösen Tradition sind. Auch Jesus gehört hier zu den Lernenden, er lernt aber erstaunlich gut und vorbildhaft für seine Nachfolger/innen.
- Dabei wird nicht die Schwierigkeit von Grenzüberschreitungen verschwiegen. Gerade unbewusste Denkvorausetzungen und Vorurteile können so überwunden werden. So wird ein interreligiöser Dialog möglich, in dem nicht die Furcht regiert, man dürfe das Andersartige und Fremde der anderen Religion nicht ansprechen.
- Wer aber riskiert, die Begegnung mit anderen Glaubenstraditionen zu suchen, wird vielleicht verblüfft feststellen, dass in anderem Glauben oft eine tiefere Erkenntnis (vielleicht sogar die einem selbst verborgene Wahrheit) steckt, als im eigenen bisherigen Glaubensleben
- Letztlich wird mit diesen Geschichten eine Verbindung zu den Höhenheiligtümern des Salomo geschlagen und eine ähnliche Tendenz sichtbar, nämlich in der Vielfalt sich auf das eine Göttliche, die letzte Wirklichkeit einzulassen.
- Eine Vorurteilung und Negativ-Bewertung einer anderen Religion ist von daher nicht mehr möglich, allerdings brauchen im Dialog die Schwächen und Fehlentwicklungen in den einzelnen Religionen nicht verschwiegen werden. Sie können vielmehr helfen, ohne dass sich die überhebliche Vorstellung einschleicht: „Ich bin stolz, ein Christ zu sein“ (als religiöse Variante zu: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“).
Reinhard Kirste
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