... Die
Stammbäume Jesu in Matthäus 1 und
Lukas 3,23-38 sind voll von Besonderheiten. Im Lukasevangelium hören wir, dass
Jesus für einen Sohn Josephs „gehalten“ wurde und dass beim Zurückgehen in der
Genealogie letztlich klar wird: Jesus als Sohn Adams ist der neue Adam. Anders
bei Matthäus 1,1-17. Neben der Zahl der Vollendung, der Sieben arbeitenden Zahlensymbolik,
die nicht mit historisch-kritischer Nachprüfung bewertet werden sollte und
durch ihre Konstruktionselemente Deutungsprobleme aufwirft, sind es hier vierzehn
( = 2 mal 7) Geschlechter zurück bis zu Abraham, der hier als der Urvater Jesu gilt.
Diese Geschlechterreihe wird systematisierend zweigeteilt: Vor und nach der
babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v. Chr. Was aber diese
Genealogie so ungewöhnlich macht ist, dass hier Frauen genannt werden:
1. Thamar,
die quasi eine Zeugung und Nachkommenschaft von ihrem Schwiegervater Judaerzwang,
indem sie sich als Prostituierte verkleidete und ihn so verführte
(Genesis 38,12-26)
(Genesis 38,12-26)
2. Rahab,
die Chefin eines Freudenhauses und in Jericho beheimatet – sicher
den Göttern Kanaans zugetan (Josua 2,1)[1]
3. Ruth
(Rut), die zugewanderte Heidin aus Moab
4. Bathseba
( = Tochter des Überflusses, die Üppige), die interessanterweise als Frau des
Hethiters Uria in die Genealogie bei Matthäus aufgenommen wird, also ebenfalls
eine Heidin (vermutlich trotz ihres hebräischen Namens) oder sollte man lieber
von einer hethitisch-jüdischen Mischehe ausgehen? Unabhängig von ihrem Glauben wird
sie von David aus eindeutig ersichtlichen Motiven und mit üblen Intrigen zur
Ehefrau macht (2. Samuel 11+12)
5. Maria, die nach dem Matthäus-Evangelium
mit Joseph noch nicht verheiratet war und der darum auch der Makel eines
unehelich geborenen Sohnes nicht ganz abhanden kommt.
Alle dieses Frauen haben eine
Schlüsselstellung im Fortgang der Heilsgeschichte, obwohl die meisten von ihnen
mit erheblich dunklen Stellen in ihrer Biografie. zumindest aber an die Göttern
Kanaans Glaubende und damit religiös konträr zum Monotheismus Israels. Irmtraud
Fischer nimmt das in ihrem Ruth-Kommentar zum Anlass, die veränderte Sichtweise
dieser Erzählung zu betonen, weil hier eindeutig die Frauen im Mittelpunkt
stehen. Das führt sogar dazu, dass die Männer begünstigenden Rechtsvorschriften
eine positive Auslegung im Sinne der Frau bekommen.[2]
…
Die
Erzählung führt uns in die Zeit der
Staatenbildung [um 1000 v. Chr.], die noch viele Unsicherheiten aufwies.
Erst unter David und Salomo gelang es einen den Kanaanäern vergleichbaren Staat
zu bilden. Das Buch Ruth erinnert damit an die Richterzeit, wo charismatische
Führer und ihre spontan aus den Stämmen Israels zusammen gerufenen Truppen
ersten militärischen und rechtlichen Schutz boten ...
Dennoch
aber bleibt letztlich unklar, warum Ruth in die Heilsgeschichte kommt, denn es wäre auch eine
weniger komplizierte Genealogiegeschichte möglich gewesen. So aber haben wir
ein geradezu klassisch inklusives Verfahren vor uns, indem die so aufrichtige
Ruth mit ihrer Liebe zum Volk ihrer Schwiegermutter quasi die geistigen
Voraussetzungen erfüllt, um „jüdisch“ zu werden. Interessanterweise schweigen
sich jedoch die Erzähler darüber aus, wie es denn zu verstehen sei, dass Ruth
in 1,16 sagt, dass der Gott ihrer Schwiegermutter auch ihr Gott sei. Bedeutet
die Anerkennung Jahwes (Adonaj) als einzigen Gott oder bleibt Ruth auch dem
Gott der Moabiter, Kamosch, treu? …
Man muss davon ausgehen, … dass die
jeweiligen Regionalgötter unter
veränderten Bedingungen weiter existierten. Es dauerte lange, bis sich die henotheistischen Tendenzen des
Gottesglaubens monotheistisch und
damit auch universalistisch durchsetzten. Erst Hosea, Jesaja, Jeremia und
Deuterojesaja sagen deutlich, dass die anderen Götter Nichtse sind, nichts
bewirken und darum völlig nutzlos und sinnlos sind. (Hosea 13,2, Jesaja 2,18;
41,29; 45,22, Jer 2,5.8.11).
…
So ergibt sich eine
religionsgeschichtliche Verwandtschaft zwischen dem kanaanitischen Baal, dem
babylonischen Marduk, besonders was ihre jeweiligen Schöpfungs- und
Ordnungsaufgaben betrifft.[3]
Wir müssen schließlich auch bei David und Salomo davon ausgehen, dass
die funktionale Verwandtschaft der
Götter Kanaans mit Jahwe, dem Gott Israels, multireligiöse Tendenzen
begünstigte und angesichts der liberalen Religionspolitik der beiden Könige,
besonders dann unter Salomo, einen religiös pluralistischen Kultbetrieb mit
vielen synkretistischen Varianten in Jerusalem ermöglichte.[4]
Sowohl David als noch stärker Salomo
sind Teil der altorientalischen Welt, in der sich um 1000 traditionelle
Gottesvorstellungen verändern. Besonders Salomo betrieb offensichtlich eine
systematische Religionspolitik, die auf Israel als quasi Vielvölkerstaat
Rücksicht nahm. Die Kanaaniter wurden ja nicht vertrieben, sondern es gab eine
Mischung aus konfliktträchtigen und sicher auch handelsorientierten eher
friedlichen Begegnungen.[5] …
Blickt man auf das Buch Ruth zurück,
so lässt sich folgern, dass die Differenzen zwischen den einzelnen Gottesverständnissen
zwar vorhanden, aber offensichtlich nicht so gravierend waren, dass nicht eine
Übernahme in eine andere Religionsgemeinschaft relativ leicht erfolgen konnte …
Das Buch Ruth nun zeigt Tendenzen,
dass die Vereinnahmung Ruths durch den
Jahweglauben zwar Teile ihrer moabitischen Identität beseitigt, aber ihre
völlige Integration in die Gesellschaft Bethlehems verändert auch das
Selbstverständnis der Bethlehemiten bis dahin, Ruth zur Stammutter Davids und
damit auch des künftigen Messias zu machen, wie dann die Weiterentwicklung der
Davidstradition bis hin ins Neue Testament zeigt. Vier Gesichtspunkte gilt es [hier]
zu verifizieren:
1. Wie
stark vereinnahmend inklusivistisch (interessanterweise nie exklusivistisch!) gedacht
wird, es bleibt Tatsache für die hebräische Bibel, dass eine Moabiterin – wie
auch immer in den Stammbaum Davids gerät und damit auch in die Heilslinie, die
auf den Messias zielt.
2. Das
Matthäusevangelium nimmt die vorgegebene Heilslinie verstärkend auf, indem Ruth
ausdrücklich in der Genealogie Jesu erwähnt wird. Dass dies nicht zwingend ist,
beweist der Stammbaum des Lukas, wo andere Interessen maßgebend sind.
3.
Dass
für einen Stammbaum recht ungewöhnlich, gleich vier Frauen mit problematischen
kulturellen und religiösen Wurzeln die Heilslinie zum Messias hin garantieren,
macht für Matthäus die Einmaligkeit und bisherige Analogielosigkeit des in
Bethlehem, der Davidsstadt, zur Welt kommenden Messias und Weltenheiland
auffällig.
4. Indem
die wie immer geartete Erinnerung an die Moabiterin Ruth nicht getilgt wird,
sondern sogar umdeutend betont wird, öffnet sich gleichzeitig die
Heilsgeschichte für Menschen anderen Glaubens. Damit behalten beide Texte,
sowohl der alttestamentliche wie der neutestamentliche trotz ihrer andere
Götter letztlich nicht akzeptierenden Tendenz eine gewisse Flexibilität, die es
m.E. unter heutigen Bedingungen erlaubt, pluralistische Konsequenzen aus dem
Buch Ruth zu ziehen …
Die verschiedenen theologischen
Kommentare sowohl alttestamentlich zu Ruth als auch zum Matthäusevangelium
schwanken zwischen einer strengen und
milden inklusivistischen Deutung, das gilt auch für die feministischen
Auslegungen …
So finden wir zwar immer wieder pluralistische Ansätze, weil auch die
biblischen Autoren mit theologischen Konstruktionen arbeiten, um ihre
Intentionen im Blick auf die universale Kraft des Jahweglaubens bzw. das Heil
in Christus zu verdeutlichen, aber wirklich pluralistische Möglichkeiten scheinen
durchweg ausgeschlossen zu bleiben.
Dennoch lohnt es für eine
weitergehende Interpretation zwei Faktoren festzuhalten:
- Das religiöse Umfeld Israels zur Zeit der Staatengründung bis hin zur Religionspolitik Salomos mit seinen polytheistischen und synkretistischen Varianten und dem Aufbau eines monotheistischen Gottesglaubens.
- Die Variationsbreite im Gottesverständnis einer Ruth aus dem 9./10. Jahrhundert v. Chr. und des Buches Ruth, das immerhin eine inklusivistische Vereinnahmung einer Moabiterin ermöglicht, ohne dass es grundlegende Widerstände im Blick auf den alten Götterglauben und das neue henotheistische bzw. monotheistische Gottesverständnis gab ...
Angesichts der
religionsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen das Buch Ruth angesiedelt ist,
nehme ich aufgrund der schon in den biblischen Texten auffälligen
„Flexibilität“ bei der Etablierung des Jahweglaubens als Monotheismus nun eine über den Text hinausgehende hermeneutische
Entscheidung vor, die die vereinnahmende Tendenz des Buches Ruth verlässt
und Möglichkeiten der Gleichwertigkeit der Religionen in einer
Weiterinterpretation des Buches Ruth postuliert. Ich sehe dies auch dadurch
gerechtfertigt, dass die Aufnahme Ruths in die Genealogie Jesu eine bewusste
Konstruktion darstellt, die schon beim Evangelisten Matthäus eine Öffnung des
christlichen Glaubens für die „Heiden“ ermöglicht. Dass Rahab und Ruth im
Stammbaum Jesu eindeutig „heidnische“ Vorstellungen einbringen, die dann
sozusagen durch die Kommunikation mit den Israeliten richtig gestellt werden,
bietet gerade bei Matthäus eine Öffnung, die es lohnt pluralistisch weiterzuführen.
…
Es ist geradezu als ein Glücksfall
anzusehen, dass eine Moabiterin in die Genealogie Jesu gerät. Sie ermöglicht,
das inklusivistische Verständnis aufzubrechen. Schon mit der altorientalischen
Bezeichnung „El“ verbergen sich unterschiedliche Gottesbilder. Keineswegs ist
in der Ruth-Geschichte schon ein klassischer quasi bilderloser Monotheismus
vorherrschend, sondern bei allen in der Ruth-Geschichte auftretenden Personen erscheint
hinter den sich unterschiedlich geschichtlich äußernden Göttern das Göttliche,
die Gottheit, und zwar eine Gottheit, die die Welt hin zum Frieden ordnet und
ein harmonisches Zusammenleben verschieden denkender und glaubender Menschen
ermöglicht.
So gilt für mich insgesamt: Die
Variationsbreite, mit der Ruth sowohl im Buche Ruth als auch bei Matthäus
gesehen wird, eröffnet religionspluralistische Möglichkeiten dahin gehend, dass
ein hermeneutisches Kriterium zum Messias-Verständnis
bereit gestellt wird, das sich zum einen selbst biblisch legitimieren lässt
(über die Konstruktion der Genealogie) und zum andern gegenseitiges Verständnis
so fördert, dass nicht eine Abwertung der anders Glaubenden dabei heraus kommt:
…
Religiöse Verständnisse sind und
bleiben geschichtlich bedingt, aber gerade ihre Bedingtheit erlaubt es, den
Blick zu weiten und darum mit Ruth in der Genealogie Jesu zu erkennen, dass zum
einen auch Jesus, der Sohn der Maria –
als der Heil bringende Messias-Christus – nicht ohne die „Heiden“ auskommt
und zum andern, dass Jesus in den
Kontext der weltweit Glaubenden hinein genommen wird. Er bleibt damit
Heilsbringer. Es bleibt jedoch offen, ob
er der einzige Heilsbringer ist. Selbst unter christlichen Gesichtspunkten müssen
seine „heidnischen“ Vorfahren als
gleichwertige Partner des göttlichen Heilsgeschehens berücksichtigt werden …
So wird Ruth, die Moabiterin mit ihrem
Gott Kamosch / El / Elohim / Jahwe (Adonaj) zum komplementären und notwendig
ergänzenden Element eines Glaubens, der die engen regionalen Grenzen eines
Landes hin auf eine weltweite Dimension übersteigt.
Reinhard
Kirste
Eine Moabiterin in der Genealogie Jesu - Auszug aus: YOUSEFI,
Hamid Reza / BRAUN, Ina / SCHEIDGEN, Hermann-Josef (Hg.): ‚Orthafte
Ortlosigkeit der Philosophie’. Eine interkulturelle Orientierung. Festschrift
für Ram Adhar Mall zum 70. Geburtstag. Nordhausen: Bautz 2007, S. 511–525.
[1] vgl zu dem kananäischen Götterpantheon Helmer
Ringgren: Die Religionen des Alten Orients.
ATD Ergänzungsreihe, Sonderband. Göttingen: V & R 1979, S. 216-225.
ATD Ergänzungsreihe, Sonderband. Göttingen: V & R 1979, S. 216-225.
[2] Vgl. Irmtraud Fischer (übersetzt und
ausgelegt): Rut. Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament. Hg. Erich
Zenger. Freiburg u.a.: Herder 2001. I. Fischer dürfte überhaupt diejenige sein,
die die intensivsten Untersuchungen (gerade im Sinne auch einer feministischen
Bibelauslegung) zum Buch Ruth angestellt hat …
[3] Cohn bezieht sich dabei auf Richter 5, Psalm
65 und 74, aaO, S. 132f.
[4] Cohn aaO S. 137f.
[5] Vgl. dazu Javier Alonso López:
Salomón. Entre realidad y el mito. Madrid: Oberon 2002, S. 49ff, 57ff. Hier wird
die Nähe von Salomos Regierungsstil zu dem der Pharaonen besonderes betont.
Zur multireligiösen
Offenheit Salomos vgl. Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen.
Interkulturelle Bibliothek Bd. 7. Nordhausen: Bautz 2006, S. 36-53.
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