Mittwoch, 20. November 2019

Interreligiöse Schule - Konzept für eine multikulturelle Gesellschaft - eine Konferenz 1994 in Ede


Bart ten Broek,  Trees Andree, Anders von Soest,  Reinhard Kirste

Das Konzept einer interreligiösen Schule als Chance
für eine multikulturelle Gesellschaft

Gekürzte und überarbeitete Beiträge, gehalten am 9. September 1994 in der Juliana-van-Stolberg-Schule Ede 

anlässlich einer Tagung des Evangelischen Schulreferates Iserlohn, der Interreligiösen Arbeitsstelle (INTR°A)
und der Universität Utrecht


Bart ten Broek:  Chancen und Gefahren

Die Kinder führen uns gleich ein kleines Spiel vor. Sie machen eine Reise durch die Wüste. Das ist ein gutes Thema, denn wir haben das Gefühl, dass wir immer durch die Wüste der gegenwärtigen Gesellschaft reisen. Und die Kinder - sie laufen, sie suchen Ruhe, sie suchen Oasen, und wenn sie Oasen gefunden haben, sind sie sehr fröhlich. Aber unterwegs braucht man einander und sie werden enden mit dem Lied: „Gib mir die Hand“.

Es gibt, solange das Modell der Begegnungsschule besteht, oder wie wir sagen: das Modell von Anerkennung und Wiedererkennung, es gibt in all den Jahren, die wir bestehen, eine Spannung, einen gesellschaftlichen Prozess einerseits, der in der Schule und ihrer Umgebung stattfindet. Zugleich geht es um schnelle Veränderungen im niederländischen Schulunterricht. Und was wir bemerken, ist, dass Skeptiker nur nach Zahlen schauen , wie die Entwicklung und die Verhältnisse hier sind. Es gibt hier an der Schule mehr Kinder aus der Türkei und aus Marokko als niederländische Kinder. Aber wir schämen uns dafür nicht. Wir denken, daß das Gesetz seine Zeit braucht, und wir bemerken, dass es auch leichte Veränderungen gibt, denn die gesellschaftlichen großen Probleme bleiben bestehen. In den Zeitungen der Niederlande wurde gemeldet, dass es im Jahre 2000 im Westen der Niederlande möglicherweise 45% Ausländer gibt.

Die Gesellschaft wird sich also sehr stark ändern. So bemerkt man ständig Angst bei vielen Menschen. Diese suchen wir in dieser Schule zu durchbrechen. Wir schaffen dies mit Kindern von Ede. Die Skeptiker machen einen großen Fehler, denn in einer Gruppe dieser Schule haben wir wieder mehr niederländische Kinder. Wir wollen aber nicht nur sagen: das ist gut - es ist leicht, das zu tun - hier haben wir das Gefühl: Anders sein ist schön, aber es geht zwei Meter vor und einen Meter zurück (wie bei der Echternacher Springprozession).

Uns geht es um gesellschaftliche Werte, die uns sehr wichtig sind:

·      Die Mitarbeit der Eltern. Sie haben die Verantwortung übernommen, mitzuarbeiten.
·      Die Gleichwertigkeit im Dialog, mit Verträgen, Vertretern der verschiedenen Religionen und der Gebrauch der eigenen Sprache.
·      Das Know-How , die Haltung und die innere Einstellung meiner Kolleginnen und Kollegen.

Ich hoffe, dass wir mit diesem Tag weiter entdecken, daß die Vorurteile, die auch in uns stecken, hinderlich sind, gerade wenn wir es gut machen wollen.

Ich wünsche uns allen einen sehr guten Tag, und ich hoffe, daß die Schule, die in vielen Situationen, wovon Sie gehört oder gelesen haben, daß die Schule etwas mitgibt, wovon Sie sagen: Es ist gut, diese Schule zu stützen und so zu glauben, daß wir etwas entwickeln, was gut ist für die heutigen Kinder.

Anders von Soest:  Die Freiheit des Unterrichts

Ede ist eine Gemeinde mit 100 000 Einwohnern, zerstreut über einige Dörfer und eine Stadt mit ungefähr 65 000 Einwohnern. In Ede wohnen Leute mit 82 - sie hören es gut - 82 verschiedenen Nationalitäten. Über multi-kulturelles Zusammenleben gesprochen, 82 Nationalitäten - herzlich Willkommen!. Und diese Leute haben keine Religion oder verschiedene Religionen. Ich freue mich immer, wenn religiöse und nicht-religiöse Menschen miteinander kommunizieren, denn das Nicht-Kommunizieren führt leicht zum Konflikt. Der Dialog ist so wichtig, in einer Gemeinschaft von Menschen, in einer Schule, in einer Gemeinde. Selbst bin ich inspiriert durch Martin Buber. Martin Buber hat eine Schrift geschrieben „Ich und Du“. Martin Buber spricht von drei Relationen. Relation Ich und Du, Relation zwischen Gott und Menschen. Ich und du - Relation zwischen Menschen und Menschen und Ich - Es, Relation zwischen Mensch und Sache.

Ist es nicht schrecklich, dass Menschen zuweilen mehr Freude erleben an einer Relation mit Dingen als an einer Relation mit Gott oder mit Menschen? Darum sind einige Passagen in diesem Kontext wichtig wie es im INTR°A-Faltblatt steht: Sie schreiben: „Der Gedanke von Toleranz und Versöhnung soll so umfassend gefördert werden, dass Bewährung, Vertiefung und Förderung der eigenen religiösen Identität und Spiritualität dabei als Grundlage eines weiterführenden Dialogs gewonnen werden.“

Die Freiheit des Unterrichtes ist sehr wichtig in Holland, und ich freue mich darüber. Eltern können ihre Kinder in diese Schule gehen lassen oder in eine andere Schule. Das ist gut. Ich hoffe dann auch auf eine gute Konferenz hier in Ede für sie und natürlich für die Gemeinschaft der Juliana-von-Stolberg-Schule.

Trees Andree:  Bedeutung für Pädagogik Wissenschaft

Wenn man nicht mit dem Auto, wie viele von Ihnen vielleicht, sondern mit dem Zug nach Ede fährt, dann steigt man am Bahnhof Ede-Wageningen aus. Für viele Leute in den Niederlanden , aber auch für Ausländer ist Ede-Wageningen ein Begriff, weil alle Züge, Intercity, Schnellzug und natürlich jeder Bummelzug in Ede-Wageningen halten. Nun ist es aus alphabetischen Gründen aber so, daß man Ede vor Wageningen gestellt hat. Eigentlich ist Wageningen bekannter, berühmter, weil sich hier die einzige Landwirtschaftshochschule der Niederlande befindet. Ede hat Industrie, Fabriken, Fabrikarbeiter. Wageningen dagegen hat wegen der Hochschule Studenten und Professoren, und Wageningen hat Labore, Chemiker, Laboranten, landwirtschaftliche Versuchsbetriebe und Versuchsgärten, wo man, was dort wächst und blüht, studiert und damit experimentiert. Ede und Wageningen - ein Bahnhof, aber sehr verschiedene Städtchen. Und Ede ist so gesehen die unbedeutendere von beiden.

Jetzt stellen Sie sich vielleicht die Frage, warum ich Ihnen dies erzähle. Was soll man mit den Kenntnissen von Wageningen anfangen, wenn man hier in Ede an der Schule ist?

Je länger ich darüber nachgedacht habe, je mehr ist mir Übereinstimmung zwischen Ede und Wageningen aufgefallen. Ede hat keine landwirtschaftliche Hochschule. Aber Ede hat die einzige interreligiöse Schule der Niederlande und nicht nur der Niederlande, sondern Europas, die Juliana-von-Stolberg-Schule.

Was in Ede, an dieser Schule im letzten Jahrzehnt auf dem Gebiet des interreligiösen Unterrichts unter sehr schweren Umständen entwickelt wurde, ist sehr wertvoll, nicht nur für diese spezielle Schule und ihre Schüler, sondern für einen viel weiteren Kreis und für eine längere Zeit. Das Konzept der konfessionellen Schule steht unter Druck, weil wir jetzt in diesem Lande noch neben dem öffentlichen Schulwesen eine Verschiedenheit an Bekenntnisschulen haben, lässt es sich absehen, dass in der nächsten Zukunft viele von diesen Schulen zusammengehen müssen und Gesamtschulen werden. Aber welche Signatur werden diese Schulen haben? Wie kann man für die Zukunft das Religiöse, das viele Konfessionen verbindet, und die Eigenheit der eigenen Tradition, die jeder Religion kostbar ist, in der Schule, in Erziehung und Bildung sicherstellen? Und gerade das ist es, was Ede zu bieten hat.

Die Juliana-von-Stolberg-Schule, die sich aus einer protestantisch-christlichen Schule entwickelt hat, als interreligiöse Schule, ist ein Muster für die Gegenwart. Nein, nicht als Blaupause, aber als gutes Beispiel, wie man diesen Weg gehen kann. Denn jede Schule hat ihren eigenen Weg zu gehen. Aber man kann lernen von dem, was andere mitgemacht, untersucht und geprüft haben. Dafür ist es notwendig, dass man Einsicht in den ganzen Prozess hat, mit Fallen und Aufstehen, mit Lachen und Weinen. Und gerade das ist die Kostbarkeit dieser Juliana-von-Stolberg-Schule. Mit der Universität Utrecht, aber auch mit anderen Instituten wird zusammengearbeitet, um das, was hier gewachsen ist, für andere fruchtbar zu machen. Man kann sagen, dass diese Zusammenarbeit bis jetzt im wissenschaftlichen Sinne sehr ergiebig gewesen ist und noch mehrere Möglichkeiten in sich trägt. Leider wirkt sich diese Fruchtbarkeit nicht auf die Anzahl der Schüler aus, insbesondere nicht auf die  Anzahl der christlich-niederländischen Schüler in dieser Schule. Aber haben wir nicht aus der Bibel gelernt, dass ein Prophet selten in seiner eigenen Stadt Anerkennung bekommt? Und wenn man sich dazu vorstellt, dass man hier schon Anfang der achtziger Jahre, vor mehr als zehn Jahren, ein Muster für Erziehung und Bildung entwickelte, worin christliche und muslimische Kinder gleichwertig wachsen können, jeder in seiner Eigenheit und dadurch auch nicht bedroht im Verständnis füreinander, dann kann man vielleicht feststellen, dass die Juliana-von Stolberg-Schule ihrer Zeit voraus gewesen ist. Und das kann fatal für sie sein.

Jetzt wird diese Schule in ihrem Fortbestehen bedroht, nicht wegen ihrer Qualität, nur wegen ihrer Quantität. Damit droht ein einzigartiges Experiment, ein Versuchsgarten, worauf Wageningen eifersüchtig sein könnte, verloren zu gehen. Das wäre nicht nur ein Verlust für Ede, sondern auch für das Zentrum für Interreligiöses Lernen der Universität Utrecht und für die Interreligiöse Arbeitsstelle in Nachrodt, Deutschland, und für meine Kollegen in Hamburg, Berlin, Jena  und am Comenius-Institut in Münster und weiter in Europa. Ich möchte heute gerne die Gelegenheit nutzen, darauf aufmerksam zu machen, daß hier mehr geschieht als Unterricht für ca. 120 Kinder.

Die Juliana-von Stolberg-Schule hat, wie man heute wieder konstatieren kann, eine viel weitere,  auch wissenschaftlich wertvolle Ausstrahlung. Ede hat eine einzigartige Primarschule, wo SchülerInnen und LehrerInnen, Studenten und Professoren aus verschiedenen Ländern sich treffen. Ede hat in der Juliana-von-Stolberg-Schule ein eigenes Labor und Versuchsgarten, wo nicht nur Pflanzen, sondern wo Kinder wachsen, wo eine neue Gesellschaft lebendig wird, wo Menschen von verschiedenen Kulturen und Religionen lernen, in Gleichmütigkeit  miteinander in Frieden zusammenzuleben, wo an der Zukunft gebaut wird.

Ede und Wageningen - ein Bahnhof, sehr verschiedene Städte. Aber Ede ist nicht die unbedeutendere von diesen beiden.

Reinhard Kirste:  Übertragbare Erfahrungen?

Wir haben uns heute in einer Schule versammelt, in deren Nähe, nämlich auf der Eder Heide, das Ende der deutschen Okkupation durch alliierte Fallschirmjäger eingeleitet wurde, wie das in dem englischen Film „Die Brücke von Arnheim“ erschreckend dokumentiert wird. Arnheim musste noch länger unter deutscher Besatzung leiden, denn wie der englische Titel des Films wörtlich übersetzt lautet: es war „eine Brücke zuviel“.

Die Sprache von uns Deutschen, die wir heute hier sind, ist dieselbe Sprache wie die der damaligen Besatzer, einer wahrhaft brutalen Besatzung.

Wenn wir uns heute auf deutsch unterhalten, in einer niederländischen Schule, weil wir - die deutsche Gäste - kein niederländisch sprechen, aus welchen Gründen auch immer, so empfinde ich dies als eine beeindruckende Geste unserer Gastgeber. Aber es geht noch um mehr. Alle miteinander versuchen wir, Brücken zu bauen und nicht Brücken abzubrechen; denn wir wissen, dass die Zukunft in unseren Kindern liegt, niederländischen, deutschen, marokkanischen, türkischen, molukkischen, eben in den Kindern dieser Welt. Sie mögen braun, weiß oder schwarz sein, blonde oder dunkle Haare haben, sie mögen Schlitzaugen haben oder runde Augen. Um diese Kinder geht es. Für diese Kinder ist das Beste gerade gut genug. Und das Beste - das haben so wenige verstanden - dieses Beste ist eine gute Erziehung.

In Deutschland haben wir einige größere institutionelle Schwierigkeiten als in den Niederlanden, denn: Erziehung wird sehr stark reglementiert: Über Lehrpläne, Schulpläne, Administrationen. Und immer wieder hört man den Ruf: Bloß nicht so viel experimentieren! Nein, umgekehrt muss es sein: Unsere Kinder erwarten Kreativität von uns, den Lehrerinnen und Lehrern. Da können wir nicht immer in den alten ausgefahrenen Geleisen fahren, denn unsere Welt verändert sich rasant. Und in dieser veränderten Welt brauchen wir Werte und Maßstäbe, die dem Frieden und der Versöhnung dienen. Unsere Politiker - gerade in Deutschland - haben besonders durch die Ausländer- und Asylgesetzgebung bewiesen, dass man Leute ausgrenzt, statt Brücken baut, dass man bestehende Brücken sogar noch abbaut.

Die Juliana-van-Stolberg-Schule ist für mich nun eine Brücke, wo die Kinder dieser Welt  ohne Grenzen zusammenkommen. Eine Schule, wie die in Ede, macht vor, dass man interreligiös lernen kann, dass man Werte und Maßstäbe haben kann aus der eigenen Religion. In Deutschland ist ein solches Experiment leider nicht möglich.
Unser Wunsch kann eigentlich nur sein, dass die Kolleginnen und Kollegen, die mit aus Deutschland gekommen sind, sich am heutigen Tag ein Stück weit überzeugen, dass es nicht nur wichtig ist, miteinander auf Konferenzen Dialog zu treiben.

Auch das auf manchen internationalen Konferenzen proklamierte Weltethos fängt an der Basis an: Arbeit vor Ort, Arbeit mit den Kindern. Alle großen Pädagogen von Pestalozzi bis Janusz Korczak haben uns dieses gelehrt, daß diese Zukunft als Zukunft des Friedens in unseren Kindern liegt. Und deswegen danke ich, daß wir hier sind und hoffe, daß wir Ideen, auch praktische Ideen, im Laufe dieses Tages entwickeln können und mit nach Hause nehmen.


Pressemitteilung
Begegnung niederländerdischer und deutscher Religionspädagogen in der
Juliana-van-Stolberg-Schule Ede am 9.September 1994

Die interreligiöse Basisschule Juliana-van-Stolberg war am Freitag, 9.September 1994 Gastgeberin für das Evangelische Schulreferat Iserlohn und die Interreligiöse Arbeitsstelle (INTR°A) aus Nachrodt/ Westfalen.
Diese Arbeitsstelle wird geleitet von Prof. Dr. Udo Tworuschka, Jena und Dr. Reinhard Kirste, Schulreferent in Iserlohn. Zusammen mit Prof. Dr. Paul Schwarzenau, Dortmund, bilden sie die Redaktion der Buchreihe „Religionen im Gespräch“ (RIG). Hier wird alle zwei Jahre eine Bestandsaufnahme der interreligiösen Situation versucht.
Die Deutschen waren nach Ede gekommen, weil sie mit ihren niederländischen Kolleginnen und Kollegen einen Gedankenaustausch über ein bemerkenswertes interreligiöses Schulmodell führen wollten.
Diese Schule ist die einzige in den Niederlanden (wahrscheinlich auch in ganz Europa), in der christliche und muslimische Eltern als Gleichberechtigte die Schule mittragen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bedauerten, daß dieses wegweisende Modell bisher so wenig Nachahmer gefunden hat. Sie äußerten die Hoffnung, daß die Behörden diese Schule weiter fördern.

Die niederländische Professorin Dr. Trees Andree von der Universität Utrecht war der Meinung, daß religiöses Lernen aus drei Elementen besteht und zwar nicht nur
*      „Lernen über“ im Sinne von Information, sondern auch
*      „Lernen mit“ anderen zusammen und
*      „Lernen in“ der eigenen Tradition durch Begegnung mit anderen.
Gleichzeitig legte sie eine wissenschaftliche Untersuchung über die Modellschule in Ede vor. Diese Arbeit wird in Kürze auch in Deutsch erscheinen (in der Reihe „Iserlohner Con-Texte“ ICT 13: Interreligiöse Schule - ein niederländisches Modell).

Die Modellschule in Ede wird vom „Centrum voor interreligieus Leren“ (= Zentrum für interreligiöses Lernen) in Utrecht wissenschaftlich begleitet.
Der Schulleiter Bart ten Broek unterstrich, daß interreligiöses Lernen einen langen Atem erfordert. Es handelt sich um einen Prozeß, der das Engagement aller Beteiligten nötig macht.
Die Schule in Ede muß in ihrem Modellcharakter erhalten bleiben.
Darüberhinaus wäre es wünschenswert, daß sie zu einem Stück Selbstverständlichkeit in einer multikulturellen Gesellschaft wird.
(Diese Erklärung wurde auch in den Niederlanden veröffentlicht.)


Aus einem Interview mit Radio MK
im Zusammenhang mit dem Lehrerbesuch in Ede am 6. September 1994

Radio MK = Radio Märkischer Kreis gehört zu den zahlreichen lokalen Rundfunkanstalten (Lokalradios),
die in den letzten Jahren in Deutschland entstanden sind.

Die Juliana-von-Stolberg-Schule in Ede ist die einzige, die bisher dieses interreligiöse Schulmodell praktiziert, das heißt, dass die Schülerinnen und Schüler zum einen den christlichen Religions­unterricht besuchen, zum anderen aber auch über andere Religionen, zum Beispiel: den Islam aufgeklärt werden. Das pädagogische Konzept erklärt der evangelische Schulreferent aus Iserlohn, Dr. Reinhard Kirste so:

Dieses Konzept ist von der Schule frei gestaltet. Das ist mit dem niederländischen Schulgesetz möglich, und zwar so, dass man einen Lehrplan entwickelt hat, der die Begegnung von Schülern verschiedener Religionen, Rassen und Weltanschauungen ermöglicht. Man muss dazu wissen, dass die Schule eben von niederländischen Kindern, marokkanischen, türkischen, molukkischen Kindern und einigen anderen besucht wird, und man jetzt überlegt hat, wie die verschiedenen kulturellen Hintergründe und die religiösen Traditionen so aufeinander abgestimmt werden können, dass man gegenseitig lernen kann.

Im sogenannten Begegnungsunterricht wird versucht, die Gemeinsamkeiten der Religionen aufzudecken, aber auch Unterschiedliches und Fremdes kennen zu lernen oder besser zu verstehen. Das Voneinander-Lernen steht immer im Mittelpunkt des Unterrichtes.

Dies geschieht einmal, indem die Kinder in ihrer religiösen Tradition, wo sie herkommen, christlich, islamisch zum Beispiel, gefestigt werden, und auf der anderen Seite aber Begegnungsstunden stattfinden, so dass die Kinder sich gegenseitig aus ihren religiösen Traditionen erzählen und natürlich alle Feste, die sich irgendwie anbieten, jetzt gemeinsam gefeiert werden.

Die Erfahrungen der Schulleitung sind durchweg positiv. Das liegt unter anderem daran, dass sich der Schulvorstand aus den Eltern der christlichen und muslimischen Schüler und interessierten Einzelpersonen zusammensetzt. Und genau dieser Schulvorstand organisiert alle anfallenden Arbeiten. So können auch individuelle Wünsche erfüllt werden. Da kommt natürlich die Frage auf:  Ist so eine Unterrichtsform nicht auch auf deutsche Schulen übertragbar? Dazu noch einmal Dr. Reinhard Kirste:

Dies ist in Deutschland undenkbar. Allerdings hat es immer wieder Versuche gegeben, stärker die multikulturelle Situation in den Schulen zu berücksichtigen. Aber bisher ist es auch nicht gelungen, einen islamischen Religionsunterricht an den deutschen Schulen einzuführen. Es scheint jetzt zum ersten Mal in Nordrhein-Westfalen überhaupt möglich zu sein, einen Ethikunterricht einzuführen. Also hier muss noch sehr viel getan werden. Und die Holländer sind uns um vieles an dieser Stelle voraus.“


Zuerst erschienen in:
Iserlohner Con-Texte, ICT 13: Interreligiöse Schule - ein Vorbild aus den Niederlanden.
Hg. Paul Schwarzenau / Reinhard Kirste. Iserlohn 1995, S. 4-33, hier zitiert: S. 40-44


© InterReligiöse Bibliothek (IRB)




Die Juliana-van-Stolberg-Schule in Ede - ein Modell für Europa --- Aus der Dokumentation der Universität Utrecht


Theologische Fakultät der Rijksuniversiteit (Reichsuniversität) Utrecht


Die interreligiöse Basisschule Juliana-van-Stolberg in Ede
Untersuchung und Dokumentation (Utrecht, im März 1993)

Teilprogramm III:               Lebensanschaulich/weltanschauliche  Bildung und Sinngebung 
                                          im Schulunterricht
Projekt III:                            Schulunterricht und lebensanschauliche Sozialisation
Projektteil I.a.3:                   Die interreligiöse Schule Juliana-van-Stolberg in Ede
Leitung:                            Prof. Dr. Trees T.G.I.M. Andree, Drs. Piet D.D. Steegman,
                                          Dr. Marianne Timmer
                                                                                              

Die Originalfassung lautet: De Interreligieuze Basisschool Juliana van Stolberg in Ede:
Schoolvoorbeeld voor de jaren '90?
Gekürzte Fassung: Ubersetzung aus dem Niederländischen von Jörg Weispfennig
Redaktion: Reinhard Kirste und Jan Slomp, April 1995


INHALTSÜBERSICHT

               Aufgabenstellung
1.   Einleitung     
               1.1.         Muslime in den Niederlanden

2.   Muslimische Schüler in protestantisch‑christlichen Basisschulen: Von Gästen zu „Bleibern“

               2.1.         Sonderausschuss Protestantisch‑christlicher Schulunterricht und kulturelle Minderheiten
               2.2.         Praktische Umsetzung der Ziele des Sonderausschusses          
               2.3.         Wahl der Schulform           
               2.4.         Weitere Entwicklungen

3.   Die Entwicklungen innerhalb des Religionsunterrichtes an der Juliana-van-Stolbergschule
      seit der Aufnahme muslimischer Schüler

               3.1.         Auffangschulen für Anderssprachige mit integrativen „Schleusen“klassen              
               3.2.         Experimentelle Basisschule: ein Entwicklungsprojekt   
               3.3.         Begegnungsunterricht        
               3.4.         Islamischer Religionsunterricht innerhalb des christlichen Begegnungsunterrichts
               3.5.         Reaktionen auf den Vorstandsbeschluss der Vereinigung CNS
                              (= Christliche Nationale Schulen)     
               3.6.         Einsetzung und Aktivitäten der Grundsatzkommission 
               3.7.         Fortführung des Experiments           
               3.8.         Denkschrift „Die CNS‑Basisschule  Juliana‑van‑Stolberg: Rückblick und Zukunft“
               3.9.         Auf dem Weg zur Verselbständigung              
               3.10.       Auf eigenen Füßen            
               3.11.       Gründung einer islamischen Schule in Ede

4.   Interreligiöser Unterricht an der Juliana-van-Stolberg-Schule: Ideal oder Wirklichkeit?      

               4.1.         Interreligiöser Unterricht     
               4.2.         Wie wird der religiöse und lebensanschauliche Unterricht mit Inhalt erfüllt?             
               4.3.         Feste     
               4.4.         Entwicklung des Unterrichtsmaterials             
               4.5.         Erläuterung einer Unterrichtseinheit 
               4.6.         Wünsche und Möglichkeiten für die Zukunft  
               4.7.         Externe Kontakte

5.   Schlussbetrachtung




4.  Interreligiöser Unterricht an der Juliana-van-Stolberg-Schule:  Ideal oder Wirklichkeit ?

4.1.  Interreligiöser  Unterricht

Zum 1. Januar 1990 ist die Juliana-van-Stolberg-Schule eine selbständige interreligiöse Schule geworden. Die Schule setzt sich zum Ziel, alle Schüler bei ihrer interreligiösen Entwicklung zu betreuen. Dabei geht sie von der Gleichwertigkeit der beiden innerhalb der Schule vertretenen Religionen aus: dem Islam und dem Christentum. Darum wird sowohl christlicher wie islamischer Religionsunterricht erteilt. Der Gedanke dahinter ist, dass die Schüler aus Wissen und Wertschätzung für ihre eigene religiöse Tradition heraus besser imstande zu Gespräch und Begegnung mit einer anderen Tradition sind. In einem Entwurf des Schullehrplanes für die Julinana-van-Stolbergschule steht über den Religionsunterricht das Folgende:

Der Religionsunterricht richtet sich im Besonderen auf den Bereich der religiösen Entwicklung. Dieser Bereich umfasst
·      kognitive Aspekte         

     Wissensvermittlung über die eigene und die andere in der Schule anwesende Religion,

·      affektive Aspekte          

      Wie verhält man sich gegenüber der eigenen und der anderen Religion,

·     emotionale Aspekte      

      z.B. religiöse Rituale oder religiöse Feste.


Die Juliana-van-Stolberg-Schule hat sich dafür entschieden, Kinder bei der Eingewöhnung in die eigene Religion zu begleiten, um von da aus die andere zu erschließen. Auch in der Unterstufe wird das Erkennen  eigener vertrauter Dinge bei dem anderen obenan stehen. Schüler des Mittelstufe besuchen sich gegenseitig (wörtlich und im übertragenen Sinne), um dem anderen zu in dessen Eigenheit zu begegnen. Oberstufenschüler beginnen den Dialog, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in beiden religiösen Traditionen festzustellen.

Diese Wahl des Religionsunterrichtes ist von dem Gedanken bestimmt, dass Integration erst dann zustande kommen kann, wenn aus einem tief gewurzelten Bewusstsein des Eigenen heraus der Dialog mit dem anderen angegangen wird. Nicht nur die Religionsstunden waren ein Teil des interreligiösen Unterrichtes an der Juliana-van-Stolberg-Schule. Der gesamte Unterricht ist interkulturell. Das geht weiter, als an hohen Festtagen der verschiedenen Traditionen (wie Sinterklaas oder Zuckerfest) die jeweiligen Gewohnheiten und Gebräuche kennen zu lernen. In der Juliana-van-Stolberg-Schule wird in allen Fächern Rücksicht auf den kulturellen Hintergrund der Schüler genommen. So wurde eine neue Rechenmethode eingeführt, bei welcher Beispiele genannt werden, die sowohl für christliche wie muslimische Schüler erkennbar und aufhellend sind. Auch in der äußeren Ausstattung der Schule ist der interkulturelle Aspekt wiederzufinden. Poster mit Abbildungen, die in der christlichen und islamischen Tradition bekannt sind, hängen in der Schule verteilt.

Bei der Organisation der Schule ist das interreligiöse Element auch wiederzufinden. Die Teilnahme von Muslim-Eltern hat stark zugenommen. Marokkanische Väter arbeiten aktiv in der Schule mit. Aber auch marokkanische und türkische Mütter kommen stets öfter und mit größerer Selbstverständlichkeit in die Schule, um sie sich anzusehen, Fragen zu stellen oder um bei Aktivitäten wie Flohmärkten oder einer Klassenreise mitzuhelfen. Bei den jährlichen großen Festen wie dem Weihnachtsfest und dem Erntefest sind sowohl die autochthonen wie die allochthonen Eltern in die Vorbereitungen einbezogen und bei den Feiern anwesend.

Auch haben die türkischen und marokkanischen Eltern sich verstärkt in der Schule engagiert: Elternrat, Mitbestimmungsrat und Vorstand. Dadurch arbeiten sowohl autochthone wie allochthone Eltern an der Beschlussbildung in der Schule in Bezug auf gewünschte zukünftige Entwicklungen mit.

Obwohl alle diese Elemente unter das Prädikat „interreligiös“ fallen, kann die Frage gestellt werden, ob der Begriff „interreligiös“ die beste Bezeichnung für die Juliana-van-Stolberg-Schule ist. Sie wird manchmal auch „Zusammenarbeitsschule" genannt. Bevor die Schule aus der Vereinigung CNS trat, wurde an der Juliana-van-Stolberg-Schule über „Begegnungs-Unterricht“ gesprochen. Hiervon wurde später abgesehen. Es fand zwar Begegnung statt, aber die Begegnung hatte keine gleichwertige Grundlage. Es wurde in Klassenform Unterricht erteilt über Themen, wobei der größte Teil des Lehrmaterials doch von niederländischer und christlicher Herkunft war. Außerdem hatten die niederländischen Team-Mitglieder eine begrenzte Kenntnis des Islam. In Wirklichkeit dominierte die westliche Denkweise. Der Begriff „Begegnungsunterricht“ suggerierte damals mehr, als er wahr machen konnte. Darum werden die Religionsstunden jetzt anders gestaltet als in der Periode des Begegnungsunterrichtes.

"lch glaube nicht mehr an eine integrierte islamisch-christliche Religionsstunde. Ich glaube wohl an eine Stunde, in welcher die Kinder die Erfahrungen, die sie während der getrennten Vertiefungsstunden gesammelt haben, miteinander teilen können. Darin schlägt das echte Herz der Bewegung, die entsteht, wenn der Kontakt darüber entsteht, was verbindet und auch darüber, worin miteinander die Verschiedenheiten erlebt werden." (Bart ten Broek)

Im Laufe der Jahre wurde an der Juliana-van-Stolberg-Schule an mehr Gleichheit zwischen Christen und Muslimen gearbeitet. Darum wird jetzt lieber über eine Zusammenarbeits-Grundlage gesprochen, die auf Gleichwertigkeit gegründet ist.

4.2.  Wie wird der religiöse und lebensanschaullche Unterricht mit Inhalt erfüllt?

Organisatorisch gesehen finden an der Juliana-van-Stolberg-Schule Religionsunterricht und lebensanschauliche Bildung statt (vgl. Abschnitt 3.9.) Die Schule will die Schüler bei ihrer religiösen Entwicklung begleiten. Dabei hat man sich bewusst für getrennten christlichen und islamischen Religions­unterricht entschieden. Daneben gibt es für alle Schüler gemeinsame "Erkennungsstunden". Der Wochenablauf an der Schule sieht demnach wie folgt aus:

Es findet für alle Schüler auf zwei Niveaus eine Wocheneröffnung statt. 

Sie dient als Einführung in das Wochenthema.


Pro Woche gibt es ein anderes Thema, aber die Themen bilden miteinander  einen roten Faden, der durch das Jahr leitet. Bei der Wocheneröffnung wird durch eine Geschichte aus der Volksliteratur, aus Märchen, Sagen, Legenden und anderen Erzählungen bereits ein Anstoß für das Thema gegeben. Insbesondere wird die Aufmerksamkeit auf Erzählungen aus der türkischen, marokkanischen und niederländischen Kinderliteratur gelenkt. Ein Mitglied des Lehrerteams bereitet mit seiner/ihrer Gruppe in jeder Woche eine „Feier“ vor.

Die christlichen Religionsstunden werden ein bis zweimal in der Woche durch die eigene (christliche) Lehrkraft für die Schüler, deren Eltern christlichen Religionsunterricht wünschen, erteilt. Zum selben Zeitpunkt, an dem die niederländischen Schüler dem christlichen Religionsunterricht folgen, wird für die muslimischen Schüler islamischer Religionsunterricht gegeben. Der islamische Religionsunterricht wird in der Unterstufe durch eines der muslimischen Teammitglieder versorgt, und in der Mittel- und Oberstufe durch einen marokkanischen Vater und einen türkischen Imam. Das Unterrichtsangebot findet jeweils in niederländischer, arabischer bzw. türkischer Sprache statt. Sowohl die christlichen wie die islamischen Religionsstunden werden Vertiefungsstunden genannt. Mit den alltäglichen Erfahrungen der Kinder als Ausgangspunkt werden ihnen Geschichten aus der eigenen religiösen Tradition erzählt.

Weiterhin findet in jeder Gruppe einmal wöchentlich eine Erkennungsstunde statt. Ursprünglich hießen diese Stunden Begegnungsstunden, aber mit dieser Bezeichnung war man nicht ganz zufrieden. Der Name „Erkennungsstunde“, der jetzt gehandhabt wird, bringt besser zum Ausdruck, was innerhalb dieser Stunden stattfindet. Diese Erkennungsstunden, in welchen das Erkenneng, die Begegnung und der Dialog im Mittelpunkt stehen, werden durch die eigenen Gruppen-Teammitglieder gestaltet. Christliche und muslimische Schüler erhalten dann gemeinsam Unterricht.

„Die Erkennungsstunden beabsichtigen, die überraschende Erfahrung von der Wieder-Erkennung des Andersseins eines anderen zustande zubringen. Es geht in diesen Stunden um mehr als allein um Wissen über die religiöse und lebensanschauliche Eigenheit des anderen. In diesen Stunden wird nachdrücklich an der Einstellung gegenüber dem anderen und der Wertschätzung für den anderen gearbeitet. Das Erkennen der (Glaubens)Erfahrungen anderer prägt die eigene Glaubenserfahrung mit.“ 

(aus: J. ter Avest und L. Spek: Notities over het godsdienstonderwijs/ levensbeschouwelijk onderwijs 

op de Juliana-van-Stolberg-School, 13. April 1993, S. 1)

Bis zur Verselbständigung der Juliana-van-Stolberg-Schule wurde der Tag mit einem Gebet begonnen. Jetzt hat jedes Teammitglied für den Beginn des Tages eine eigene Form gewählt. Das variiert vom Singen eines Liedes, dem Lesen eines Gedichtes bis zum Erzählenlassen von Schülern, über etwas, was für sie im Moment  wichtig ist.

Die Woche wird mit einem Wochenabschluss beendet. Dies geschieht auf dieselbe Weise wie die Wocheneröffnung. Es gibt eine für die Unterstufe und eine zweite für die Mittel- und Oberstufe. Während des Wochenabschlusses wird das Thema der Woche abgerundet durch eine Erzählung, die Aufführung eines kleinen Theaterstückes oder das Singen eines Liedes. Zeichnungen, Zusammengeklebtes und ähnliche Produkte, die im Rahmen des Themas der vergangenen Woche gemacht wurden, zeigen sich die Schüler während des Wochenabschlusses gegenseitig.

Die Juliana-van-Stolberg-Schule hat sich bewusst dafür entschieden, gemeinsame Wocheneröffnungen und Wochenabschlüsse für alle Kinder zu organisieren. Diese fördern den Gemeinschaftsgeist und versuchen auch, eine spürbare Auswirkung des geführten Dialoges zu sein.

4.3.  Feste

Gemeinsames Erleben äußert sich nicht allein im Unterricht, sondern auch bei den jährlichen christlichen und islamischen Festen und Bräuchen. Nikolaus, Weihnachten und das Id al-Fitr (Fest des Fastenbrechens) feiern die Schüler zusammen, wobei sie gegenseitig von ihren Traditionen und Gebräuchen erfahren. Zu den Feiern werden die Eltern auch immer eingeladen. Im November wird das Erntedankfest gefeiert. Im November I991 stand z.B. die ganze Woche unter dem Thema: „Dankbarkeit für die Nahrung, die die Erde uns gibt“. Etwa in der Mitte der Woche war eine Feier. Morgens brachten die Kinder Essen mit, das in der Halle der Schule aufgebaut wurde. Für die Mütter gab es einen „Kaffeemorgen“. Danach blieben einige Mütter, um beim Austeilen des Essens an die Schüler zu helfen. Die Schüler kehrten danach mit dem Essen in ihre eigenen Klassen zurück, um dort miteinander das Fest zu feiern und natürlich auch zusammen zu essen.

Zu Sankt Martin wird das Fest des Lichtes an den dunkler werdenden Tagen gefeiert. Die Schüler basteln Lampions. Wenn es abends dunkel wird, treffen sich die Schüler und auch die Lehrerinnen mit den leuchtenden Laternen auf dem Schulhof, um in einem Lichterumzug durch die Nachbarschaft zu laufen.

Das Fest, welches nach Nikolaus kommt, ist Weihnachten. Die christlichen Eltern kommen am liebsten zur Weihnachtsfeier, aber auch viele muslimische Eltern sind als treue Besucher dabei. Für Muslime ist es aufgrund religiöser Motive schwierig, das Osterfest mitzufeiern. Mit Weihnachten haben sie nicht viele Schwierigkeiten. Weihnachten ist nämlich für die Muslime geeignet, den Propheten Isa/ Jesus zu ehren und seinen Geburtstag festlich zu begehen.

Anfänglich wurde Weihnachten an der Juliana-van-Stolberg-Schule nach altbekanntem Muster gefeiert. Die Weihnachtserzählung der Bibel wurde gelesen und bekannte Weihnachtslieder wurden gesungen. Aber durch den thematischen Ansatz der anderen Religionsstunden fiel das Weihnachtsfest ziemlich aus dern Rahmen. So wurde in den vergangenen Jahren zu Weihnachten ein Musical aufgeführt, ohne auf spezifische christliche oder niederländische Formen zurückzugreifen.

Beim Fest der Geburt Mohammeds arbeiteten die Teammitglieder mit einer Anzahl muslimischer Eltern an der inhaltlichen Gestaltung des Festes zusammen. Auf Initiative marokkanischer Eltern wird nun jedes Jahr Id al-Fitr (Fest des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats Ramadan) gefeiert. Aus diesem Anlass organisieren einige Mädchen ein Fest für Mädchen. Durch solche Aktivitäten wächst die Verbundenheit der muslimischen Eltern mit der Juliana-van-Stolberg-Schule.

4.4.  Entwicklung des Unterrichtsmaterials

Als der Charakter der Schule sich im Laufe der achtziger Jahre von einer protestantisch-christlichen Schule zuerst in eine Begegnungsschule wandelte und danach in eine interreligiöse Schule, hatte dies einschneidende Folgen für den Religionsunterricht/ bzw. den lebensanschaulichen Unterricht. Wurde anfänglich der Religionsunterricht auf der Grundlage der christlichen Tradition erteilt, so drängte sich doch immer mehr die Frage auf: Wie kann ein Religionsunterricht erteilt werden, der auch dem gerecht wird, was im Islam gelehrt wird?  Was würde den Wünschen und Bedürfnissen der multireligiösen Schülerbevölkerung an dieser Schule entgegenkommen?

Dies führte dazu, dass über die Ausgangspunkte des interreligiösen/ lebensanschaulichen Unterrichtes ernsthaft nachgedacht werden musste, und in der Konsequenz dessen auch über die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für die tägliche Unterrichtspraxis.

Der interreligiöse Unterricht an der Juliana-van-Stolberg-Schule ist in den Niederlanden so einzigartig, dass kein geeignetes Material vorhanden war, welches für die Art des Religionsunterrichtes, den man auf der Juliana-van-Stolberg-Schule befürwortet, ausreichte. Darum wurde das Material mit eigenen Kräften entwickelt. Es gibt verschiedene Gruppen, die dazu beigetragen haben: Die Theologengruppe, die Produktionsgruppe (diese Gruppen waren für die Erarbeitung des Begegnungsunterrichts entstanden und wurden nun entsprechend weitergeführt, s.o. 3.3.).die Nachbarschaftsgruppe und die Kommunika­tionsgruppe.

Die Theologische Gruppe
Es sollte ein Modell für den Religionsunterricht entstehen, an welchem sowohl christliche als auch muslimische Schüler teilnehmen. Gedacht wurde an eine Art des Religionsunterrichtes, in welchem Raum für  die Erzählungen aus beiden Traditionen gegeben wird, nämlich aus der Bibel und aus dem Koran. Vielleicht wäre es möglich, mit Themen zu arbeiten, in welchen Geschichten aus beiden Traditionen einen Platz finden konnten.

Die Nachbarschaftsgruppe
Sie bestand aus Menschen, die bei einem Nachbarschaftshaus mitarbeiteten. In ihr waren Bewohnerkommissionen und Jugendvereinigungen vertreten. Ihr Beitrag richtete sich vor allem darauf, was sich Stadtteil ereignete. Das waren lebendige Geschichten, die auf die Schule zukamen.


Die Produktionsgruppe
Sie war eine innerschulische Gruppe, die aus Teammitgliedern bestand, die miteinander danach streben, die Angaben der beiden ersten Gruppen in das Unterrichtsmaterial einzuarbeiten.

Die Kommunikationsgruppe
Sie trug Sorge, das entwickelte Material bei den Eltern bekannt zu machen. Ziel war, die Eltern so eng wie möglich in den Prozess des lebensanschaulichen Unterrichts einzubeziehen.

Von 1983-1985 funktionierten die Gruppen gut, nach 1985 blieb nur die Theologengruppe übrig (bis 1986).
Im Ganzen ging es um Folgendes:
Es wird Rücksicht genommen auf die Lebenswelt des Kindes, und die Entwicklungsphase, in welcher sich das Kind, entwicklungspsychologisch gesehen, befindet, Auch bezüglich der Arbeitsformen wird Rücksicht darauf genommen, was Kinder eines bestimmten Alters anspricht, bzw. was sie bewältigen können. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Kreisgespräch in der Oberstufe in einer anderen Form durchgeführt wird als in der Unterstufe. Spiel-Lieder werden häufiger in der Unterstufe als Vorschlag für das 'Kreisgespräch’ aufgenommen. Der Kreis als solcher nimmt bei allen Gruppen (von der Vorschulgruppe bis zur Oberstufe) eine wichtige Aufgabe als Begegnungspunkt des Schultages ein. 

(J. ter Avest, L.Spek:: Notities over het godsdienstonderwijs/ lebensbeschouwelijk onderwijs 

op de Juliana van Stolbergschool, 13. April 1992, S.2)

Die Entwicklung des Unterrichtsmaterials gründet sich auf die Exegese der dazugehörigen Texte aus beiden Traditionen. Es wird auch regelmäßig von Kinderliteratur Gebrauch gemacht.

Bevor die Teammitglieder mit dem Unterrichtsmaterial in den Gruppen an die Arbeit gehen, findet zuerst noch eine Lehrhauszusammenkunft statt. Dieses Lehrhaus ist ein Informationstreffen für Teammitglieder, während die Produktionsgruppe Rechtfertigung und Verantwortung der Themenauswahl und eine Erläuterung zur inhaltlichen Ausarbeitung gibt.

Wichtig ist, dass eine Rahmenstruktur entsteht und eine Anzahl Prinzipien in Bezug auf die Entwicklung von Unterrichtsmaterial festgelegt werden, die der Lehrkraft helfen, die Entwicklung des Unterrichtsmaterials in der richtigen Weise durchzuführen. Dabei werden Kontakte mit Personen und Institutionen, die sich mit der Entwicklung von Material für lebensanschaulichen Unterricht befassen, und gute Dienste leisten können, gepflegt, wie etwa zur Stiftung Religion und Erziehung in (SGO) und dem Christlich-Pädagogischen Studienzentrum (CPS), beide in Hoevelaken.

4.5.  Erläuterung einer Unterrichtseinheit

Zwei Schuljahre nacheinander wurden thematische Unterrichtsreihen für den religiösen und lebensanschaulichen Unterricht in der Juliana-van-Stolberg-Schule entworfen.

Im Schuljahr 1990/ 1991 wurden die Erzählungen über Josef und Moses, die im Koran Yusuf und Musa genannt werden, für die Schüler ausgearbeitet. Sowohl in der Bibel wie im Koran nehmen die Berichte über Josef/Yusuf und Moses/Musa eine wichtige Stelle ein. Dies führte zur Entscheidung, diese Geschichten den Schülern weiterzuerzählen. Aus den Josef/Yusuf-Geschichten wurde eine Reihe Themen ausgewählt wie Sorgsamkeit, (nicht) Dazugehören, einen Auftrag erfüllen und Früchte des Landes. Diese Themen wurden im Blick auf das Niveau der verschiedenen Gruppen ausgearbeitet.

Das Thema Sorgsamkeit wurde für die Unterstufe so übertragen: Wer sorgt für dich? Dein Vater und deine Mutter? Und für wen sorgen sie sonst noch? Wer bringt dich ins Bett? Wer kümmert sich sonst noch um dich? Eine große Schwester oder die Lehrerin/der Lehrer?

Mit den Schülern der Mittelstufe wurde im Rahmen dieses Themas über Eifersüchtig sein (auf einen Bruder oder eine Schwester) gesprochen und über Vorgezogen bzw. Zurückgesetzt werden. Mit den Schülern des Oberstufe wurde nach den unterschiedlichen Beziehungen gefragt, die in einer Familie sind (zwischen Vater und Mutter, Brüdern und Schwestern, Vater und Kindern, Mutter und Kindern), nach der Verantwortung füreinander, dem eigenen Charakter und somit auch dem ganz eigenen Platz eines jeden Familienmitgliedes.

Das übergreifende Thema des Schuljahres 1991/1992 war: "Mit einer Geschichte zu neuen Kräften kommen" (Das ist ein Wortspiel im  Niederländischen). Während des Schuljahrs kamen zwei Projekte an die Reihe. Von September bis Dezember 1991 lief ein Projekt über wichtige Personen aus der christlichen und islamischen Tradition, wie Adam, Noah, Jona, Hiob und Zacharias. Von Februar bis einschließlich Mai kam das zweite Projekt über die wichtigsten Lebensregeln aus der christlichen und islamischen Tradition, und zwar die Zehn Gebote des Mose, die fünf Säulen des islamischen Glaubens. Des Thema der ersten Schulwoche lautete: ‘Erzähle mir deine Geschichte’. Beabsichtigt war, dass die Schüler einander mit Hilfe von Geschichten, Zeichnungen, Gedichten und Collagen ihre Ferienerlebnisse erzählten.

Eine der Unterrichtsreihen aus dem Jahresthema ‘Mit einer Geschichte zu neuen Kräften kommen’ handelt von Noah. Die Stunden in der Woche, in welcher Noah behandelt wird, sehen für die Unterstufe folgendermaßen aus:
Während der gemeinsamen Wocheneröffnung wird anhand von Zeichnungen über die Arche Noah erzählt. Es werden Lieder von Noah gesungen. Zur Weiterbearbeitung dieser Wocheneröffnung malen die Kinder eine bunte Zeichnung aus, die wiederum als Einstieg bei den verschiedenen Religionsstunden gebraucht wird.

Der Kernbegriff der christlichen Religionsstunde ist: Gottes Sorge um die Schöpfung. Die Schüler sollen wissen, dass der Regenbogen das Zeichen von Gottes Bund mit den Menschen ist. Zuerst wird in spielerischer Weise am "Wassertisch" der Begriff Wasser erkundet. Was ist Wasser? Wie riecht und schmeckt Wasser? Was kann man damit tun? Was kann im und beim Wasser leben? (Pflanzen, Fische, Frösche, Enten). Fische können schwimmen. Wie können wir im Wasser sein, ohne zu schwimmen? (In einem Boot). Anschließend wird eine Verbindung zum Boot des Noah hergestellt, wobei die Betonung auf dem Regenbogen am Ende der Erzählung liegen soll: das Zeichen der Hoffnung und der Verheißung. Am Ende dieser Stunde färben die Kinder miteinander einen Regenbogen ein.

In der islamischen Religionsstunde geht es um die Sorge Allahs (Gottes) für die Schöpfung. Das Ziel dieser Stunde ist, den Schülern deutlich zu machen, dass Allah für Mensch und Tier sorgt. Die Geschichte von Noah wird erzählt, und darauf folgend, findet ein Gespräch mit den Schülern über die Tiere im Boot statt. Sind sie groß oder klein, dick oder dünn und welche Geräusche machen sie? Ange­leitet durch die Geschichte wird schließlich ein farbiges Bild gemalt.

Auch bei der Erkennungsstunde steht Gottes Sorge für die Schöpfung im Mittelpunkt. Miteinander singen die Kinder ein Lied über den Regen. Es wird miteinander über das Boot in der Erzählung von Noah gesprochen. Miteinander bauen die Schüler aus Holzblöcken das Boot von Noah/Nuh.

Beim Wochenabschluss sitzen die Schüler bei den Booten. Das Lied über den Regen wird noch einmal gesungen. Die während des christlichen Religionsunterrichtes angefertigten Regenbögen werden aufgehängt. Als Abschluss dieses Wochenthemas wird ein Lied „Nach der Sintflut“ gesungen.

Mittel-und Oberstufe (Gruppe 4-6 und 8) haben eine gemeinsame Wocheneröffnung. Anhand eines Liedes erzählt ein Mitglied des Teams die Geschichte von Noah/Nuh.

In der christlichen Religionsstunde für die MIttelstufe (Gruppe 4 und 5) geht es darum, dass die Schüler lernen, dass man wieder von vorn beginnen kann, wenn man einen Fehler gemacht hat. Der Kerngedanke dieser Stunde ist: Gott wollte gern, dass es wieder gut würde. Mittels einer Zeichnung, die durch die Schüler in der vorangegangenen Woche angefertigt worden war, wird die Schöpfungs­geschichte, das Thema der vorigen Woche, in Erinnerung gerufen. Die Schüler stellen danach mit Ton die Schöpfung bildnerisch dar. Das Mitglied des Teams macht deutlich, dass die Tonarbeit manchmal nicht gelingt. Dann kann man den Ton wieder zu einem Ball kneten und von vorn beginnen. So war Gott traurig über die Schöpfung. Aber er gab den Menschen eine neue Chance. Zum Schluss des christlichen Religionsunterrichtes wird die Verbindung zur Erzählung von Noah hergestellt. In dieser Geschichte bekam der Mensch auch eine neue Chance.

In der islamischen Religionsstunde für die Mittelstufe geht es um Allah (Gott), der den Rechtschaffenen mag. Das Ziel dieser Stunde ist, dass die Kinder wissen, dass der Mensch so leben sollte, wie Allah es gern will. Es kommen stets Propheten, die die Menschen daran erinnern. Das Mitglied des Teams liest eine Geschichte über Menschen, die vom Erdboden weggeblasen wurden, weil sie nicht an Allah glaubten. In dieser Geschichte spielt der Wind eine wichtige Rolle. Die Kinder schreiben jetzt auf Zettelchen in der Form von Baumblättern, was sie meinen, was mit „Allah will gern, dass die Menschen gut leben“ beabsichtigt wird. Am Ende der Unterrichtsstunde spielt eines der Kinder Prophet. Dieser Schüler sammelt alle Baumblätter und liest sie vor. In einem Kreisgespräch ergänzt das Teammitglied, was nach seiner Meinung zu einem „Gut leben“ dazu gehört, aber noch nicht auf einem Baumblatt steht.

Die Erkennungsstunde der Mittelstufe handelt von „Gerettet werden“. Es wird die Geschichte eines Mädchens vorgelesen, das aus einem Segelboot fällt und gerettet wird. (Kinderbron, 5,1987 S.5) In einem Kreisgespräch werden zwei Aspekte der Erzählung über das Boot hervorgebracht: Es ist schön, in einem Boot zu segeln, aber auch spannend, ob man nicht herausfällt. Auch Wasser hat verschiedene Aspekte. Es ist schön, darin zu schwimmen, aber weniger schön, wenn man plötzlich hineinfällt. Die Verarbeitung dieser Unterrichtsstunde besteht im Anfertigen eines Segelbootes aus Papier.

Der christliche Religionsunterricht für die Oberstufe (Gruppe 6-8) hat zum Thema: „Eine neue Chance“. Ziel dieser Unterrichtsstunde ist, dass die Schüler begreifen, dass die Erzählung über Noah eine Erzählung über eine neue Chance ist, die Gott den Menschen stets aufs neue gibt, um nach Seinem Ebenbild zu leben. Derartige Geschichten über eine zweite Chance sind auch in anderen Kulturen formuliert worden. Um das zu zeigen, wird mit den Schülern das Gilgamesch-Epos gelesen, welches von einer großen Überflutung handelt. In einem daran anschließenden Gespräch können die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Geschichte über Noah und dem Gilgamesch-Epos aufgezeigt werden. Wenn man in dieser Richtung weitergeht, tritt die folgende Frage auf: Sind wir Menschen zu einem eigenen Willen betätigt oder bestimmt Gott alles, was wir tun, und sind wir gewissermaßen Marionetten? Nachdem darüber gesprochen wurde, basteln die Schüler eine Marionette, die man bewegen kann.

"Allah belohnt die Menschen, die auf ihn hören" Das ist das Thema der islamischen Religionsstunde für die Oberstufe. In dieser Unterrichtsstunde wird Sure 71, die Erzählung von Nuh/Noah, miteinander gelesen. Auch wird dieselbe Geschichte erzählt wie in der islamischen Religionsstunde für die Mittelstufe. In einem Kreisgespräch wird über die Erzählung weiter gesprochen. Die Frau von Nuh und sein Sohn gehorchen nicht. Sie werden nicht im Boot gerettet. Allah hält viel von den Menschen, die Ihm gehorchen, die tun, was gut ist. Am Ende des Unterrichtes malen die Schüler eine Zeichnung von Nuhs Boot bunt aus.

Im Mittelpunkt der Erkennungsstunde für die Oberstufe steht das Thema: „Gerettet um zu retten“. Es wird eine Geschichte über einen Direktor einer Fabrik vorgelesen, die bankrott zu gehen drohte, aber dank der finanziellen Hilfe eines Millionärs kann die Fabrik doch geöffnet bleiben
                                 (aus: K. Eykman und P. Vos: Die Arbeiterinnen von halb fünf, Amsterdam, 1986, S. 49-51)
In einem Kreisgespräch wird darüber gesprochen. Angesprochen werden Fragen wie: Wurde dir schon einmal Hilfe geleistet, z.B. als du mit allen Einkäufen auf den Boden fielst, aber dass dir glücklicherweise jemand zu Hilfe kam? Was machst du, wenn du jemanden fallen siehst? Danach wird der Blick auf die Noahgeschichte gerichtet. Noah wurde von Gott verschont. Was meinst du, was Gott wollte, dass Noah tun sollte, als er wieder aus dem Boot steigen konnte? (Leben, wie Gott es beabsichtigt hat, und dadurch anderen zum Beispiel dienen, wodurch Noah die anderen vor einer gottlosen Existenz retten konnte.)

Genau wie bei der islamischen Religionsstunde für die Mittelstufe schreiben die Schüler der Oberstufe bei der Erkennungsstunde auf ein Zettelchen (dieses Mal in der Form eines Wassertropfens ausgeschnitten) was konkrete Beispiele für "Gut leben" sind. Diese Tropfen werden in einem Eimer gesammelt. Sie werden wieder beim Wochenabschluss der Mittel- und Oberstufe gebraucht. Ein Mitglied des Teams berichtet von den Regentropfen, die durch die Oberstufe angefertigt wurden. Einige Schüler aus dem Mittelstufe holen Tropfen aus den Eimern und lesen sie vor. Auch hängt ein großer Regenbogen aus, der in dieser Woche von einer Klasse gemacht wurde. Dann wird noch eine Geschichte „Das Rettungsboot des Menschen“ vorgelesen. Damit wird das Wochenthema über Noah/Nuh abgeschlossen.
                                                                              (aus: J.L. Klink, Bibel für Kinder, Wageningen, 1982, S.31-34)

4.6.  Wünsche und Möglichkeiten für die Zukunft

Unter der zentralen Fragestellung "Was ist und will diese interreligiöse Schule?" wurde, über mehrere Jahre verteilt, an der Juliana-van-Stolberg-Schule geforscht; diese Untersuchungen sind verankert im bestehenden Forschungsprogramm "Kontext und Sinngebung". Sie besteht aus vier Teilunter­suchungen.

1.    Eine Untersuchung nach der Identität dieser interreligiösen Schule.
2.    Eine Untersuchung nach der Sichtweisen-Entwicklung der Mitarbeiter an dieser Schule und welche Faktoren dabei von Bedeutung waren.
3.    Eine Untersuchung nach der religiösen Entwicklung der Schüler aus den Gruppen 6-8
in einer interreligiösen Schule.
4.   Eine Untersuchung zu den Lernentwicklungsprozessen der lebensanschaulichen Bildung, wobei im besonderen die Aufmerksamkeit auf die Zielvorgaben und das Lehrmaterial für die lebensan­schauliche Bildung gerichtet werden sollte, um letztlich zu einer Unterrichtsreihe zu kommen, die als Modell für die Entwicklung des nachfolgenden Materials dienen kann.
Das Angenehme dieser Zusammenarbeit zwischen der Rijksuniversiteit Utrecht und der Juliana-van-Stolberg-Schule ist, dass nicht nur der interreligiöse Unterricht auf diese Weise überprüft und begleitet wird, sondern dass das erworbene Wissen auch in einem breiteren Zusammenhang für andere Schulen gebraucht werden kann.


 5.  Schlussbetrachtung

Die Leitfrage der Schulanalyse lautet: "lnterreligiöser Unterricht an der Juliana-van-Stolberg-Schule: Ideal oder Wirklichkeit?“ Durch die Beschreibung des gesamten Entwicklungsprozesses und dabei vor allem des religiösen und lebensanschaulichen Unterrichtes an der Juliana-van-Stolberg-Schule wurde versucht, wiederzugeben, wie auf der Juliana-van-Stolberg-Schule der interreligiöse Unterricht mit Inhalt erfüllt wurde.

Aufgrund dieser Gegebenheiten und der Entwicklungen in der Geschichte der Schule ist unserer Einsicht nach die Schlussfolgerung berechtigt, dass seit 1990 die Juliana-van-Stolberg-Schule nicht allein dem Namen nach, sondern auch in Form und Inhalt eine interreligiöse Schule geworden ist. Dabei sind wir davon durchdrungen, dass das Endziel innerhalb des interreligiösen Unterrichtes noch nicht erreicht ist.

Zum ersten befindet sich das Unterrichtsmaterial für die religiösen und lebensanschaulichen Unterrichtsstunden noch in einem vorläufigen Stadium. Die Schüler, die jetzt in die Juliana-van-Stolberg-Schule gehen, fungieren tatsächlich als Testpersonen, bei welchen überprüft wird, ob das Material geeignet ist.

Zum zweiten ist die Juliana-van-Stolberg-Schule ein Vorläufer auf dem Gebiet des interreligiösen Unterrichts. Die Menschen, die ihren Beitrag zu dieser Form des Unterrichts liefern, haben keine Beispiele oder Vergleichsmaterial, wie andere Schulen den interreligiösen Unterricht mit lnhalt erfüllen, sondern müssen es aus ihrer eigenen Kreativität und Erfindungsreichtum holen.

Wer hat dieses ldeal getragen? Durch wessen Zutun konnte dieses ldeal Wirklichkeit werden? Und was bedeutet dies für andere Schulen, die, vielleicht inspiriert durch die Juliana-van-Stolberg-Schule und angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen, auch selbst eine derartige Richtung einschlagen würden?

Wenn man sich fragt, wer dieses Ideal getragen hat, dann denken wir an das Team der Juliana-van-Stolberg-Schule. Die Teammitglieder haben jahrelang vollständig hinter ihren Idealen erbrachten. Das zeigt sich auch in der Tatsache, dass trotz der Anstrengungen, die sie während dieser Jahre erbrachten, und der Enttäuschungen, die sie verarbeiten mussten, der Personalwechsel besonders klein war.

Insbesondere der Leiter dieses Teams, der Direktor der Juliana-van-Stolberg-Schule, Bart ten Broek, war stets der inspirierende Motor hinter dem Prozess. Außer der Wertschätzung für die enormen Anstrengungen, die Direktor und Team erbracht haben, ruft diese Kraftanstrengung auch eine Reihe Fragen auf.

1.  Ist es eigentlich gut, dass eine so umfangreiche Entwicklung, wie sie in der Juliana-van-Stolberg-Schule stattfindet, hauptsächlich durch eine Person getragen wird? Steht oder fällt nicht der ganze Prozess, auch der, in welchem sich die Teammitglieder befinden, mit seinen Anstrengungen? Und was geschieht, wenn jemand wie er beschließt, die Schule zu verlassen? Sind Team, Vorstand und Eltern dann in der Lage, miteinander - ohne diese inspirierende Leitung - den Prozess weiterzuführen?

2.  Das Existenzrecht einer interreligiösen Schule wie der Juliana-van-Stolberg-Schule wird durch die Anwesenheit eines motivierenden Direktors nicht allein gewährleistet. Ob die Schule in der Zukunft erhalten bleiben wird, hängt zu einem großen Teil auch von den Auffassungen der Eltern über interreligiösen Unterricht ab.

So hat sich in einem Zeitraum von zehn Jahren die Anzahl der Schüler von 80% Autochthonen zu 80% Allochthonen verschoben. Die Anzahl niederländischer Schüler hat also in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen, wodurch es stets mehr danach auszusehen beginnt, als werde die Juliana-van-Stolberg-Schule eine sogenannte "schwarze Schule", oder sie ist dies sogar schon. Anscheinend wird die Integration zwischen muslimischen und christlichen Schülern, die diese Schule vor Augen hatte, von den niederländischen Eltern noch weniger geschätzt.

Dass für niederländische Eltern eine Schwelle besteht, ihre Kinder in die Juliana-van-Stolberg-Schule zu schicken, ist in dem heutigen sozialen und gesellschaftlichen Kontext vielleicht begreiflich. Eine Wahl für die Juliana-van-Stolberg-Schule beinhaltet für sie nämlich mehr als eine Entscheidung für interreligiösen Unterricht. Weil von einer gleichgewichtigen Verteilung von autochthonen und allochthonen Schülern auf der Schule keine Rede mehr ist, impliziert dies für niederländische Schüler, dass sie überwiegend mit allochthonen Schülern in die Schule gehen. Obwohl man sich fragen könnte, inwieweit dies für niederländische Schüler auf der Juliana-van-Stolberg-Schule ein Problem ist, erweist sich, dass es dies für ihre Eltern häufig wohl ist.

Nachdem diese Tendenz nun einmal eingetreten ist, ist es sehr schwer, diese zu durchbrechen. Bleiben nicht viele Eltern in der Argumentation stecken, dass interreligiöser Unterricht auf der Schule eine realistische und auch wünschenswerte Möglichkeit ist, aber unter der Bedingung, dass in den verschiedenen Gruppen die Anzahl allochthoner und autochthoner Schüler in redlichem Maße gleichgewichtig verteilt ist? Nur eine sehr begrenzte Anzahl niederländischer Eltern schickt gerade, weil sie in dieser heutigen multi-religiösen Gesellschaft den Umgang mit Andersgläubigen so wichtig finden, ihre Kinder auf die Juliana-van-Stolberg-Schule. Für die Schule ist das eine Bestätigung des Gedankens, dass der interreligiöse Unterricht ein tatsächliches Bedürfnis erfüllt. Leider kommen diese niederländischen Kinder nur "tropfenweise" in die Schule, so dass damit der Teufelskreis nicht durchbrochen ist. Obwohl die Juliana-van-Stolberg-Schule diesen Kreis zu durchbrechen sucht, indem sie nach außen tritt und vor allem niederländische Eltern auf die Wichtigkeit des Unterrichtes, wie er an dieser Schule gegeben wird, hinweist, scheint es erforderlich, dass neben diesen Anstrengungen sich auch die örtliche Stadtverwaltung und die Kirche noch mehr ihrer Verantwortung für die Einrichtung von interreligiösem Unterricht bewusst werden.

Es versteht sich von selbst, dass die Zukunft der Juliana-van-Stolberg-Schule auch zu einem großen Teil in den Händen der muslimischen Eltern liegt. Was ist ihre Motivation, ihre Kinder auf die Juliana-van-Stolberg-Schule zu schicken? Weil die Schule in der Nachbarschaft steht, weil Kinder von Bekannten und Familie dorthin gehen oder weil sie Befürworter des interreligiösen Unterrichts sind?

Obwohl seit der Eröffnung der islamischen Schule in Ede jährlich eine Anzahl muslimischer Schüler durch ihre Eltern von der Juliana-van-Stolberg-Schule auf diese Schule umgemeldet werden, ist die Mehrzahl der muslimischen Schüler auf der Juliana-van-Stolberg-Schule geblieben. Kann hieraus positiv gefolgert werden, dass die Mehrheit der muslimischen Eltern, wenn sie einmal mit dem interreligiösen Unterricht bekannt gemacht wurden, dadurch auch bewusste Befürworter geworden sind, oder muss gerade die Ummeldung von Schülern der Juliana-van-Stolberg-Schule auf die islamische Schule als ein Signal gesehen werden, dass muslimischen Eltern islamischen Unterricht wichtiger finden als interreligiösen Unterricht?

3.  Wie würden christliche Eltern den Unterricht in der eigenen Religion an einer Schule wie dieser erleben? Sie werden ihre eigenen Schulerfahrungen häufig als Ausgangspunkt nehmen. Auf „ihrer“ protestantisch-christlichen Vorschule und in der protestantisch-christlichen Grundschule wurde der Tag immer mit Gebet begonnen. Auch sangen sie zu Beginn des Tages „christliche Lieder“ und es wurde durch die Lehrerin oder den Lehrer eine Geschichte aus der Bibel erzählt. Mit den eigenen Erinnerungen im Hinterkopf wird man in der Juliana-van-Stolberg-Schule oft die Elemente vermissen, die für die christlichen Eltern gerade so kennzeichnend waren. Gebetet wird auf der Juliana-van-Stolberg-Schule nicht viel und die Wocheneröffnungs und -schlussfeiern muten vielleicht unverbindlich an.

Man sollte sich selbst aber die Frage stellen, ob diese Art von Bedenken berechtigt sind. Es hat sich auch innerhalb des protestantisch-christlichen Unterrichtes in den letzten Jahren sehr viel verändert. Viele protestantisch-christliche Schulen kämpfen mit Identitätsproblemen. Der christliche Charakter auf einer protestantisch-christlichen Schule ist nicht immer gleichmäßig sichtbar. Außerdem kann man sich fragen, ob die Weise der Glaubenserziehung, wie man sie selbst in der Schule erfahren hat, eine Gewähr für eine bestimmte Form von Religiosität ist.

Daneben muss in Betracht gezogen werden, dass auch die Gesellschaft sich seit der eigenen Schulzeit verändert hat. Das nötigt auch unterrichts-inhaltlich zu einer näheren Besinnung,  wobei man nicht ohne weiteres an den Methoden von früher festhalten kann.

Die Verwirklichung des interreligiösen Schulunterrichtes wird eine Sache des langen Atems bleiben. Es geht um eine relativ neue Form des Unterrichts. Die niederländische Gesellschaft war lange Zeit stark auf „Säulen“ gegründet. Wer protestantisch war, ging auf eine protestantisch-christliche Schule. Wer römisch-katholisch war, auf eine katholische Schule. Auch in anderen Bereichen war die Versäulung spürbar. Inzwischen hat das Säulensystem durch die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwick­lungen stark an Bedeutung verloren. Die Frage kann allerdings gestellt werden, inwieweit dies auch für die Schulwahl der Eltern gilt. In der Schule ist die Versäulung noch nicht überwunden. Man kann sich fragen, ob der christliche Teil unserer Gesellschaft nicht erst durch eine Phase der Bewusstwerdung hindurch muss, bevor er überhaupt die Herausforderungen und die Wichtigkeit der Interreligiösität in der Schule begreifen kann. Diese Dokumentation will hierzu beitragen.

Eine Sache müsste allerdings deutlich sein: Interreligiöser Unterricht ist möglich.
Die Juliana-van-Stolberg-Schule zeigt, wie!



Zuerst erschienen in:
Iserlohner Con-Texte, ICT 13: Interreligiöse Schule - ein Vorbild aus den Niederlanden.
Hg. Paul Schwarzenau / Reinhard Kirste. Iserlohn 1995, S. 4-33, hier zitiert: S. 4.24-33


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