Freitag, 22. Juni 2018

Antworten der Religionen bei Krankheit und Sterben


Hinduismus: Dem Kreislauf der Wiedergeburten entrinnen können?
Der Umgang mit Krankheit wird im Hinduismus durch die beiden Pole Karma und Reinkarnation geprägt. Karma im Sinne von Tatfolge wirkt sich positiv aus, wenn der Dharma, d.h. das tugendhafte Gesetz gehalten wird. „Das Karma haftet am feinstofflichen Körper, der den Tod überdauert und für die Kontinuität zwischen den verschiedenen Verkörperungen des Atman (Selbst) im Geburtenkreislauf sorgt.“ (Hutter, Heller, Figl 2003: 635).
So muss je nachdem wie die bisherigen Leben verlaufen sind, mit entsprechenden Freuden und Leiden – gerade auch in den außerirdischen Existenzen – gerechnet werden. Dies kann bedeuten, dass eine gewisse Ergebenheit in das Leiden und damit auch in die Krankheit für viele Glaubende die Folge ist. Diese wird erst überwunden, wenn aus den personhaften, individuellen Wiedergeburten der Weg in das wahre (unindividuelle) Selbst vollzogen ist.

Buddhismus: Überwindung des Leidens – Pfade zur Befreiung
Der Buddhismus nimmt den Gedanken vom Kreislauf der Wiedergeburten, vom Rad des Lebens, das sich unaufhörlich dreht, wieder auf, aber anders als im Hinduismus wird das unvergängliche geistige Prinzip im Menschen zugunsten eines anderen Wirklichkeitsverständnisses der menschlichen Existenz zurück gewiesen: Während der Körper verwest, verkörpert sich die „Seele“ im Sinne einer mentalen Daseinsenergie in anderen Körpern. Die Neuformation des Menschen nach dem Tod wird jedoch in den einzelnen Richtungen unterschiedlich gesehen. Letztlich geht es jedoch um das Erwachen, das Erreichen der Buddhanatur, so dass die geistigen Bestandteile des Menschen, die Essenz des Geistes schließlich zur Überwindung des Todes führt und die Todlosigkeit bzw. das Nirvana erreicht wird.
Buddhas Lehre vom Leiden hatte den Sinn, entmutigenden Fatalismus aufzuweichen, weil es nach der hinduistischen Lehre für viele Menschen offensichtlich keinen Entrinnen mehr aus dem ewigen Kreislauf der Widergeburten gab (Figl 2003: 638f).
Im praktischen Leben des Buddhisten kann so die Hoffnung der Überwindung des Leidens konkrete Gestalt von Buddha-Paradiesen annehmen, entscheidend aber bleibt, dem Leiden entrissen zu werden und die Befreiung der Todlosigkeit bzw. des Nirvana zu erlangen, d.h. Krankheit auch als eine Möglichkeit anzunehmen, den Lebenssinn zu schulen und auch so zum Leben zu erwachen.
Im Jahre 2004 hat die Deutsche Buddhistische Union (DBU) einen Kongress zu Alter, krankheit und Tod durchgeführt, in dem deutlich wurde, welche Möglichkeit von „spiritual“ and „medical care“ bis zur buddhistischen Sterbebegleitung in Betracht kommen und wie sie Schritt für Schritt realisiert werden könnten (Buddhismus aktuell 3/2004: 17-19: Wilfried Reuter: Was Heilung wirklich bedeutet).

Judentum: Die Trennung von Gott aufheben
Der Umgang des Judentums mit dem Leiden hat eine Geschichte, deren Veränderungen sich bereits in den biblischen Büchern nachvollziehen lassen. Sehr früh taucht auch der Zusammenhang von Schuld und Vergeltung, Sühne und Vergebung auf, aber letztlich soll nur jeder für seine eigen Sünde verantwortlich sein (Dt 24,16, 2 Kön 14,6). Mit dem Buch Hiob wird das von Gott kommende Leiden existentiell dramatisch personalisiert, in der weiteren Entwicklung auch in den Talmudkommentaren jedoch in die Richtung, dass Entsagung im Leiden nicht aufkommt, sondern Anruf Gottes zur Veränderung die Gedankenrichtung ausmacht, eine Tendenz, die durch die Shoah allerdings einen erheblichen Bruch hervorbrachte und sich in der religiösen Alltagspraxis unterschiedlich auswirkt, besonders bei den Menschen, die in ihren Familien noch Menschen haben bzw. hatten, die die Hölle der KZs durchleiden mussten.
Ohne auf weitere Details einzugehen, sei angemerkt, dass in der heutigen Praxis des Umgangs mit Leiden, Sterben und Tod bleiben überwiegend die Normen und Rituale der jüdischen Orthodoxie wirksam sind (Lau 1990, 332ff, 341ff).

Chinesische Religionen mit Taoismus und Konfuzianismus
China darf durchaus als ein Schmelztiegel vieler unterschiedlicher religiöser Traditionen betrachtet werden. Die Einflüsse traditionaler Religionen Zentralasiens mit starken schamanistischen Elementen gehören ebenso dazu wie die vorbuddhistischen Hauptströmungen des Taoismus und Konfuzianismus, ebenso wie der eingewanderte Buddhismus und Islam, aber auch schon im 5. Jahrhundert das nestorianische Christentum – von den späteren christlichen Missionsbewegungen einmal abgesehen. Der Fokus soll darum auf den beiden Hauptströmungen Taoismus und Konfuzianismus deshalb liegen, weil diese Gedankengebäude und Verhaltensorientierungen bis in die Gegenwart selbst bei säkularisierten Chinesen hineinwirken. Da der Einfluss Chinas aber auch stark in den Nachbarregionen war und ist, gehören u.U. auch Menschen aus Kambodscha, Vietnam und Korea mit in diesem Kontext. Bei Europäern sind teilweise die Grundmuster der Balance von Yin und Yang und esoterische Elemente in den Vordergrund gerückt, so wie das I Ging teilweise im Westen verstanden wird.

Taoismus: Die Wirklichkeit neu sehen lernen
Neben dem Grundmuster von Yin und Yang, den Laotse zugeschriebenen Schriften mit dem Tao te King ist der nach ihm lebende Weise Chuang Tzu mit der von ihm erweiterten Lehre von der Stärke, die in der Schwäche wohnt, bekannt geworden: So wie sich das Schilfrohr vom stärksten Sturmwind nicht geknickt werden kann, so ist das Ziel des Lebens die Harmonie, das Tao. Krankheit und Leid sind durch die Werturteile der Menschen bedingt. So gilt es die Freiheit zu suchen, ehe das Urteil und die Schwierigkeiten Macht gewinnen. „Wenn wir auf die Dinge schauen im Licht des Tao, ist nichts am besten, nichts am schlechtesten. Jedes Ding, in seinem eigenen Licht besehen, hebt sich heraus auf seine eigene Weise … Aber als Ganzes gesehen ragt kein einziges Ding hervor als ‚besser’.“  (Bancroft 1974: 194f).

Konfuzianismus: Die Welt ordnen, den Menschen vervollkommnen
Der Konfuzianismus, der sich ja bis hin zu Staatstheorien entwickelte, stellt sehr intensiv die Frage nach dem Wert des Menschen, seines Selbstbewusstseins, der Bedeutung des Gewissens, des ethischen Handelns und des Selbst-Transzendierens im Sinne einer Geistigkeit, die sich im sog. Himmelskult ihr rituelles Muster gesucht hat. Dabei spielt die Vorstellung eines persönlichen Gottes eine untergeordnete Rolle. Konfuzius „hat einen ethischen Humanismus mehr und mehr Raum gegeben“ (Ching 1989: 182). Es bleibt auch eine Spannung zwischen Kult, Ritus und Meditation bestehen. Der immer wieder auftretende Gedanke einer idealen Gesellschaft geht in Richtung der großen Einheit bzw. der großen Gleichheit (Ching: aaO 208). Ziel also ist eine harmonische  Balance zwischen Aktivität und Passivität, in die auch die Fragen nach Leiden, Krankheit und Sterben einzuordnen sind.

Japanische Religionen: Sich neu orientieren
Christian Oberländer hat auf die Spannung zwischen traditioneller Medizin und modernem Krankheitsverständnis in Japan besonders hingewiesen und er resümiert: „Der Blick auf die langfristige Entwicklung von Japans ‚traditioneller’ Kanpô-Medizin relativiert exemplarisch die Frage nach dem Medizin- und Krankheitsverständnis, weil er erkennen lässt, dass es ursprünglich kein einheitliches, quasi außerhistorisches ‚traditionelles’ Krankheitsverständnis gab, sondern dass das historische Krankheitsverständnis vielfältig war und im Laufe des Modernisierungsprozesses umfangreiche Veränderungen durchlaufen hat“ (Zeitschrift für medizinische Ethik 2003: 286). Damit lassen sich im Blick auf japanische Patienten kaum irgendwelche allgemeine Orienteierungshilfen geben, sondern beim jeweiligen Patienten spielt sein biografischer Hintergrund, seine persönliche Entwicklung und sein gegenwärtiger Glaubensschwerpunkt in der religiös pluralen Vielfalt, Japans die auffälligste Rolle.

Zoroastrismus (Parsismus): Das Böse besiegen, zum Licht kommen
Diese dualistisch geprägte Religion – und damit die ständige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis – kommt aus dem Mittleren Osten. Muslimische Iraner und Iraker haben durchaus zoroastrische Elemente in ihrem Glaubensverständnis verinnerlicht. Der Zoroastrismus schien durch die islamische Invasion in das Zweistromland, den Iran und Indien fast zum Verlöschen verurteilt zu sein, erholte sich jedoch wieder – gerade in der Gegenwart. In Deutschland treten die Anhänger Zarathustras allerdings nur vereinzelt auf, während im indischen und englischen Raum diese Gruppe etwas stärker vertreten ist, allerdings in recht verschiedenen Ausformungen, so dass sich traditionelle und moderne Elemente im Blick auf den Dualismus, die Befolgung bestimmter Regeln und individuelles Verhalten oft auch mischen (Kreybroek 1993: 298ff). Da die Rituale z.B. bei Sterben und Tod sehr kompliziert sind, haben westliche Zoroastrier einen Teil dieser Riten verlassen, ziehen im Blick auf die Bestattung jedoch in der Regel die Verbrennung vor (vgl. Nigosian 2001: 101-103).

Jainismus: Die Welt überwinden
Der etwa zeitlich parallel zum Buddhismus entstehende Jainismus (Dundas 1992)) gilt als Religion des Mitleidens (compassion) und eines konsequent gelebten ökologischen Verhaltens und strenger vegetarischer Ernährung, sozusagen auf dem Weg der Askese zum Heil. Auch hier spielen Vorstellungen der Reinkarnation eine beachtliche Rolle. Auf diesem Weg zur Vollendung wird der Leib eher als ein Hindernis empfunden. Der Sieg über die Leidenshaften ist auch ein Sieg über das Leiden. Am Leiden geht man zugrunde, sofern man nicht aus dem Kreislauf des Karma herauskommt: „There must always remain the possibility of responding to spiritual prompting and awakening or suddenly experiencing fear of the round of rebirth” (Dundas: 87). Angesichts der konsequent gelebten Gewaltlosigkeit aller Jains ist jede Behandlung herausgefordert, den kranken Jain in seinem durch Krankheit herausgeforderten Läuterungsprozess zu begleiten, so dass die Seele eine höhere spirituelle Ebene erreicht.

Christentum: Leiden als Durchgang zur Gemeinschaft mit Gott
Durch die Passion und Kreuzigung Jesu hat das Leiden im Kontext des Heils eine herausragende Bedeutung gewonnen und schwankt zwischen schicksalhaft bis moralisch böse. Kaum eine andere Religion hat auch die Frage: Warum kann Gott dass Leid zulassen? so intensiv thematisiert wie das Christentum (Theodizeefrage). Aber immer steht im Hintergrund, dass das Leiden für den Glauben und das Heil nutzbar gemacht werden soll. Die Briefe des Paulus, Augustins Gedanke vom Leiden als von Gott zugelassener Mangel des Guten wirken in der gesamten Christentumsgeschichte nach, ebenso wie der Ansatz des Irenäus, der das Leiden als Teil des Bösen sieht, um beim Menschen einen Lernprozess in Gang zu setzen, der ihn (wieder) zu Gott zurückführen wird.
Bei der Vielfältigkeit des Christentums ist zu berücksichtigen, dass neben den großen Kirchen (katholische, evangelische und orthodoxe Kirchen) besonders die Zeugen Jehovas, die Christengemeinschaft, die Mormonen, die Neuapostolische Kirche, die Quäker, die Siebenten-Tags-Adventisten, die Rastafaris und – sofern man sie wirklich vollständig dem Christentum zuordnen will – die Zigeuner (Sinti und Roma hauptsächlich als die größten Gruppen) Verhaltensweisen und Riten entwickelt haben, die unterschiedlich auf die theologischen Vorgaben reagieren.
Für das Christentum insgesamt hat m.E. Walter Hollenweger den Dienst am Kranken auf den Punkt gebracht:
„Der Christ weiß sehr wohl. Es gibt gesunde Sünder und kranke Heilige. Weder führt der Glaube notwendigerweise zur Heilung, noch ist die Krankheit notwendigerweise die Folge von Unglauben. Christen verharren im Gebet und im Gottvertrauen in gesunden und in kranken Tagen … Das Christliche am Gebet für die Kranken ist die Einsicht, dass das Gebet keine unfehlbare Medizin ist, die garantiert wirkt, wenn alles andere versagt.“ So geht es Hollenweger nicht darum, „Gottes Eingriff zu beweisen, sondern den christlichen Gemeinden Mut zu machen, die leibhafte, materielle Seite ihres Gottesdienstes ernst zu nehmen.“ (Hollenweger 1988: 58.59)

Islam: Sich von Gott gehalten wissen
Im Islam spielt die Heilsgeschichte keine besondere Rolle. Der Gläubige ist in die Hand des allmächtigen und barmherzigen Gottes hinein gegeben, so dass von daher auch Leiden im Prinzip mit Gelassenheit getragen werden können, denn die Freunde Gottes brauchen keine Angst zu haben (Sure 10,62). Es scheint so, dass muslimische Patienten sich insgesamt leichter mit Leiden und Krankheit abfinden, als Menschen, die selbst säkularisiert, aus der christlichen Tradition kommen. Dennoch wird man wohl nicht einfach von Schicksalsergebenheit oder Schicksalsgläubigkeit reden dürfen.
Interessant jedoch ist, dass die Schia gegenüber der Sunna das Leidensmotiv wesentlich verstärkt, das in manchem dem christlichen Märtyrergedanken nahe kommt.
In Großbritannien hatte sich die islamische Seite schon früh auf die veränderte Situation unter Migrationsbedingungen eingestellt und die Islamic Foundation in Großbritannien hatte ein Begleitbuch herausgegeben, das sowohl grundsätzliche Überlegungen mit hoher inner-islamischer Konsensfähigkeit als auch praktische Orientierung bietet, weil es Menschen auf der Erfahrungsebene anspricht, die mit Andersgläubigen in ihrem Berufsalltag zu tun haben (McDermott 1980). Gerade beim Islam zeigt sich die Bandbreite religiöser Traditionen, die zwischen dem starren Festhalten an althergebrachten Traditionen und Flexibilisierung gegenüber einer neuen kulturellen Situation schwankt, wie sie viele Migranten durch ihre Einwanderung erlebt haben und im Umgang mit der autochthonen stark säkularisierten Gesellschaft in Deutschland immer wieder erleben (vgl. auch Borek 1999: 131ff). Ina Wunn hat mir ihrer ausführlichen Untersuchung „Muslimische Patienten“ in Hannover und Umgebung gezeigt, wo die speziellen Bedürfnisse muslimischer Patientinnen und Patienten liegen. Sie hat eine Reihe islamischer Gesprächspartner, aber auch konkrete „Fälle“ bearbeitet und kommt zu dem ermutigenden Schluss: „Bezüglich der besonderen Anforderungen der Religion sind einerseits die großen Häuser so weltläufig, ist andererseits der Islam so beweglich, dass tatsächliche Konfrontationen zwischen den Erfordernissen von Medizin und Pflege und religiösen Pflichten nicht auftreten. Das heißt jedoch nicht, dass es keinen Spielraum für Verbesserungen gäbe“ (Wunn 2006: 199), z.B. im Blick auf die weibliche Schamhaftigkeit, die Hygiene, die Ernährung bis hin zu intensiveren und kompetenten Gesprächsangeboten aus der eigenen islamischen Gemeinde.

Sikhismus: Haushalterschaft und Verantwortung
Der streng monotheistisch ausgerichtete Sikhismus ist eine Religion der Hingabe, auf der die völlige Befreiung erreicht wird. Die Symbole dieser Hingabe wirken in die alltägliche und zeremoniale Praxis bis in die Kleidung hinein (Turban, Kurzschwert) hinein. Entscheidend ist jedoch die medizinische und soziale Sorge und Verantwortung, die in Indien etwa dazu geführt hat, das es eine , so dass es viele von Sikhs betriebene Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen gibt (Cole / Singh Sambhi 1995: 150f). „Aus dem Ichgefühl entsteht die Welt … und vergisst man Gottes Namen, so muss man Leid erfahren. Wer dem Guru folgt, vertieft sich in die wirkliche Erkenntnis und verbrennt sein Ichgefühl im Wort. Rein ist er an Leib und Sinn, rein ist seine Rede, er gehet in den Wahren Gott ein“ (so Guru Nanak in: Thiel-Horstmann 116)

Baha’i: Die von Gott gegebene Menschenwürde achten
Angehörigen der Baha’i-Religion kommen aus unterschiedlichen Ländern (hauptsächlich Iran) oder sind deutsche Konvertiten. Da diese Religion keine besonders von der christlichen Tradition abweichende Riten bei der Behandlung von Kranken und Sterbenden entwickelt hat, ist eigentlich nur der Kontakt mit Menschen der Religion vom Arzt bzw. vom Krankenhaus her zu halten, um auf etwaige kulturelle Besonderheiten Rücksicht zu nehmen (vgl. Adamson / Hainsworth 1998).

Traditionale Religionen
Vertreter traditionaler Religionen werden nur in wenigen Fällen in einem deutschen Krankenhaus auftauchen, dennoch sollte man sich aber klarmachen, dass Kranke aus Zentralasien, China, Afrika und Amerika Elemente religiösen Verhaltens mitbringen, die den Einfluss der Heimatkultur zeigen.  Heil und Heilung bilden in den meisten Kontexten einen unauflöslichen Zusammenhang (vgl. Lee-Linke 2006). Es sei nur daran erinnert, dass ein wie auch immer gearteter Ahnenglaube unmittelbar auf den Krankheitsverlauf und den Gesundungsprozess einwirkt, aber auch die Art des Sterbens mit bestimmt.
Dazu ein Beispiel aus einem Gebet gegen Krankheit aus Sibirien:

            „Vater, sende weg Kinderkrankheiten
            von dem, der jetzt betet!
            Mutter, beschütze vor dem Bösen
            Denjenigen, der jetzt betet!
            Wasche ihn mit kaltem Quellwasser,
            hebe seinen Kopf empor vom Kissen,
            lass es ihm besser gehen von Tag zu Tag,
            lass ihn frisch atmend vom Bette sich erheben!
            Heile alle Krankheiten schnell,
            reinige die Eingeweide!
            Stelle wieder her acht Geberationen!
            So zu Mitternacht habe ich in gutem Herzen
            Und mit guten Worten um jegliches Ding gebetet“ (di Nola 1984: 50).

Alternative Heilungsverständnisse
Nicht an eine bestimmte Religion gebunden, aber angesichts des Einflusses einer Fülle religiöser Strömungen in den Alltag des heutigen Menschen, spielen auch alternative Heilungsformen eine immer größere Rolle. Die Bandbreite reicht von anthroposophischen Ansätzen über Heilkräuterkunde bis zu esoterischen und magischen Praktiken, die teilweise bewusst an traditionale Religionen anknüpfen und durch den Besuch von Schamanen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika noch verstärkt werden.
Walter Hollenweger hat jedoch schon sehr früh darauf hingewiesen – und die zunehmende Praxis von Heilungsgottesdiensten innerhalb und außerhalb der Kirchen (z.B. in charismatischen Gruppen sowie in vielen religiösen Traditionen) zeigt dies an – dass sich hier ein Feld bisher noch kaum systematisch wahrgenommener Möglichkeiten auftut.
„Die Frage ist nicht mehr, ob es Heilung jenseits unserer Plausibilitätsstrukturen gibt. Ihre Tatsächlichkeit ist erwiesen. Die Frage ist vielmehr, in welchem kulturellen Kontext, im Umfeld von welchem Menschen- und Wirklichkeitsverständnis solche Heilungen geschehen und verstanden werden können. Mit anderen Worten: Wie gehen wir mit ihnen medizinisch und theologisch verantwortlich um.“ (Hollenweger 1988:  51)

Auszug aus: Reinhard Kirste: Begleitung von Krankheit und Sterben:
Religionswissenschaftlich fundierte Möglichkeiten -
Voraussetzungen und Anregungen.

in: Mic
hael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.): Handbuch der Religionen (HdR) ©
Bamberg: Mediengruppe Oberfranken 1997ff, hier: HdR I-19, EL 23/2010   




Freitag, 8. Juni 2018

15 Jahre West-östlicher Divan Iserlohn: 1991 - 2006

Bereits mehrfach wurde über den West-östlichen Divan in Iserlohn/Westfalen in der Reihe "Religionen im Gespräch" (RIG) berichtet:
  • RIG 3: Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne 1994,
    S. 419-420,
    vgl. ICT 13, 1995, S. 55-56; 
  • RIG 5: Die dialogische Kraft des Mystischen. 1998, S. 544-548. 

Der Name klingt bewusst an den „West-östlichen Divan" von Johann Wolfgang von Goethe an, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass die Begegnung von Kulturen und Religionen eine Bereicherung für alle diejenigen wird, die sich ein Stück weit in andere Glaubens- und Lebensweisen hineinnehmen lassen.
Rafik Schami, der bekannte Erzähler syrischer Herkunft, schreibt in seinem Buch Damaskus im Herzen und Deutschland im Blick (München: [Hanser 2006], dtv TB 2012, 3. Aufl.) Von der Flucht eines Propheten. Dort begeistert ihn die interkulturelle Kraft Goethes: 
„Man ist geneigt zu denken, Goethe sei während oder vor der Arbeit an seinem kleinen literarischen Juwel in den Orient gefahren, doch er war nur zwischen Weimar, Wiesbaden, Frankfurt und Heidelberg hin und her gependelt. Er vermochte aber durch die Magie der Literatur besser als das Heer heutiger wichtig tuender Journalisten in Kairo, Damaskus oder Tel Aviv den Orient zu verstehen und zu vermitteln. Das ist die unfassbare Magie der Literatur. Und dennoch ist dieses Juwel weder orientalisch noch okzidentalisch geworden. Die Poesie schaukelt zwischen beiden Stühlen und widerspiegelt so auch meine Seele. Ich müsste mein Herz zerreissen, wenn ich trennen wollte, was sich in mir aus Ost und West, Orient und Okzident vereinigt hat. Und ich konnte auch nach der tausendsten Wiederholung noch immer ausrufen:
Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen lass ich gelten;
Also zwischen Ost- und Westen

Sich bewegen, sei's zum Besten!“

West-östlicher Divan, Nachtrag zum Divan , 1825/26


Diese Worte Goethes aus dem Nachtrag zum Diwan 1825/26 geschrieben, zeigen die Verwobenheit des Westens mit dem Osten, darum gehören Berichte von „Betroffenen", aber auch das Anhören von Texten aus anderen geografischen und spirituellen Landschaften bei diesem Hin- und Herwiegen dazu. Dem Klang fremder Töne durch verschiedene Musikdarbietungen nachzulauschen, weckt in den Hörern oft unvermutete Erkenntnisse, welche eigene Bereicherung Multireligiosität und Multikulturalität in einer Gesellschaft bringen. Seit dem Jahre 1991 setzen sich Menschen in „unserem“ Diwan oder auf diesem (geistigen) Diwan zusammen, sie setzen sich dem fremden Bekannten und dem unbekannten und doch Vertrauten aus und merken dabei, wie sich selbst verändern: Deutsche und Ausländer, Muslime, Christen, Anhänger der Baha’i-Religion, Marokkaner, Griechen, Iraner, Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, Männer und Frauen.
Im Grunde hat mit diesem Diwan eine geistige Wanderung, eine interreligiöse Pilgerreise begonnen, von der zu hoffen steht, dass sie dem Zusammenleben von Menschen verschiedener Glaubensweisen und damit auch der deutschen Gesellschaft in unserer Region zugute kommt. Inzwischen rückt der 100. Diwan näher …
Diese Veranstaltung ist nicht zur Massenbewegung herangewachsen, aber es gibt genügend Menschen aus den verschiedensten Kreisen" in und um Iserlohn, aber auch aus größerer Entfernung, die der Meinung sind, dass diese „Baustelle Kulturbrücke“ eine nicht zu unterschätzende Facette im multikulturellen Leben unserer Region ist. Der Gedanke der Brückenbaustelle ist auch mit Bedacht gewählt, weil es zwar Brückenschläge von hier nach dort gibt, aber noch viel zu tun bleibt, bis wirklich die verschiedenen Religionen und Kulturen zueinander gefunden haben, ohne ihre eigene Identität zu verlieren. Kleine Geschenke als Erinnerung und Anstoss für neue Aktivitäten, sowie aktuelle Diskussionen vervollständigen das Bild dieser "Baustelle Kulturbrücke", die immer wieder daran erinnert, dass in einer multikulturellen Gesellschaft, die interreligiöse Verantwortung, d.h. die Verantwortung aller Glaubenden füreinander aus noch so verschiedenen Traditionen nicht einfach ausgeblendet werden kann.
Wegen Umbauarbeiten in der Reformierten Kirche im Stadtzentrum Iserlohns, wo der Diwan seit 1993 eine Bleibe hatte, ist er nach 10 Jahren in die Kapelle der Ev. Akademie Iserlohn gezogen und hat sich dort sehr schnell fest etabliert. Der Vorbereitungskreis hat auch nur leichte Veränderungen erfahren. Von den nichtchristlichen Religionen wirken eine Muslima und eine Hindu-Frau mit.
So hat sich über die Jahre hinweg ein Bewusstsein bei Teilnehmenden und Vorbereitenden entwickelt, dass nämlich die Begegnung mit dem Anderssein des Anderen Gemeinsamkeiten und Unterschiede so entdecken lässt, dass nicht der Gedanke der Abgrenzung, sondern der gegenseitigen Bereicherung vorherrschend geworden ist, also wirklich eine Brückenfunktion zwischen den Religionen, allerdings brauchen diese „Brückenschläge“ weiterer Festigung, ganz im Sinne des Untertitels: Denn dieser Diwan heisst nicht umsonst: Baustelle Kulturbrücke.
Themen in der Kapelle der Evangelischen Akademie Iserlohn seit 2002
v  Nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit
v  Vom Kreuzzug des Friedens
v  Die Lüge schwächen – die Hoffnung stärken
v  Kleines Senfkorn Hoffnung
v  Im Segenskreis Leben: Segen sprühen – Segen spüren
v  Heil-lose Zeit – heil-same Zeit / Zeitensprünge
v  Wie Salz verändert
v  Gebildetes Gewissen I + II / Aufgeklärtes Gewissen
v  Zusammen-Setzen – Zusammen-Sitzen – Zusammen-Beten
v  Den Geist klären - zum Leben erwachen
v  Himmelszeichen sondergleichen (Busstag)
v  Jahres-Ringe: von der Wurzel zur Scheibe
v  Für ein menschliches Jahrhundert
v  Erde der Menschen (nach dem Roman von Saint-Exupéry)
v  Sinneswandel
v  Erneute Ankunft
v  Achte auf deinen Tag …
v  Mutter Erde – Bruder Himmel

Summary: 15 years of the West-Eastern Divan at Iserlohn
The interfaith group with the name Divan has been existed since 15 years at Iserlohn, a city in the South of Westphalia. The name remembers consciously Goethes “West-Eastern Divan”. “Our” Divan assembles persons of different religions and cultures to develop a climate of reconciliation. The meetings have taken place in a city church of Iserlohn and since 2002 in the chapel of the Evangelical Academy of Iserlohn. Because of this commitment the Divan is also called “Cultural Bridge in Construction”. With these Divans we have begun an inner pilgrimage of interreligious and intercultural dialogue in our region. Now we approach at the 100th divan. The items of the meetings – actual or meditating, the discussions, the readings and the little symbolic gifts show the continuous responsibility which people of different religions bear for one another. The participants have experienced the richness by the otherness of the other. But there is still much to do.
Translation: Herbert Schultze
Résumé: 15 ans du „Divan occidental-oriental“ à Iserlohn

Le groupe interreligieux Divan occidental-oriental existe depuis 15 ans à Iserlohn, une ville dans le sud de la Westphalie. Le nom rappelle le livre “Le Divan” de Goethe. “Notre” Divan réunit des personnes de différentes
cultures et religions pour dévélopper un climat de réconciliation. Les rassemblements ont d’abord eu lieu dans une église au centre d’Iserlohn et depuis 2002 dans la chapelle de l’Académie Protestante à Iserlohn. A cause
de son engagement le Divan est aussi appelé “Pont culturel – en construction“. Nous avons commencé par les divans un pèlerinage interne du dialogue interreligieux et interculturel dans notre région. Maintenant nous arrivons au 100ème divan. Les thèmes des réunions – actuels ou méditatifs, les discussions, les lectures et de petits cadeaux symboliques démontrent la responsabilité continue que les hommes de différentes religions portent l’un pour l’autre. Les participants font l’expérience de la richesse de l’altérité de l’autre. Mais il reste beaucoup à faire.
Traduction: Tom Kerger
Resumen: 15 años del “Divan occidental – oriental” en Iserlohn
El grupo interreligioso con el nombre Divan existe desde hace 15 años en Iserlohn, una ciudad en el Sur de Westfalia. El nombre recuerda al Divan occidental-oriental de Goethe. „Nuestro“ Divan reúne a personas de culturas y religiones diferentes para desarrollar un clima de la reconciliación. Las reuniones comenzaron teniendo lugar en una iglesia en el centro de Iserlohn y después del año 2002 en la capilla de la Academia Evangélica en Iserlohn. Por motivo de su compromiso el Divan es denominado también “Puente cultural en construcción”. Con estos divanes hemos comenzado una peregrinación interna del diálogo interreligioso e intercultural en nuestra región. Ahora existen aproximadamente cien divanes. Los temas de las reuniones – actuales o meditativos, las discusiones, las lecturas y los pequeños regalos simbólicos, muestran la responsabilidad continua que asumen mutuamente las personas de las diferentes religiones. Los participantes entregan la experiencia de la riqueza de ser diferentes uno del otro. Pero queda mucho por hacer.
Traducción: Yenny Buholzer Sepúlveda


Reinhard Kirste



Zuerst erschienen in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.):

Europa im Orient - der Orient in Europa. Religionen im Gespräch, Bd. 9 (RIG 9). 
Balve: Zimmermann 2006, S. 342-345,
 aktualisiert, 07.06.2018 

CC

relpäd/DiwanRIG 9)

West-östlicher Divan in Iserlohn: 1991 - 2018

Zur Geschichte und den Intentionen des Iserlohner Divan
--- Baustelle Kulturbrücke
 Nr. 1 (1991) - 142 (2018) --- mit weiteren Infos

    Themen und Treffen seit 2007

Themen und Treffen 2007
in der Kapelle
der Evangelischen Akademie Iserlohn
– jeweils an einem Mittwoch um 17.00 Uhr – ca. 19.00 Uhr

8. Februar 2007              Baustelle Kulturbrücke 101 (Gemeindesaal der Johanneskirchengemeinde)
Liebe weckt Liebe (Elisabeth von Thüringen)                                     
26. April 2007                  Baustelle Kulturbrücke 102:
Wach auf mein Herz (Paul Gerhardt)
                                          
24. Mai 2007                    Baustelle Kulturbrücke 103:
Die Wahrheit ist der Weg
       
13. September 2007      Baustelle Kulturbrücke 104: 
Jeder Tag ist wie ein neues Leben
                                        
6. Dezember 2007          Baustelle Kulturbrücke 105: Der Gottheit fließendes Licht
                                         

Themen und Treffen seit 2008
im Gemeindehaus der
Ev. Erlöserkirchengemeinde Iserlohn
– jeweils an einem Mittwoch um 17.00 Uhr – ca. 19.00 Uhr

11. Juni 2008                 Baustelle Kulturbrücke 106:
 
Schleift Gier und Hass aus eurem Herzen
                                         
17. September 2008       Baustelle Kulturbrücke 107: … die eigene Perle finden                                        
10. Dezember 2008        Baustelle Kulturbrücke 108:
  … Anstöße zur Menschwerdung
                                       

18. März 2009             Baustelle Kulturbrücke 109:
Wir sind mehr als unsere Sorgen
                                          
24. Juni 2009                   Baustelle Kulturbrücke 110: Mensch, wo bist du?                                        
16. September 2009      Baustelle Kulturbrücke 111:  Gott will mit uns die Erde verwandeln                                         
25. November 2009        Baustelle Kulturbrücke 112:
                                              Achsenzeit – Impuls für Menschlichkeit
                                          
10. März 2010             Baustelle Kulturbrücke 113: Frühling der Seele – erfasten                                         
23. Juni 2010                   Baustelle Kulturbrücke 114: Wandel durch Begegnung                                       
08. September 2010      Baustelle Kulturbrücke 115: Zeit vergeht nicht – Zeit entsteht
                                         
04. Oktober 2010            Baustelle Kulturbrücke – außerhalb der Reihe            
                                           Kirchen entdecken
                                           – in der Begegnung von Christen und Muslimen
                                         
24. November 2010       Baustelle Kulturbrücke 116: LICHTwärts
13. April 2011                  Baustelle Kulturbrücke 117: Wisse die Wege                                         
29. Juni 2011                   Baustelle Kulturbrücke 118: Strukturen des Lebens                                        
14. September 2011      Baustelle Kulturbrücke 119: Wer dankt, denkt!          
23. November 2011        Baustelle Kulturbrücke 120: Lichtstrahlen in der Winterzeit
                                      
25. April 2012           Baustelle Kulturbrücke 121: Pilgern zum Leben                                 


27. Juni 2012                  Baustelle Kulturbrücke 122: Ich bin ein Tropfen, Gott ist der Ozean 
27. September 2012      Baustelle Kulturbrücke 123: Mein roter Faden 
28. November 2012       Baustelle Kulturbrücke 124: Warten – Wartung – Er-Warten    

16. Januar 2013         West-östlicher Divan - Baustelle Kulturbrücke - außer der Reihe:
                                          Märchen in den Weltreligionen
24. April 2013:                Baustelle Kulturbrücke 125: Soviel du brauchst (mit Ausstellung Eco-City)
26. Juni 2013:                 Baustelle Kulturbrücke 126:  Jahresmitte - Lebensmitte 
25. September 2013       Baustelle Kulturbrücke 127: Das Heute Gottes
18. November 2013        Baustelle Kulturbrücke 128: Wo ist die Kraft des Lebens?

10. April 2014            Baustelle Kulturbrücke 129: Was Gott in Bewegung setzt, zieht seine Kreise
26. Juni 2014                Baustelle Kulturbrücke 130: Nur in der Nacht sieht man die Sterne
25. September              Baustelle Kulturbrücke 131: Zwischen Himmel und Hades
20. November               Baustelle Kulturbrücke 132: AufHELLung

11. März 2015      Baustelle Kulturbrücke 133: LIEBE leben  
27. Mai 2015                Baustelle Kulturbrücke 134: MIT-Gefühl    
14. Oktober 2015         Baustelle Kulturbrücke 135: WOHL wollen!

23. März 2016          Baustelle Kulturbrücke 136: UM - BRÜCHE I
28. September 2016     Baustelle Kulturbrücke 137: PRÜFE MEIN HERZ ...

22. Marz 2017           Baustelle Kulturbrücke 138: So viel du brauchst ...
29. Juni 2017                Baustelle Kulturbrücke 139: UM-BRÜCHE  II                           
05. Oktober 2017          Baustelle Kulturbrücke 140: Unterwegs zum Leben                              
30. November 2017      Baustelle Kulturbrücke 141: Quellen des Friedens

06. Juni 2018             Baustelle Kulturbrücke 142: wesentlich einfacher - einfach WESENTLICH !
                                             


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