Samstag, 21. Januar 2017

Geschichten aus dem Hinduismus

Kampfszene aus dem Mahabharata
(Fächer mit indonesischen Schattenspielfiguren)
Errettung der Prinzessin Sita

aus dem Epos Ramayana
Das Ramayana kann man als "Fortsetzung" des Mahabharata ansehen: Narrativ über Verantwortung und Pflichten. Diese Erzählungen dienen als Orientierung für die Kindererziehung.

Einst herrschte ein Dämonenkönig namens Ravana auf Sri Lanka. Er war sehr mächtig und drohte die Menschheit zu vernichten. Aus Angst vor ihm suchten die Menschen Hilfe bei Gott. Der Rat der Götter im Himmel beschloss, Vishnu - den Bewahrer der Welt - in Menschengestalt auf die Erde zu schicken, denn es war schon seit jeher die Aufgabe der Götter, Recht und Ordnung auf der Erde zu bewahren, die Guten zu unterstützen und das Böse zu vernichten.

So wurde dem Gott Vishnu, der drei königliche Frauen hatte, Rama als ältester Sohn geboren (er gilt als die 7. Inkarnation Vishnus) 

Einen Tag vor Ramas Krönung verlangte seine Stiefmutter von ihrem Gemahl, dem König, ihr die zwei Wünsche zu erfüllen, die er ihr vor langer Zeit versprochen hatte. Sie wünschte sich, dass ihr leiblicher Sohn Bharata statt Rama die Krone bekäme; und damit Rama kein Dorn für ihn wäre, sollte er vierzehn Jahre in die Wälder verbannt werden.

Der König war entsetzt und bat seine Frau, sich etwas anderes zu wünschen, aber sie beharrte darauf. Als Rama davon hörte, gab er die Krone freiwillig ab.

Hier kam die Pflicht des Gehorsams und die Pflicht , das einmal gegebene Wort zu halten, zusammen. Zwar hatte nicht er das Versprechen gegeben, aber das Versprechen des Vaters war auch sein Versprechen. Und vor allem, die Mutter hatte es verlangt, und er musste gehorchen.

Ramas Frau Sita, die ihm die Treue geschworen hatte, ging mit ihm - das war die Pflicht des Lebens­partners, in guten und schlechten Zeiten zusammenzuhalten. Und auch sein jüngerer Bruder Laxman wollte nicht ohne ihn im Königreich bleiben. Ihn rief die Pflicht, dem Älteren zu dienen.

So verließen Rama, Sita und Laxman ihr Königreich, um in den Wäldern zu leben.
Rama im Wald bei den Tieren
Kurze Zeit darauf starb der alte König in Trauer um seine Kinder. Als Bharata, der die ganze Zeit über bei seinem Onkel war, erfuhr, was während seiner Abwesenheit geschehen war, war er völlig verzweifelt. Er missbilligte das Verhalten seiner Mutter und lehnte die Krone ab. Er eilte hinter seinem geliebten Bruder Rama her, fand ihn in den Wäldern und bat ihn, zurückzukommen und das Land zu regieren.

Rama überzeugte seinen Bruder, dass er das Versprechen seines Vaters erfüllen müsse, dass Bharata zu seinem Königreich zurückkehren solle und dass ein Königreich ohne einen König von Feinden besiegt werden könne. Er versprach ihm aber, am Ende der Verbannung zurückzukommen und das Königreich zu übernehmen, um ihn von der Last der Regierung zu befreien.

Bharata versprach Rama, dass er ebenso wie sein Bruder ein Asketenleben führen würde. Er ging zurück und trug dabei die Schuhe seines Bruders. Er legte diese auf den Thron und regierte im Namen seines Bruders. Er verzichtete auf ein Leben im Palast, zog in eine Hütte und lebte von Beeren und Waldfrüchten wie seine Brüder und seine Schwägerin.

Dreizehn Jahre vergingen. Während dieser Zeit durchwanderten Rama, seine Frau und sein Bruder die Wälder und töteten viele Dämonen, die die Menschen und Asketen dort belästigten.

Eines Tages erfuhr der Dämonenkönig Ravana von der Schönheit Sitas - Ramas Frau. Er begehrte sie und heckte einen Plan aus, sie zu entführen. Sein Onkel versuchte, ihn davon abzubringen. Aber Ravana drohte ihm mit dem Tode, wenn er ihn nicht unterstützen würde. Es blieb dem Onkel also nichts anderes übrig als der Tod - denn eins wusste er: entweder würde er durch den Dämonenkönig getötet, wenn er ihm nicht hülfe, oder Rama tötete ihn als Bestrafung wegen der Hilfeleistung bei der Entführung. Er zog es vor, durch Gottes Hand zu sterben und half seinem Neffen.

Sita wurde durch die Luft von Ravana entführt, als ihr Gemahl und sein Bruder auf der Jagd waren. Unterwegs hörte der König der Vögel ihre Hilfeschreie und flog ihr zu Hilfe, wurde aber durch Ravana tödlich verletzt. Als er zu Boden fiel, fanden ihn Rama und Laxman. In seinen letzen Atem­zügen erzählte der Vogelkönig von der Entführung und von der Himmelsrichtung, in der Ravana entkommen war. Nun zogen beide Brüder los, um Sita zu suchen.

In der Zwischenzeit - in Sri Lanka angekommen - zwang Ravana Sita, ihn zu heiraten. Sie weigerte sich und drohte ihm mit einem Fluch, falls er sie anrühren würde. Da man keine Frau ohne ihre Einwilli­gung anfassen sollte, konnte er sie zwar nicht heiraten, hielt sie aber gefangen in der Hoffnung, dass sie ihre Meinung änderte.

Rama und Laxman suchten verzweifelt nach Sita. Unterwegs schlossen sie Freundschaft mit der Tierwelt und zwar genauer gesagt: mit den Menschenaffen und den Bären. Trotz seiner eigenen Probleme half Rama dem Affenkönig eine familiäre Krise zu lösen - das war die Pflicht eines Freundes. Der Affenkönig wiederum versprach Rama, ihm bei der Suche nach seiner Frau zu helfen.

Er schickte seine Affensoldaten in alle Himmelsrichtungen, um den Weg zu erkunden. Nach monate­langer Suche kam endlich Hanuman, der als der Affengott bekannt ist, mit dem Hinweis, dass Sita in Sri Lanka gefangen gehalten wird, weit hinter der Landesgrenze.

Rama ging mit seinem Bruder, seinem Freund, dem Affenkönig, und seiner Affenarmee zur Südküste Indiens. Sie fanden keinen Weg über das weite Meer. Es vergingen Wochen. Rama erinnerte sich an sein Versprechen, das er seinem Bruder gegeben hatte: Nach vierzehn Jahren wollte er zurückkehren und keinen Tag länger bleiben. Bald wären die vierzehn Jahre um, und er hatte noch keinen Weg zu seiner Frau gefunden. Er fing an zu beten, und der Wassergott erhörte seine Gebete. Die Affenarmee durfte eine steinerne Brücke über das Wasser bauen, um nach Sri Lanka zu gelangen. Alle gingen darüber.

Die Pfeiler dieser Brücke kann man heute noch sehen, die Felsinseln, die die Südküste Indiens mit der Nordküste Sri Lankas verbinden.

In Sri Lanka angekommen, forderte Rama Ravana zum Krieg auf. Die Dämonen waren zahlreich und mächtig, und der Krieg dauerte mehrere Tage. Ravana war unbesiegbar, denn jedesmal, wenn man seinen Kopf abschnitt, wuchs ein neuer an seiner Stelle. Rama und seine Armee waren verzweifelt. Der Krieg dauerte an, und es war kein Ende abzusehen. Die meisten der Dämonenfamilie waren gefallen, aber Ravana war immer noch bei Kräften. Endlich kam die Erlösung für Rama. Ein Überläufer der Dämonenfamilie, der an Gott glaubte und nicht an den Teufel, verriet Rama das Geheimnis Ravanas.

Am Tage darauf zielte Rama mit seinem Pfeil und Bogen auf Ravanas Bauchnabel - sein Kundalini. Ravana fiel zu Boden. So siegte endlich das Gute über das Böse.

Rama nahm Sita und Laxman und flog mit seinen Freunden nach Hause zu seinem Bruder Bharata. Es war der letzte Tag der vierzehnjährigen Verbannung. Er musste sein Versprechen einhalten.

Es war die dunkelste Nacht des Jahres. Als er heranflog, sah er von weitem schon viele Lichter in seinem Königreich. Das Volk hatte überall Lichter brennen lassen, damit er seinen Weg fand. Als Rama ankam, fiel ihm sein Bruder zu Füssen und gab ihm das Königreich zurück. Alle feierten die Rückkehr Ramas.

So wird auch jedes Jahr das Fest der Lichter bei den Hindus gefeiert. Es heisst Diwali oder Deepawali - Deep bedeutet Licht oder Lampe. Es wird jedes Jahr in der dunkelsten Nacht des Jahres gefeiert und fällt zwischen Ende Ende Oktober und Anfang November. Dies ist ein Fest wie Weihnachten. Es ist zwar nicht die Geburt Gottes, aber der Sieg des Guten über das Böse. Es soll den Hindus auch ein Gefühl des Pflichtbewusstseins und der Opferbereitschaft vermitteln.
Aus: Ramayana. Die Geschichte vom Prinzen Rama, der schönen Sita und dem Großen Affen Hanuman.
DG 45. Köln: Diederichs 1983 - nacherzählt von Renu Varandani.
 Krishnas blaue Haut 

Krishnas Hautfarbe ist blau, und er trägt immer gelbe Gewänder. Die blaue Farbe wird immer in Zusammenhang mit der Ewigkeit oder Unendlichkeit (z.B. Himmel oder Ozean) gebracht. Und die gelbe Farbe ist die Erde. Wenn Sand mit einer farblosen Flamme in Berührung kommt, wird die Flamme gelb. Die blaue Gestalt Krishnas, der in Gelb gekleidet ist, symbolisiert die ewige Wirklichkeit. die in ein sterbliches Dasein eingezwängt ist. Die Inkarnation Krishnas stellt das Herabsteigen Gottes auf die Erde dar. Der Gedanke, dass diese grenzenlose, formlose Wirklichkeit zu einem Menschenleben beschränkt wird, deutet auch seine Geburt in einem Gefängnis an. Das göttliche Kind konnte aber in einem Gefängnis nicht eingesperrt werden, denn sobald es auf die Welt kam, öffneten sich wie durch ein Wunder die Gefängnistore. Nicht einmal die Wächter konnten Krishnas Vater, der mit ihm durch die Tore spazierte, aufhalten.

Diese Episode soll vermitteln, dass das Göttliche und Ewige nicht durch menschliche Gestalt eingeschränkt oder behindert werden kann. Das Göttliche ist immer frei, die Seele oder Atman ( = Atem) grenzenlos. Nur der Körper, Gedankengut und Intellekt sind begrenzt, eingeschränkt und sterblich. Die Materie hat einen Anfang und ein Ende. Die Seele oder Atman nicht, sie ist ewig, unendlich. Krishna stellt stellt diesen Atman dar.

Nach: Parthsarathy, A.: The symbolism of Hindu Gods and Rituals.
Bombay: Vedanta Life Institute 1983, 3. Aufl.


Rezension des Buches: hier
Wie die Kuh der menschlichen Mutter gleichgestellt wurde

Seit jeher weiß jeder, dass die Kuh, ebenso wie eine Frau, eine Tragzeit von neun Monaten bzw. 280 Tagen hat. Genau wie die Mutter ernährt auch die Kuh ihre Nachkommen mit Milch. Die Mutter kann nur ihr eigenes Kind ernähren, die Kuh dafür aber ein ganzes Dorf. Ihre Milch ist genauso leicht und verdaulich für den empfindlichen Menschenmagen, wie die von einer Mutter.

Eines Tages war die Entbindungszeit für eine werdende Mutter gekommen. Sie hatte unerträgliche Schmerzen und die Geburt war sehr schwer. Es war eine Kuh in der Nähe, und sie half der werdenden Mutter, indem sie ihren Huf in das hintere Kleinbecken der Frau presste. Daher sagt man, kommt auch das Dreieck mit den drei Punkten über den Pobacken des Menschen. Heute weiß der Geburtshelfer, wo er die Anästhesie zu spritzen hat, nämlich an der gleichen Stelle, wohin einst die Kuh ihren Huf gesetzt hatte.

So half die Kuh der Frau zu ihrem Kind. Die Kuh bat die Frau, auch ihr zu helfen, wenn es bei ihr so weit wäre. Und als die Zeit zum Kalben gekommen war, eilte die Mutter ihr zu Hilfe. 
Mündlich überliefert und erzählt von Renu Varandani
im Rahmen des West-östlichen Divans Iserlohn

Anregungen für die Weiterarbeit

Die Geschichten stammen aus verschiedenen Erzähltraditionen, haben mehrere Ebenen. Sie reichen vom heiteren Nacherzählen bis zu einer Symbolik wesentlicher Daseinsfragen und transzendentem Wirklichkeitsverständnis. Diese Geschichten sind teilweise von erheblicher epischer Breite, ermöglichen aber auf diese Weise, dass die Zuhörerinnen durch das Erzählen gewissermaßen in die „Daseinstiefe“ hineingenommen werden. So hat auch jedes Fest in Indien eine entsprechende Festlegende.

       --- Welche Intentionen liegen jeweils hinter diesen drei Erzählungen?
       ---  Warum geht es in diesen Geschichten teilweise so konfliktreich zu?
       ---  Teilweise dauert es bis zur Lösung in einer Geschichte sehr lange,                                       manchmal stellt sich die Lösung unvermittelt ein.
                Welches sind die Hintergründe?

      
 Es ist sinnvoll, alle Fragen an den Geschichten einzeln und im Vergleich
 aller drei Geschichten miteinander zu vertiefen und so einer vergleichenden  Beantwortung
 näher zu bringen.

Überarbeitet, zuerst erschienen in Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau (Hg.):Gespiegelte Wahrheit. Iserlohner Con-Texte Nr. 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, S. 57 - 59, auch als PDF-Fassung wieder aufgelegt: 2009 und 2014. Download: hier

Mehr zum Hinduismus, den heiligen Schriften und Erzähltraditionen: hier


Lizenz: CC


Freitag, 13. Januar 2017

Nacherzählung zu Franziskus von Assisi



Vorlage: Georges Berton / Francois Place
(Übers.
Daniela Nußbaum-Jacob):      
Der mit den Vögeln sprach.
Eine Erzählung über Franz von Assisi.
    
Reihe:
Geschichten vom Himmel und der Erde        
Lahr: Ernst Kaufmann /
Stuttgart: Klett
1996, 40 S., Abb.
Nacherzählung von Miriam Conrad
und Julia Hellwig     
im Rahmen des Seminars:
„Interreligöses Lernen
mit Heiligen Schriften
und Erzählungen
aus den Weltreligionen“
(TU Dortmund, WiSe 2016/2017)

In seiner Jugendzeit war Franziskus von Bernadone, den wir heute als Franz von Assisi kennen, noch ein völlig anderer Mann: Dank des Vermögens seines Vaters, ein reicher Stoffhändler von Assisi, lebte er in Saus und Braus. Er träumte von einer Karriere als Sänger, von schönen Frauen und von militärischem Ruhm. Doch seine Träume wurden zerstört: Ein Krieg entbrannte zwischen den Städten Assisi und Perugia und Franziskus musste ein Jahr lang in Perugia als Gefangener leben.
Als er schließlich nach Assisi in seine Heimatstadt zurückkehrte, hatte er sich völlig verwandelt: Er verschenkte sein ganzes Geld an die Armen, bis er alles weggegeben hatte, was er besaß. Auch betete er oft stundenlang zu Gott und fragte ihn, was er tun müsste, um ein Heiliger zu werden doch Gott antwortete nicht.
Eines Tages befand sich Franziskus auf der Straße zwischen Assisi und Spoleto, als er die Kirche des heiligen Damian erblickte. Fast hätte er sie übersehen, da die Kirche kaum höher war als der Hafer, der um sie herum wuchs. Das Dach und die Mauern waren morsch und verfallen, aber trotzdem betrat Franziskus die kleine Kirche.
Von einem vergoldeten Kreuz herab lächelte ihn Christus an und Franziskus hörte die Worte: „Kümmere dich um mein Haus, damit es nicht zusammenfällt.“ Nun wusste Franziskus, was er zu tun hatte: In Windeseile rannte er zum Laden seines Vaters und verkaufte alle Stoffe, die er dort fand. Von den Einnahmen kaufte Franziskus alles, was er für sein neues Vorhaben benötigte und kehrte zur Kirche zurück.
Als jedoch sein Vater den leeren Laden erblickte, bekam er einen schrecklichen Wutanfall. In seinem Toben wandte er sich an den Bischof, der Franziskus auf dem Marktplatz treffen sollte. Der Bischof erklärte Franziskus, dass es nicht richtig war, das Eigentum seines Vaters einfach zu stehlen. Da begriff Franziskus plötzlich, dass er Gott nur mit dem dienen konnte, was ihm auch von Gott gegeben worden war. So zog er sein Hemd aus und flüchtete sich nackt in die Arme des Bischofs, der ihn mit seinem Mantel bedeckte.
Von diesem Tag an war es nichts Ungewöhnliches mehr, einem singenden jungen Mann in einem alten Mantel auf den Straßen von Assisi zu begegnen. Franziskus lebte nun in völliger Armut. Er dichtete Verse zum Lobe Gottes und sammelte Geld für die Instandsetzung der Kirche. Selbst im tiefsten Winter erklangen Franziskus' Lobgesänge auf dem weißen Glanz des Schnees und beim Funkeln des Raureifs. Doch nicht alle Menschen fanden ihre Freude an der kalten Jahreszeit.
Die Bewohner der Städte Assisi, Gubbio und Spoleto lebten in Angst und Schrecken, da ein gefährlicher Wolf nachts sein Unwesen trieb und sich an Schafen, Hunden und sogar Menschen vergriff. So berieten die Bürgermeister der drei Städte, Franziskus um Rat zu fragen, da ihnen bekannt war, dass dieser mit allen Geschöpfen Gottes vertraut war. Franziskus Antwort war sehr ungewöhnlich: Er schlug vor, mit dem Wolf einen Vertag zu machen. Der Bürgermeister von Gubbio überlegte einige Zeit, willigte dann jedoch in diesen Vorschlag ein und versprach, den Vertrag einzuhalten. Schließlich war es soweit und Franziskus sollte den Wolf vor den Toren der Stadt treffen. Alle Einwohner waren gekommen, um Franziskus dabei zuzusehen, wie er sich langsam dem Wolf näherte, dessen Augen und Zähne blitzten.
Doch Franziskus schaute dem Wolf fest in die Augen und dieser legte seine Pfote in die Hand, die Franziskus ihm reichte: „Bruder Wolf, du prächtiges Geschöpf Gottes, du bereitest mir große Sorge. Warum veranstaltest du so ein Gemetzel und greifst Menschen und Tiere an?“ Der Wolf erklärte, dass er dies nicht zum Spaß tun würde, sondern allein aus Hunger und da er berauscht würde vom Geruch des Blutes. Daraufhin prophezeite Franziskus dem Raubtier ein glückliches Leben in Gubbio, wenn der Wolf seine Lust zu töten überwinden würde: „Jeden Morgen wird dir der Fleischer ein gutes Stück Fleisch zubereiten und die Kinder werden dein seidiges Fell streicheln. Aber versprich mir zuerst, dich zu bekehren.“ Plötzlich erschien der Schimmer einer Rose am Himmel und es begann sanft zu regnen. Der Frühling hatte sich angekündigt. Doch der Wolf begann zu weinen und zwei große Tränen kullerten in den Schnee.
Franziskus erkannte die Reue des Wolfes und nahm ihn mit in die Stadt. Zunächst waren die Menschen gegenüber diesem gefährlichen Tier misstrauisch, aber der Bürgermeister empfing den Wolf wie einen neuenMitbürger und ließ ihn zwischen der Kirche und dem großen Platz in einer Hütte wohnen. So nahm der Wolf an allen Veranstaltungen der Stadt teil und als er schließlich starb, trauerte jeder Bewohner um ihn.
Als Franziskus im Kloster von Portiunkula lebte, besuchte er jeden Morgen den wunderschönen Garten. Während seiner täglichen Streifzüge durch den Garten bemängelte Franziskus die unablässige Arbeit der Ameisen und des Gärtners, die ständig dabei waren, Vorräte zu sammeln. Der Gärtner, der wunderbares Gemüse anpflanzte, vergaß dabei jedoch die schönen Blumen, sodass Franziskus ihn daran erinnerte, dies nachzuholen. Als der Gärtner einige Rosen, Petunien und Ranunkeln angepflanzt hat, kamen die Bienen angeflogen und machten sich glücklich auf den Blüten breit.
Auf dem Weg zu einer Predigt entdeckte Franziskus eine Lerche im Gebüsch. Ihr unscheinbares Federkleid erinnerte Franziskus daran, wie unwichtig Kleidung ist. Außerdem lehrt sie den Menschen, die Dinge dieser Welt zu schätzen. Während einer Rast, bei der seine Brüder Angus und Matteo, die ihn zur Predigt begleiteten, zur Ruhe kamen, predigte Franziskus zu den Vögeln. Er erinnerte die verschiedenen Vögel daran, dankbar für das zu sein, was sie haben. Denn sie haben die Freiheit, zu fliegen, besitzen ein schönes, buntes Federkleid, Nahrung im Überfluss, ohne dass sie Arbeit verrichten müssen. Er forderte die Vögel dazu auf, singend davon zu fliegen. Einen Tag später berichtete Franziskus der Gemeinde, die sich wegen Geld gestritten hatten, von seinen Erlebnissen. Ihnen wurde bewusst, dass es nicht wichtig ist, was man besitzt, weil man auch mit wenig, glücklich sein kann.
Eines Tages ging Franziskus mit seinem Bruder Paul Richtung Stadt Osimo, um dort eines der zahlreichen Klöster zu besuchen. Auf dem Weg dorthin begegneten ihnen eine Herde Schafe und Ziegenböcke. Die gesamte Herde tollte übermütig herum und verteilte sich auf dem gesamten Weg. Alle – bis auf ein Lamm, das sanft und gehorsam seines Weges ging. Es erinnerte Franziskus an Jesus, der genauso still und ohne Widerstand den Soldaten während seines Kreuzzugs folgte. Franziskus kam die Idee auf, das Lamm zu kaufen, doch leider besaß er kein Geld. Dies machte ihn sehr traurig, sodass ein vorüberziehender Händler auf ihn aufmerksam wurde. Er schenkte ihm, ohne zu zögern, einen Sack Geld, sodass Franziskus das Lamm kaufen konnte. Da er aber so arm war und das Lamm nicht ernähren konnte, kam er auf die Idee, das Lamm den Schwestern im Kloster von San Severino zu schenken, was diese freudig annahmen.
Im Kloster von Portiunkula lebte ein Bruder namens Morico, der alle Vorschriften buchstabengetreu einhielt. Da jedoch Weihnachten anstand, kam ihm die Frage auf, ob es an Weihnachten erlaubt ist Fleisch zu essen, wenn das Fest auf einen Freitag fällt. Franziskus erinnerte Morico daran, dass an Weihnachten nicht gefastet werden soll, auch wenn es ein Freitag ist, da an diesem Tag Gott als kleines Kind auf die Erde gekommen ist.
Einige Tage später kehrte Franziskus in die Nachbarstadt Greccio ein, um in einer Grotte des Jean Veleta, ein Freund der Brüder, zu Weihnachten eine Krippe aufzubauen, die der Krippe in Bethlehem gleicht. In der Heiligen Nacht zogen viele Menschen zur Höhle hinauf, um die Geburt Jesu zu feiern.
Drei Jahre später war für Franziskus die Zeit gekommen, zu sterben und zu seinem Gott zurückzukehren. Während seiner letzten Stunden sang er mit schwacher Stimme gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern einen Lobgesang. Alsbald er gestorben war, machten sich einige Lerchen auf dem Dach der Hütte breit und stießen lange, betrübte Töne aus. Nach einiger Zeit erhoben sie sich und flogen in die Weite des Himmels hinaus.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              

      TU-DO, WiSe 2016/2017 – Franziskus nacherzählt, 13.01.2017