Freitag, 23. Dezember 2016

Etwas andere Weihnachtsgeschichten

Schülertexte, Bibel- und Koranzitate

a. Ein zwar nicht gefundenes, dafür aber erfundenes historisches Dokument:
     Aus dem Tagebuch des Quirinius, Gouverneurs von Syrien und Palästina
(aus dem Jahre 5 n. Chr.)
Heute vor 50 Jahren ist der große Cäsar ermordet worden. Wenn ich nun an den Iden des März 758 a.u.c. (= 15. März 758 ab urbe condita, d.h. seit der Gründung Roms = 5 n. Chr.) darüber nachdenke, was sich seitdem alles geändert hat, so muss ich wirklich dem großen Augustus danken, dass er seit seiner großartigen Schlacht gegen seine Rivalen unserem Weltreich den Frieden gebracht hat
(= Seeschlacht von Actium 31 v. Chr.). Ich bin dem großen Augustus auch sehr zu Dank verpflichtet, dass er mich zum Gouverneur einer seiner Provinzen gemacht hat. Allerdings ist die Arbeit hier kein Vergnügen.


Römisches Theater in Caesarea Maritima (Wikipedia)
Die Residenz in Cäsarea ist zwar wunderbar und klimatisch günstig am Mittelmeer gelegen, aber Syrien/Palästina ist eine der problematischen Grenzprovinzen.
20 Jahre vor Cäsars Tod gelang es erst Pompeius, das Land völlig zu unterwerfen und zur römischen Provinz zu machen. Heute herrscht aber immer noch keine Ruhe, und die ökonomischen Verhältnisse sind katastrophal.
Mir graut schon vor dem Gedanken, die der große Augustus auf der letzten Gouverneurskonferenz in Rom äußerte, dass er zur besseren Sicherung der Staatsfinanzen und zur Aufstockung des Haushalts eine Steuerschätzung durchzuführen gedenke; das heißt doch nichts anderes, als noch mehr Steuern aus diesen Leuten hier herauszupressen.
Außerdem weiß ich, dass die großen Befriedungsaktionen des großen Augustus nicht immer zum Erfolg geführt haben. Die Juden sind dazu noch besonders aufsässig. Die konservativ-fromme Richtung der Pharisäer erkennt noch nicht einmal den vom großen Augustus eingesetzten Herodes an, weil er kein richtiger Jude ist, sondern aus Idumäa stammt; ein König der Juden müsse aber aus dem Hause Davids sein.
Zudem gibt es eine Reihe von Terroristengruppen, die plötzlich in die Städte eindringen, einen römi­schen Beamten, Soldaten oder einen Zöllner umbringen und wieder in den Bergen verschwinden; andere überfallen Nachschubtransporte für die VI. Legion bzw. deren Außenstationen.
Tempelmodell im Israelmuseum: Jerusalem zur Zeit Jesu, rechts oben am Tempel-Areal
die Burg Antonia,Standort einer Kohorte der X. Legion  
Foto: Wikipedia - Tempelberg
Gestern kam ein junger Soldat von der Garnison in Jerusalem herein und erzählte mir, er hätte davon gehört, dass in Bethlehem oder Nazareth ein Kind geboren sei, das einige für den neuen König der Juden hielten; schließlich hätte über seiner Geburtsstätte ein Stern von besonderer Helligkeit gestan­den. Ich halte das zwar für ein Gerücht, denn der Stern von besonderer Helligkeit ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr zu sehen, mein Palastastrologe hat nämlich genau Buch geführt; aber gefährlich kann so etwas immer werden. König der Juden - neben dem offiziell eingesetzten König, wenn das nicht wieder Aufruhr gibt, zumal der junge Soldat meinte, Bethlehem verstanden zu haben; und aus Bethlehem stammen doch nun einmal die Nachfolger Davids und Könige Israels.
(Schülertext, Stufe 12)

 b. Stern von Bethlehem leuchtete auch über China
               Aufzeichnungen fernöstlicher Astronomen verlegen Christi Geburtsdatum um fünf Jahre vor.
Der Stern von Bethlehem war nach Auffassung britischer Astronomen eine „Nova" oder neuer Stern, und nicht, wie die Wissenschaftler bisher angenommen hatten, das Licht der dicht beieinander stehen­den Planeten Jupiter und Saturn. Es handelte sich demnach um einen neuen Stern von 70 Tagen Dauer, der sogar von Astronomen des Fernen Ostens im Altertum registriert wurde.
Als Zeitpunkt der Erscheinung wurde von chinesischen und koreanischen Astronomen das Jahr 5 vor unserer Zeitrechnung angegeben. Es bestehen gute Gründe dafür, anzunehmen, dass Christus etwa im Jahre 5 geboren wurde. Im Jahre 533 unserer Zeitrechnung legte der skythische Mönch Dionysius Exiguus den Kalender fest, ließ dabei jedoch irrtümlicherweise rund vier Jahre aus der Zeit des Kaiser Augustus aus. Die Evangelisten Matthäus und Lukas bestätigen, dass Jesus zur Zeit des Herodes geboren wurde. Herodes starb am 13. März des Jahres 4 vor unserer Zeitrechnung. Das Zusammen­fallen von Jupiter und Saturn ereignete sich jedoch im Jahre 7. Die Jupiter-Saturn-Hypothese konnte demnach nicht zutreffen. In der Zeitschrift der Königlichen Astronomischen Gesellschaft in London be­tonen die Wissenschaftler der Universität von London und Newcastle, zur Zeit der Geburt Christi habe die Astronomie im Fernen Osten das wissenschaftliche Niveau in Europa und Nahost bei weitem überflügelt. Daher suchten die Forscher Aufzeichnungen insbesondere in China und Korea aus ungefähr dem Jahre 5 über aussergewöhnliche Erscheinungen am Sternenhimmel. In beiden Ländern fanden sie Beweise, dass ein heller neuer Stern gesichtet wurde - in China im Jahre 5, und in Korea im Jahre 4. Den chinesischen Aufzeichnungen zufolge konnte keine Bewegung des Himmelskörpers festgestellt werden. Diese Tatsache schließt die Möglichkeit aus, dass es sich um einen Kometen handelte. Sowohl die chinesischen als auch die koreanischen Astronomen verzeichneten, die Nova sei in der Nähe des Altair erschienen. Die Chinesen geben als Zeitraum für das Phänomen die Wochen vom 10. März bis 7. April an. Nach Berechnungen der britischen Wissenschaftler würde eine Nova Mitte März des Jahres 5 in der beschriebenen Position etwa viereinhalb Stunden vor Sonnenaufgang am östlichen Himmel erschienen sein. Von Tag zu Tag würde sich diese Zeitspanne verlängert haben.
Zur Zeit der Geburt Christi war das Interesse für Astronomie im Nahen Osten nur gering. Daher seien nur die aufsehenerregendsten Ereignisse registriert worden. Die britischen Wissenschaftler unterstrei­chen, dass nur einer der vier Evangelisten - Matthäus - den Stern überhaupt erwähnt. Eine Nova hätte damals wahrscheinlich Interesse erweckt, da ein derartiger neuer Stern sehr hell ist. Ob sein Erscheinen mit der Geburt Christi wirklich zusammenfiel, oder ob die beiden Ereignisse erst nachträg­lich in Zusammenhang gebracht wurden, bleibt den Forschern zufolge auch weiterhin ungeklärt. Matthäus war entweder ein besserer Beobachter als die anderen Zeitgenossen, oder er war ein besserer Psychologe.
Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 1977)

c. Aus der populär-wissenschaftlichen Zeitschrift: imago universitatis, 81. n. Chr.
11. Jahrgang 834 a.u.c. (= 81 n. Ch.), Antiochien, Papyrus 51
Der religionswissenschaftlichen Redaktion unserer Zeitschrift sind die gesammelten Berichte eines gewissen Lukas in griechischer Sprache zugegangen. Besondere Aufmerksamkeit fanden bei unserem aus Nordgaliläa stammenden Mitarbeiter Cäcilius Sceptio die Schilderungen der Geburt eines Weltenheilandes mit Namen Jesus. Nun war es vor ca. 80-90 Jahren keineswegs ungewöhnlich, dass die Menschheit auf die grosse Welterlösung wartete. Augustus hatte sein Weltreich abgesichert, Vergil schreibt von einem göttlichen Kinde und die Mythen der Ägypter sind voll von Erzählungen dieser Art und erfreuen sich auch heute noch bei einem großen Teil der Bevölkerung im gesamten Römischen Reich grosser Beliebtheit.
Aufgrund der uns vorliegenden Texte (wir haben auch noch die Überlieferung eines nicht weiter bekannten Matthäus herangezogen, siehe Kasten) scheinen uns jedoch einige Aussagen sehr zweifelhaft.
Schülertext, Stufe 12

Galaterbrief des Apostels Paulus  4,4-7
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
Lukas 2,1-20
1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.
2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Ouirinius Statt­halter in Syrien war.
3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein jeder in seine Stadt.
4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids,
   die da heißt Bethlehem, weil er dem Hause und Geschlecht Davids war,
5 damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.
6 Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.
7 Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe;
   denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.
9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.
10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude,
     die allem Volk widerfahren wird;
11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
12 Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:
14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
15 Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander:
     Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.
16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.
17 Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.
19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.
20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten,
     wie denn zu ihnen gesagt war.

Matthäus 1,18-25
18 Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich,
     ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem heiligen Geist.
19 Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heim­lich zu verlassen.
20 Als er das noch bedachte, siehe, da erschien, ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids,
     fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, das ist von dem heiligen Geist.
21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben,  denn er wird sein Volk retten
     von ihren Sünden.
22 Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht
     (Jesaja 7,14):
23 „Siehe eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben", das heisst übersetzt: Gott mit uns.
24 Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.
25Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.
Übersetzung: revidierte Lutherbibel

Als unstrittig hat sich allerdings aufgrund der eingesehenen Geburtsregister der Stadt Nazareth erwiesen, dass dieser Jesus zur Zeit des Augustus geboren wurde, und dass Quirinius zu jener Zeit Gouverneur der Provinz Syrien war. In Bethlehem konnte jedoch das städtische Steueramt keine Angaben über einen Jesus von Nazareth, bzw. dessen Eltern Maria und Josef machen. Hier muss wohl eine Verwechslung von Nazareth mit Bethlehem vorliegen, die allerdings wegen der Größe der Entfernung zwischen beiden Städten etwas ungewöhnlich ist. Unser schon erwähnter Mitarbeiter Cäcilius Sceptio , der selbst mehrfach in Nazareth war, hat jedoch glaubwürdige Zeugen gefunden, die ihm versicherten, in Nazareth hätte vor vielen Jahren ein Zimmermann Josef mit seiner Ehefrau Mirjam (= Maria) gelebt; sie hätten auch mehrere Kinder gehabt. Die Nachfahren leben zum Teil noch dort.
Als einen besonderen Erfolg unserer Nachforschungen werten wir es jedoch, dass die Schaf- und Ziegenherden in der Umgebung Bethlehems immer noch von denselben Familien gehütet werden, deren Vorfahren diese seltsamen Engel-Erscheinungen gehabt haben sollen, von denen Lukas berichtet. Cäcilius hat mit ihnen ausführliche Interviews gemacht und alle Unterlagen an das Psychologische Institut der Universität Damaskus geschickt.1
Nach Auskunft von Prof. Dr. Yussuf al-Hakim2 handelt es sich bei den Erlebnissen der Hirten eindeutig um Übermüdungserscheinungen aufgrund vieler Nachtwachen, die durch die wilden Tiere bedingt sind, die in jener Gegend eine ernsthafte Gefahr für die Kleinviehherden darstellen. Man muss das von den Hirten Berichtete deswegen als Vision mit halluzinatorischem Charakter ansehen.
Im Übrigen wird die Vermutung geäußert, dass die Einflüsse einiger Partisanengruppen und deren Friedensvorstellungen von den Hirten übernommen wurden und in ihre Visionen eingegangen sind. Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Jesus zwar geboren wurde, es aber offensichtlich im Interesse bestimmter Kreise liegt, seine Geburt religiös und politisch aufzuwerten. Es handelt sich wahrscheinlich um die von Juden abgespaltene Gruppe der Christen, die auch behaupten, Jesus sei auferstanden.

Amerkungen
1.  Die Universität Jerusalem existiert seit der Zerstörung der Stadt im Jahre 823 a.u.c. (= 70 n. Chr.) durch Titus, den Feldherrn des Kaisers Vespasian nicht mehr. Faktisch liegt die Stadt nach 11 Jahren noch genauso in Trümmern. Dadurch sind vielleicht wertvolle Unterlagen des dortigen Psychologischen Instituts nicht mehr verfügbar.
2.  al-Hakim (arabisch = Arzt, Gelehrter Weiser) war bis kurz vor der Zerstörung Jerusalems Dozent an der Jerusalemer Universität und wurde im Jahre 822 a.u.c. ( = 69 n.Chr.) zum Professor für Psychologie und Parapsychologie an der Universität Damaskus ernannt.



d.         Die Geburt Jesu als Sage, Märchen und Mythos
1.  Sage
Vor langer Zeit erliess der Römische Kaiser Augustus das Gebot, dass alle Menschen seines Weltreiches gezählt werden sollten. Bisher hatte es noch nie eine Volkszählung gegeben. Der Römische Statthalter in Palästina bereitete alle Unterlagen sorgfältig vor und setzte dann seine Beamten in Bewegung, damit sie ihm die notwendigen Ergebnisse lieferten.
Dabei stiess einer der zählenden Beamten auch auf eine Familie, genauer gesagt, auf einen Zimmermann mit seiner Verlobten, die jedoch schon ein gemeinsames Kind hatten und behaupteten, sie wären wegen der Volkszählung gezwungen gewesen, von Nazareth nach Bethlehem zu kommen.
Nach den Gründen befragt, gab der Mann an, ein Nachkomme des Königs David zu sein. Da jedoch alle zu zählenden Personen an den Heimatort ihrer Familien kommen sollten, war er genötigt, im Winter diese beschwerliche Reise mit seiner schwangeren Verlobten anzutreten.
Nun gebührt Nachkommen von Königshäusern immer eine besondere Hochachtung. Als die Beamten des Statthalters das in einem Stalle liegende Baby betrachteten, hatten sie den Eindruck, es hätte sie angelächelt und sie dann mit Namen angesprochen; für ein Kind von nur wenigen Wochen eine geradezu phänomenale Leistung. Bei weiteren Nachforschungen der Beamten kam sogar heraus, dass das Baby von drei Königen aus dem Orient Besuch gehabt hatte, die auch kostbare Geschenke hinterliessen. Die Beamten konnten sich selbst von dem wunderbaren Weihrauch, der Myrrhe und dem Gold überzeugen; auch bestätigten die Bewohner Bethlehems den Besuch dreier hoher Herren, die auf Kamelen mit einer riesigen Dienerschaft dem Kinde einen Besuch gemacht hatten. Unerklärlich blieb allerdings, wieso die drei weder dem Vasallenkönig Herodes in Jerusalem, noch dem Statthalter ­in Cäsarea einen Besuch gemacht hatten.
Dies spielte nun allerdings auch keine Rolle mehr. Als der Statthalter den Bericht seiner Beamten las, liess er das junge Paar mit dem Kinde sofort in den Gouverneurspalast nach Cäsarea holen und erstattete dem Kaiser einen ausführlichen Bericht.
Nach mehreren Monaten ging die Antwort des Kaisers ein. Dieser hatte den Gouverneursbericht mit anderen Aussagen vergleichen lassen und war zu dem Schluss gekommen, dass der Junge dieses Paares wahrhaftig ein Königssohn sei, der die Welt erlösen sollte. Das hatten sogar einige römische Schriftsteller prophezeit. Er befahl, das Kind samt seinen Eltern nach Rom zu holen, es mit den gebührenden Ehren zu empfangen und den Jungen trotz seines zarten Alters für ein hohes Regierungsamt vorzusehen. Gerüchteweise hörte man von den Damen am kaiserlichen Hofe, dass der Kaiser den Jungen mit Namen Jesus sogar als seinen Nachfolger betrachtete, wenn auch nur insgeheim.
Allerdings kam es nicht zu dem triumphalen Einzug Jesu in Rom. Eines Tages waren die Eltern samt ihrem Kind aus dem Gouverneurspalast verschwunden. Einige behaupteten, die drei hätten sich nach Ägypten abgesetzt, weil dem Kind noch etwas Grösseres prophezeit worden wäre, als nur Herrscher des Römischen Reiches zu werden; ja man sagte, dieses Kind solle Gottes Sohn sein. Aber das liess sich nun vorerst nicht mehr überprüfen.
Schülertext, Klasse 10
2.         Märchen
Didaktische Vorbemerkung
Wer nach Menschlichkeit fragt, sollte in besonderer Weise erfundene Wahrheit auf diese Intentionen hin Uberprüfen. Was liegt in diesem Zusammenhang näher, als den Versuch zu wagen, die Weih­nachtsgeschichte auch als Märchen zu lesen und entsprechend umzuformen?
Heutzutage steht das Märchen nicht mehr im Geruch der Klein­kindergeschichte, ja mehr und mehr wird entdeckt, dass Märchen eigentlich für Erwachsene da sind. Mit dieser Erzählform lässt sich anders als bei den bisher vorgestellten deutlich machen, dass das Gute wirklich den Sieg davonträgt und der Kleine und Schwache nicht verzagen muss, weil er am Ende aufgrund seines reinen Wesens belohnt wird.
Mit dem Sieg des Guten lässt sich besonders gut zeigen, dass durch eben diesen Sieg eine neue Menschlichkeit Gestalt gewinnen soll, von der in den anderen Erzählformen nur sehr peripher die Rede war. Diese Menschlichkeit eröffnet neue Lebensräume. Zwar kommen in allen Märchen auch Grau­samkeiten vor, aber sie sind gewissermassen nur die Negativfolie, die Mut zum Leben aus der Liebe machen will. Vielleicht sollte man einmal den Kindermord von Bethlehem und die Flucht nach Ägypten auch unter diesen Gesichtspunkten sehen. Imgrunde bietet ja schon die Not und die Ärmlichkeit auf dem Weg von Nazareth nach Bethlehem Ansätze, die Geschichte ins Märchen zu transponieren.
Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass das folgende Märchen sowie die noch im Materialteil angebotene Göttergeschichte von Schülern erstellt wurden, wird man darauf verwiesen, dass der Wechsel in eine andere Erzählform nicht nur ein methodischer Gag ist, der natürlich auch eine gewisse Heiterkeit vermittelt, sondern veränderte Sichtweisen eröffnen auch neue Zugänge, die etwa bei der Sage anders sind als beim Märchen, geschweige denn, man zieht zur historischen Aufhellung noch erfundene Dokumente heran.
Nun findet man in der Bibel nur wenige Märchenmotive (z.B. Bileams Esel in Num 22 oder Jona und der Fisch), dennoch gehört natürlich auch das Märchen in eine Erzähltradition, die für die Bibel typisch ist.
So ermuntert hebräische und christliche Bibel gerade im Blick auf die von Gott geschenkte Mensch­lichkeit, alle Versuche aufzunehmen und zu vertiefen, die in diese Richtung gehen.
Der Religionsunterricht dürfte dabei ein geeigneter Ort sein, solche Umerzählungen zu wagen, auch wenn sie nicht immer allen exegetischen Einwänden standhalten, geht es doch hier mehr um die Herausstellung der Erzählgemeinschaft und die Hineinnahme in eine Tradition, die auf Einstimmungen nicht verzichtet, sondern sie bewusst aus sich entlässt. Das zeigt sich ja auch daran, wie Künstler aller Generationen mit dem Thema der Geburt Jesu umgegangen sind.
Der Schülertext
Es waren einmal ein Mann und eine Frau, Josef und Maria, die waren sehr arm. Und weil eines Tages der Konig befahl, dass alle Menschen in ihre Heimat gehen sollten, mussten sich Josef und Maria auf einen langen und beschwerlichen Weg machen. Als sie endlich in ihrem Heimatdorf ankamen, war es schon sehr spät, und so suchten sie eine Bleibe für die Nacht. Sie klopften an die Tür der Herberge, worauf ein dicker Mann, wohl der Wirt, hinaustrat: „Was wünscht Ihr zu so später Stunde? Wollt Ihr ...“ Als er jedoch die ärmliche Bekleidung der beiden sah, verfinsterte sich seine Miene, und er grollte: „Ihr Bettler wagt es, meine Schwelle zu betreten? Fort mit euch, Ihr gammeliges Gesindel!" Sie versuchten es noch an vielen anderen Türen, aber überall wurden sie abgewiesen.
Auf einmal hörten sie ein ganz jämmerliches Geschrei; und als sie nachschauten, was es wohl sein könnte, fanden sie einen kleinen Esel, der sich verlaufen hatte. Sie streichelten und trösteten ihn. Und als sie kurze Zeit nach seiner Mutter gesucht hatten, fanden sie sie in einem Stall. Aus Dankbarkeit bot ihnen die Eselin an, bei ihr in der armseligen Hütte zu übernachten.
Eine gute Fee, die dies alles mit angesehen hatte, wollte die beiden für ihre gute Tat belohnen und stellte ihnen einen Wunsch frei. Da wünschten sich Maria und Josef ein Kind. Und noch in derselben Nacht schenkte die Fee ihnen einen Sohn, der hiess Jesus.
Und die Fee rief viele gute Freunde zusammen, die Geschenke mitbrachten, so dass die kleine Familie nie mehr Hunger leiden musste.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute genauso glücklich und zufrieden.
Schülertext, Klasse 10

e.  Die Weihnachtsgeschichte als Göttergeschichte (Mythos)
Didaktische Vorbemerkung
Der Mythos hat als Erzählgattung den besonderen Vorzug, Göttliches mit Menschlichem zu vermitteln und die Einheit des Weltbildes zu wahren. Die Schüler haben in der folgenden Geschichte versucht, nicht nur mythische Elemente einzubauen (wie wir sie ja auch bei Lk und Mt finden), sondern diese zu systematisieren. Dies scheint mir auch weitgehend gelungen, wenn man einmal davon absieht, dass Maria „zufällig" vom Heiligen Geiste schwanger war. Im Mythos gibt es keine Zufälle. Originell ist dagegen der Gedanke mit der Engelstatue. Das „wie durch geheime Kräfte" zeigt auch wieder, wie schwer es für einen heutigen Menschen ist, sich ganz in ein mythisches Geschehen hineinzudenken.
Sehr schön kommt dann wieder die Verbindung von Himmel und Erde zum Ausdruck, indem Maria erst fortgehoben wird, um dann mit dem Kind wiederzukommen, so dass man sich unwillkürlich fragt, ob die Schüler nicht bestimmte Marienvorstellungen (im kosmischen Horizont) in ihre Erzählung haben eingehen lassen. Die Konsequenz ergibt sich auch logisch, das heisst konsequent dem mythischen Geschehen folgend: Die Welt wird verändert. Es entsteht ein Neues.
Schülertext
Eine Jungfrau namens Maria war mit Joseph verlobt. Es begab sich aber zufällig, dass sie von einem Heiligen Geiste schwanger war. Joseph wollte sie nun heimlich verlassen, denn wer glaubt schon an heilige Geister. Auf diese Weise wollte er sich Spott und Kummer ersparen. Doch da erschien ihm des Nachts ein wunderbarer Engel. Dieser Engel war eigentlich eine Statue, plötzlich jedoch befähigt, (wie) durch geheime Kräfte, zu reden und sich zu bewegen. Er sprach zu Joseph: „Siehe, euer Sohn soll geboren werden. Denn ich sage dir: Wir hatten eine lange Beratung im Himmel, weil einige nicht wollten, dass ein Halbgott geboren werde, andere jedoch dafür waren. Wir entschlossen uns, aus diesem Kinde einen Wundermenschen zu machen, der den unglücklichen Menschen an Stelle unseres verehrten Gottes hilft." Und der Engel verschwand.
Joseph war aber so erstaunt, dass er sogleich zu Maria eilte und ihr diese wunderbare Begebenheit erzählte.
Tatsächlich gebar Maria ein Wunderkind, jedoch auf ungewöhnliche Weise. Während sie von den Engeln von der Erde fortgehoben wurde, kam das Kind zur Welt. Sogleich liessen sie es zur Erde schweben mit einem Heiligenschein um den Kopf und wunderbaren Gewändern am Körper. Alle Menschen sanken vor tiefer Ehrfurcht auf die Knie, als sie das Gefolge der Engel und die schöne Frau Maria mit dem Kind in einem überhellen Schein vom Himmel schweben sahen.
Unten angekommen, bezogen sie sogleich einen wunderschönen Palast, und die Engel hielten Wache bei dem Göttersohn.
Und siehe, mit dieser aussergewöhnlichen Geburt, dem Geschenk der himmlischen Kräfte, wurde die Welt von allem Übel erlöst.

f.  Die Weihnahtsgeschichte nach dem Koran: Sure 19,15-35
Und erwähne im Buch Maria. Als sie sich von ihrer Familie an einen östlichen Ort zurückzog und sich von ihr abschirmte, da sandten Wir Unseren Engel Gabriel, und er erschien ihr in der Gestalt eines vollkommenen Menschen; und sie sagte: „Ich nehme meine Zuflucht vor dir beim Allerbarmer, (Lass ab von mir) wenn du Gottesfurcht hast.“
Er sprach: „Ich bin der Bote deines Herrn. (Er hat mich zu dir geschickt) damit ich dir einen reinen Sohn beschere.“ Sie sagte: „Wie soll mir ein Sohn (geschenkt) werden, wo mich doch kein Mann (je) berührt hat und ich auch keine Hure bin?“ Er sprach: „So ist es; dein Herr aber spricht: ‚Es ist mir ein Leichtes, und wir machen ihn zu einem Zeichen für die Menschen und zu Unserer Barmherzigkeit, und dies ist eine beschlossene Sache‘.“
Und so empfing sie ihn ( = ihren Sohn) und zog sich mit ihm an einen entlegenen Ort zurück. Und die Wehen der Geburt trieben sie zum Stamm einer Dattelpalme. Sie sagte: „O wäre ich doch zuvor gestorben und wäre ganz und gar vergessen!“ Da rief er (= der Baum) ihr von unten her zu: „Sei nicht traurig. Dein Herr hat dir ein Bächlein fließen lassen; und schüttele den Stamm der Palme in deine Richtung, und sie wir frische reife Datteln auf dich fallen lassen. So iss und trink und sei frohen Mutes. Und wenn du einen Menschen siehst, dann sprich: ‚Ich habe dem Allerbarmer zu fasten gelobt, darum will ich heute mit keinem Menschen reden‘.“ Dann brachte sie ihn ( = Jesus) auf dem Arm zu den Ihren. Sie sagten: „O Maria, du hast etwas Unerhörtes getan. O Schwester Aarons, dein Vater war kein Bösewicht und deine Mutter war keine Hure.“ Da zeigte sie ( = Maria) auf ihn ( = Jesus). Sie sagten: „Wie sollen wir zu einem reden, der noch ein Kind in der Wiege ist?“ Er (Jesus) sagte: „Ich bin ein Diener Gottes; Er hat mir das Buch gegeben und mich zu einem Propheten gemacht. Und Er gab mir seinen Segen, wo ich auch sein möge, und Er befahl mir Gebet und Zakah ( = Sozialabgabe), solange ich lebe; und (Er befahl mir) ehrerbietig gegen meine Mutter (zu sein); Er hat mich nicht gewalttätig und unselig gemacht. Und Friede war über mir an dem Tage, als ich geboren wurde, und (Friede wird über mir sein) an dem Tage, wenn ich sterben werde, und an dem Tage, wenn ich wieder zum Leben erweckt werde.“
Dies ist Jesus, Sohn der Maria – (dies ist ) eine Aussage der Wahrheit, über die, die uneins sind. Es geziemt Gott nicht, sich einen Sohn zu nehmen. Gepriesen sei Er! Wenn Er etwas beschließt, so spricht Er nur: „Sei!“ und es ist. „Wahrlich, Gott ist mein Herr und euer Herr. So dient ihm! Das ist ein gerader Weg.“

Nach der Übersetzung des Al-Qur’an Al-Karim und seine ungefähre Bedeutung in deutscher Sprache von
A.M. Ibn Ahmad Ibn Rassoul. Köln: Islamische Bibliothek 1998, 15. verbesserte Auflage.
(Bei der Bearbeitung wurde das Wort „Allah“ (= arabisch: Gott) durch „Gott“ ersetzt.
Schülertext, 10.Klasse
Zuerst erschienen in Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau (Hg.): Gespiegelte Wahrheit. Biblische Geschichten und Kontexte anderer Religionen. Iserlohner Con-Texte 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, S. 27–29
Neubearbeitung: Reinhard Kirste
 Relpäd/Weihnachten/weihnacht

Gespräch über Weihnachten mit Margot Käßmann am 25.12.2015 in rbb-Mediathek:


Donnerstag, 22. Dezember 2016

Zwei Weihnachtslegenden


Vorlage:
LEBRUN, Françoise  (Text) /
BIENFAIT, Andrée u.a (Illustrationen):
Die Geheimnisse der wundersamen Nacht. Weihnachtslegenden.
Lahr: Kaufmann / Stuttgart: Klett
1996, 39 S., Abb.

Das wunderbare Spinnennetz 
(aaO S. 5–15)
Seit mehreren Tagen schon strömten unzählige Menschen in das beschauliche Bethlehem, um sich in die Steuerlisten des römischen Kaisers Augustus eintragen zu lassen. Jeder musste sich an seinem Heimatort eintragen lassen und so kam es auch, dass Josef mit seiner hochschwangeren Frau Maria nach Bethlehem kam. Die Nacht mussten sie im Stall einer Herberge im Stroh zwischen dem Vieh verbringen, da die Herbergen in der Stadt restlos überfüllt waren. In eben jener Nacht geschah es, dass Maria ihr Kind gebar. Josef wollte sofort Hilfe holen für die Mutter und ihr Neugeborenes, aber fand zu so später Stunde niemanden mehr bis auf ein junges, in ein Tuch gehülltes Mädchen. Sie folgte ihm bald, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Beim Betreten des Stalls, als sich das Tuch leicht zurückschob, bemerkte Maria voller Mitleid, dass das Mädchen keine Arme hatte. Daraufhin wartete sie, bis das Mädchen sich auf den Boden in den Stroh gesetzt hatte, und legte ihr das kleine, neugeborene Kind in den Schoß. Das Kleinkind fing sofort an zu lachen und streckte seine Ärmchen dem jungen Mädchen entgegen. Und siehe da: Sie hatte zwei Arme und zwei Hände und half Maria dabei, das Kind zu versorgen.
Es war auch diese Nacht, in der Engel allen Menschen verkündeten, dass der Retter der Welt, der König aller Könige, in Bethlehem geboren war. Und auch Hirten verbreiteten diese frohe Botschaft im Lande. So kam es nicht von ungefähr, dass König Herodes davon erfuhr – von der Geburt eines Rivalen. Niemand außer ihm sollte König sein, und so beschloss er kurzerhand, das Kind töten zu lassen.
Dem Josef erschien aber ein Engel im Traum, der ihn vor Herodes warnte und aufforderte, mit Maria und dem Kind nach Ägypten zu fliehen. Und so verließen sie Bethlehem und machten sich auf in das Gebirge. Die Soldaten des Herodes waren ihnen jedoch unerbittlich auf den Fersen. Als die Fliehenden schon fast die Hoffnung aufgegeben hatten, erblickten sie eine Höhle. Sofort krochen Josef und Maria mit dem kleinen Kind im Arm hinein und suchten dort Schutz. Eine Spinne, die in der Höhle wohnte, erblickte das Kind, wie es ahnungslos im Arm seiner Mutter lag. Sie lief zum Eingang und spann in kürzester Zeit ein Spinnennetz. Gerade als das Netz fertig gesponnen war, kamen zwei Soldaten auf der Suche nach dem Kind zur Höhle und wollten sie untersuchen. Einer näherte sich dem Höhleneingang, doch sofort fiel ihm das nagelneue Spinnennetz auf, in dem auch noch die Spinne saß. Niemand hätte die Höhle folglich betreten können, ohne dabei das Netz zu zerstören. Und so machten sich die beiden Soldaten geschwind wieder auf den Weg.
Als die Luft endlich rein war, verließen Josef und Maria mit dem Kind ganz vorsichtig die Höhle, um ja das kunstvolle Spinnennetz nicht zu vernichten. Lediglich ein winziger Faden vom Netz blieb an Marias Tuch hängen. Diesen Faden trug der Wind davon ins Land. Seit jeher nennt man nun die silbrig glänzenden Spinnenfäden, die man an schönen Herbsttagen auf den Feldern und an den Pflanzen hängen sieht, Marienfäden. In den frühen Morgenstunden glitzern Tautropfen an ihnen als Erinnerung an Marias Freudentränen über die wunderbare Rettung.

Die letzte Besucherin (aaO S. 29–31)
Es war am Ende jener Nacht, als der Stern, der die Geburt des Kindes angezeigt hatte, zu verblassen begann und auch der letzte der drei Könige gegangen war; Maria schüttete nochmal das Stroh in der Krippe auf, damit das Kind auch endlich einschlafen konnte. Da öffnete sich langsam und ganz behutsam die Stalltür, als hätte ein Lufthauch sie geöffnet. Auf der Schwelle stand eine alte und runzelige Frau, die keine Schuhe trug und in Lumpen gekleidet war. Ihr Gesicht sah aus wie ausgetrocknete Erde. Sie war krumm und uralt. Maria erschrak bei dem Anblick der Frau und ließ sie nicht aus den Augen. Ochs und Esel hingegen kauten weiter auf dem Stroh herum und sahen die Besucherin ohne Erstaunen an, die sich nun langsam der Krippe mit dem schlafenden Kind näherte. Als sie bei der Krippe angelangt war und sich herabbeugte, da öffnete das Kind plötzlich seine Augen. Und mit Erstaunen musste Maria feststellen, dass sich die Augen ihres Kindes und die der alten Besucherin ähnlich waren. Beide Augenpaare waren erfüllt vom Glanz der Hoffnung. Die Frau kniete sich nun vor der Krippe nieder und fing an, etwas in ihren Tüchern und Lumpen zu suchen. Maria beobachtete die Alte weiterhin voller Misstrauen, schwieg aber. Die Tiere jedoch schauten, als würden sie wissen, was geschehen würde. Es dauerte schier endlose Zeit, bis die Frau gefunden hatte, wonach sie suchte.
Endlich zog die Alte etwas hervor, hielt es verborgen in ihrer Hand und dann legte sie es zum Kind in die Krippe. Nun trat Maria einen Schritt vor. Die Neugier packte sie. Sie wollte wissen, was das für ein Geschenk war – nach all den Schätzen der Drei Könige und den Opfergaben der Hirten. Sie reckte sich, konnte es aber nicht erkennen. Es dauerte wieder eine Ewigkeit, dann erhob sich die Besucherin – wie erleichtert von einer schweren Last. Sie richtete sich auf, ihre Schultern und Rücken waren nun nicht mehr gekrümmt. Ihr Gesicht hatte sich auf wundersame Weise verjüngt. Kerzengerade stand sie im Stall, bevor sie in der Nacht verschwand, aus der sie gekommen war. Nun konnte Maria ihr geheimnisvolles Geschenk betrachten. Es war die Frucht aus dem Paradiesgarten, von der die alten heiligen Schriften berichten. Sie glänzte in den Händen des Kindes.
Swen Nico Brust
Erneut nacherzählt:
Im Rahmen des Seminars: Interreligiöses Lernen
mit Heiligen Schriften und Erzählungen aus den Weltreligionen
(TU Dortmund, WiSe 2016/2017)


TU-DO-WiSe 2016-2017/Weihnachtslegenden, 22.12.2016 

 CC 


Samstag, 17. Dezember 2016

Jesus von Nazareth: Heilungserfahrungen jenseits religiöser Grenzen

See Genezareth mit Golan-Höhen (Wikipedia)
Es gibt viele Elemente, die auf Menschen unterschiedlicher Einstellungen vorbildhaft wirken. Die Bergpredigt hat z.B. für Gandhi vorbildhafte Bedeutung gehabt. Diese vorbildhafte und zugleich so menschlich nahe Vorbildrolle lässt sich etwa an zwei Geschichten erläutern, die über die eigene Religion (Judentum oder Christentum hinaus) Bedeutung gewonnen haben:

a)  Seewandel und Heilung           

     in Verbindung mit einer buddhistischen Geschichte
Die Speisung der 5000 (Mk 6,30-44parr), die Stillung des Sturms (Mk 6,45–52parr) und die Heilung der Tochter einer Syrophönizierin (Mk 7,24–30), ggf in Bezug zur Begegnung der Frau am Brunnen in Samaria (Joh 4,1–41) zeigen neben anderen neutestamentlichen Texten Möglichkeiten und Formen der religiösen Grenzüberschreitung, die der johanneische Christus so formuliert:
„In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen …“ (Joh 14,2)
Dass andere religiöse Traditionen ähnliche Geschichten überliefern und damit schon in der Antike grenzüberschreitendes Gedankengut sichtbar wird, kann man z.B. an den an den buddhistischen Jatakas (ca. 550 Erzählungen) sehen: http://www.palikanon.com/khuddaka/jataka/j000b.htm
Dort gibt es eine erstaunliche Parallele zum Seewandel (Nr. 190): http://www.dharmaweb.org/index.php/Jataka_Tales_of_the_Buddha,_Part_III
Ein Laienbruder, unterwegs zu seinem Meister Buddha, kam an das Ufer eines Flusses. Der Fährmann war nicht mehr da. Von freudigen Gedanken an den Buddha getrieben, ging der Bruder über den Fluss. Als er aber in die Mitte gelangt war, sah er die Wellen. Da wurden seine freudigen Gedanken an Buddha schwächer, und seine Füsse begannen einzusinken. Doch er erweckte wieder stärkere Gedanken an Buddha und ging weiter auf der Oberfläche des Wassers.
b)  Nacherzählung zum Seewandel
     und zur Heilung eines syrophönizischen Mädchens
  • Erinnerungen an die Speisung der 5000 (Mk 6,30-44)
  • Die Erscheinung auf dem Wasser (Mk. 6, 45-52)
  • Die unvergesslichen Begegnungen bei Tyrus (Mk 7,24-30)
  • Erlebnis in Samarien (Johannes 4,1-41), vgl. Johannes 14,2: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen ...“
Er war es leid, er war es wirklich leid. Die Wunder hatten ihn nicht nur körperlich, sondern auch seelisch geschafft. Dabei wollte er gar keine Wunder tun. Aber er hatte es nicht mit ansehen können, wie Tausende seiner Predigt begeistert gefolgt waren und nun hungrig und ermattet im Grase lagen. Da hatte er seine Jünger aufgefordert von dem bisschen, was sie hatten, der Menge zu geben. Und das Unvorstellbare geschah, Tausende wurden satt und liessen noch übrig. Da wollten die Leute ihn zum König machen, weil er so tolle Dinge tun konnte. Aber das hatte ihm gerade noch gefehlt. Immerhin war es Abend geworden und die Leute wollten denn doch nach Hause. Dazu mussten sie über den See fahren.
Die Jünger organisierten den Abtransport. Dann war es endlich ruhig. Es wurde auch still in ihm. Er betete. Als er aber seine Blicke über den See schweifen liess, sah er, wie seine Jünger mit tückischem Gegenwind zu kämpfen hatten, der ihr kleines Boot fast zum Kentern brachte. Das war so ungewöhnlich nicht für den See Genezareth. Aber musste das nun ausgerechnet heute Abend sein? Immerhin waren seine Jünger von diesem langen Tag auch ganz schön kaputt, und sie schienen keinen Zentimeter voranzukommen. Die Stunden vergingen, und dieser Sturm hörte nicht auf.
Gegen Morgen hielt es ihn nicht länger in der Einsamkeit. Er wollte vor seinen Jüngern am andern Ufer ankommen und sie empfangen. Da passierte es wieder - das Wunder. Sie sollten es gar nicht merken. Wie ein Geist huschte er über das Wasser. Als die Jünger jedoch diese Erscheinung sahen, gerieten sie in Panik. Was sollte er tun? Er redete ihnen gut zu und kam ins Boot. Mit einem Mal hörte der Sturm auf.
Es verschlug ihnen die Sprache. Das blanke Entsetzen stand noch in ihren Gesichtern. Und trotz der Speisung von Tausenden und dieser Begegnung auf dem Wasser - sie hatten noch immer nichts kapiert.
Die einen – besoffen von Wundergläubigkeit, die anderen verängstigt,
wenn Ungewöhnliches geschieht. Er hatte vorläufig genug von seinen Glaubensfreunden.
Er brauchte einfach einmal andere Leute. Die eigenen Frommen können einem ganz schön auf den Geist gehen.
Römischer Triumphbogen in Tyros (Wikipedia)
So ging er - wie schon so oft - ins Heidenland. „Heidenland“, das war ein beliebter Ausdruck der Frommen, wenn sie sich den ganzen Götzenkult und Aberglauben in der Nachbarschaft vor Augen hielten. Dorthin konnte er unerkannt gehen. Soweit hatten sich wohl seine Wunder noch nicht herumgesprochen. Es ist schon eine Last, ein Promi zu sein.
Aber da, in dieser Ecke vor Tyros im Süden des Libanon, da konnte er für sich sein. Doch er hatte sich gründlich getäuscht. Es dauerte gar nicht lange, da kam eine Frau zu ihm. Er machte sich zuerst keine Sorgen, erkannte er doch an ihrer Kleidung, dass sie keine Jüdin war. Sie hielt ihn an und erzählte ihm von ihrer kranken Tochter. Ein Dämon hatte sich in ihr eingenistet und drohte ihr, das Leben zu rauben. Es sprudelte nur so aus dieser gequälten Frau heraus, dann fiel sie auch noch vor seinen Füssen nieder, so dass er nicht weitergehen konnte. Sie flehte ihn an, den bösen Geist aus ihrer Tochter auszutreiben. Sie schaffte es einfach nicht mehr als Mutter.
Aber der sonst so milde Jesus hatte seinen schlechten Tag. Er schlug ihr gewissermaßen die Antwort um die Ohren: „Zuerst müssen die Kinder satt werden. Es ist nicht in Ordnung, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Mit dem Bild von den Hunden setzte er noch eins oben drauf, denn Hunde galten in Israel als unrein. Und jetzt verglich er diese arme Frau und ihr krankes Kind mit Hunden. Jeder kann sich die Reaktion auf so eine Beleidigung ausmalen, muss sie doch wie ein Ausdruck tiefster Menschenverachtung wirken.
Aber die Frau reagierte ganz anders, als es sich der Mann aus Nazareth erwartet hatte: „Gewiss, Herr, wandte sie ein, „aber die Hündchen bekommen doch wenigstens die Brotkrumen, die die Kinder unter den Tisch fallen lassen.“
Hündchen, hatte sie gesagt, wo er doch aussätziger Köter gemeint hatte. Vor seinem inneren Auge blitzte eine andere Geschichte auf, die er kürzlich in Samarien, dem sog. Ketzerland erlebt hatte. Bei wesentlich besserer Stimmung hatte er eine Frau am berühmten Jakobsbrunnen um Wasser gebeten. Damals hatte er alle frommen Vorurteile abgelegt: Zuerst hatte er als Mann eine Frau angesprochen, was eigentlich verboten war, und dann hatte er diese Frau angesprochen, die wahrhaftig einen liederlichen Lebenswandel führte und es auf sieben Männer in kurzer Zeit gebracht hatte, geschweige denn Ehemänner. Das sah man ihr auch an. Dazu musste man noch nicht einmal Prophet sein. Damals hatte er nicht den traditionsbesessenen Juden herausgekehrt. und wie wunderbar war diese Geschichte ausgegangen. Siedend heiss schoss ihm dieses Erlebnis durch den Kopf, und wie mit einem Windstoß, war seine ganze miese Stimmung und Aggression verflogen.
„Das ist ein Wort“, sagte er zu der Frau. Und er dachte: „Ich mit meinen Wundern bin doch eine Null gegen eine solche Frau, das ist doch Glaube und nicht das, was ich mache, und wenn es noch so wunderbar ist.“
Da spürte er trotz aller Müdigkeit und Abgeschlagenheit wieder diese innere Kraft in sich. Heiter und mild beugte er sich herunter zu der Frau und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist die Meisterin und ich der Jünger, geh nach Hause, deine Tochter leidet keine Qualen mehr.“
Die Frau ging nach Hause. Sie war noch ganz benommen. Als sie ins Zimmer kam, lag ihr Kind auf dem Bett und lächelte die Mutter an. Zum ersten Mal seit langem.
Der Mann aus Nazareth jedoch nahm sich vor, nie mehr einen Menschen wegen seines anderen Glaubens zu verachten. Er fing an, sich richtig wohl zu fühlen - im Heidenland.

Didaktische Anmerkungen
Nur am Rande sei erwähnt, dass es im Buddhismus eine Parallelgeschichte zur Speisung der 5000 gibt. Hier steht etwas anderes im Vordergrund- Durch die Neuerzählung wird zum einen interreligiöses Lernen möglich, wenn man/frau sich darauf einlässt, dass Jesus sowohl geografisch wie geistig das Territorium der jüdischen Religion verlässt. Die Einbindung mehrerer Geschichten in diesen Erzählzusammenhang ermöglicht zum anderen, den Auftrag Jesu unter verschiedenen Gesichtspunkten teilweise etwas abseits der üblichen exegetischen Auslegungen zu sehen:
·      Jesus widersetzt sich den klassischen Messiasvorstellungen, in denen der Messias ein irdisches Reich aufrichten wird.
·      Jesus wird bewusst mit seinen menschlichen Schwächen gezeichnet. Der dogmatische Topos der Sündlosigkeit wird um der menschlichen Glaubwürdigkeit und Authentizität Jesu aufgegeben.
·      Mit dem messianischen Zeitalter sind Wunder der verschiedensten Art verbunden, auf die die Adressaten entweder gar nicht oder in ganz anderer Weise gefasst sind. Das Aufregende an der syrophönizischen Frau ist, dass Jesus darauf nicht gefasst ist und im Grunde ähnliches an sich selbst erlebt wie seine Jünger bei dem Sturm auf dem See.
·     Die zusammengestellten Geschichten eignen sich besonders gut, um Grenzüberschreitungen ins Licht zu rücken und deutlich zu machen, dass auch anders Glaubende gleichwertig dem eigenen Glauben und der eigenen religiösen Tradition sind. Auch Jesus gehört hier zu den Lernenden, er lernt aber erstaunlich gut und vorbildhaft für seine Nachfolger/innen.
·     Dabei wird nicht die Schwierigkeit von Grenzüberschreitungen verschwiegen. Gerade unbewusste Denkvorausetzungen und Vorurteile können so überwunden werden. So wird ein interreligiöser Dialog möglich. Hier regiert nicht die Furcht, man dürfe das Andersartige und Fremde der anderen Religion nicht ansprechen.
·     Wer aber riskiert, die Begegnung mit anderen Glaubenstraditionen zu suchen, wird vielleicht verblüfft feststellen, dass in anderem Glauben oft eine tiefere Erkenntnis (vielleicht sogar die einem selbst verborgene Wahrheit) steckt, als im eigenen bisherigen Glaubensleben.
·     Letztlich lässt sich mit dieser und ähnlichen Geschichten eine Verbindung zur Erzählung von den Höhenheiligtümern des Salomo  (1. Könige 3,1-28) ziehen. Es wird eine ähnliche Tendenz sichtbar, nämlich in der Vielfalt sich auf das eine Göttliche, die letzte Wirklichkeit einzulassen.
·    Eine Vorverurteilung und Negativ-Bewertung einer anderen Religion ist von daher nicht mehr möglich; allerdings brauchen im Dialog die Schwächen und Fehlentwicklungen in den einzelnen Religionen nicht verschwiegen werden. Sie können vielmehr helfen, ohne dass sich die überhebliche Vorstellung einschleicht: „Ich bin stolz, ein Christ zu sein“ (als religiöse Variante zu: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“). 
Reinhard Kirste
Bearbeitet,  Erstfassung in:
„Gespiegelte Wahrheit. Biblische Geschichten und Kontexte anderer Religionen.
Iserlohner Con-Texte 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, S. 39–40
Lizenz: Creative Commons: 


relpäd/Syrophönzierin, 17.12.16 

Dienstag, 13. Dezember 2016

"Weihnachten" - Göttliche Menschwerdung bei Paulus und im Johannes-Evangelium

Freiheit neuer Menschlichkeit - interreligiöse Aspekte der Inkarnation
1. Paulus:
Die Geburt Jesu im Geist
Der synoptische Vergleich der beiden Weihnachtsgeschichten bei Matthäus und Lukas reicht nicht aus.
Es soll darum der Versuch unternommen werden, das Weihnachtsgeschehen auch ohne Formbildung durch die Legende zu verstehen. Im Römerbrief (1,3f) geht Paulus von der menschlichen Seite her auf die Davidstradition zurück. Dem Gesichtspunkt "nach dem Fleisch" stellt er den "nach dem Geist" gegenüber; die Bestätigung der Gottessohnschaft wird erst durch die Auferstehung geleistet. Damit legt Paulus sich aber von Anfang an auf eine Geburt Jesu im Geist fest, die eine Existenz bei oder in Gott vor dieser Geburt voraussetzt (Präexistenz). Schon die früheren Überlegungen des Paulus im Galaterbrief gehen von dieser Präexistenz Jesu aus; von ihr her wird Jesus faktisch als Gottes Sohn benannt. [1]
Die Realisierung erfolgt in Galater 4,4f als Erfüllung der Zeit unter den Bedingungen menschlicher Gesetzmäßigkeiten. Damit wird die doppelte Zielrichtung der Geburt Jesu nach göttlicher und menschlicher Weise nicht bestritten. Bei solchen theologischen Überlegungen kann Paulus auf den Rückgriff in mythische Dimensionen verzichten: Er braucht keine Jungfrauengeburt wie Matthäus und Lukas, sondern stellt die Geburt Jesu in den Zusammenhang der Befreiung des Menschen, die er in der Spannung von Gesetz und Evangelium und nicht biografisch abhandelt. Auch so lässt sich das Ereignis des Heils adäquat ausdrücken. Paulus beruft sich dabei in Gal 4,4ff auf vorgeprägte Traditionen der christlichen Gemeinden beruft, die er bewusst zitierend aufnimmt. Der Gedanke der Befreiung wird für Paulus nun gleichzeitig Impuls für seine Mission, die er im Weltmaßstab sieht. Darum wird die Freiheit zum Motiv der wahrhaften Gesetzeserfüllung: "Denn ihr seid zur Freiheit berufen, ihr Brüder. Nur lasst die Freiheit nicht zu einem Anlass für das Fleisch werden, sondern dient einander durch die Liebe. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich in dem: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst " (Galater 5,13-14). 
Es soll hier nicht weiter ausgeführt werden, wie das Verhältnis Juden und Christen nach Paulus aussieht
(vgl. Römer 9-11), weil  hier die über das Christentum hinausgehenden Folgen der Menschwerdung Gottes bedacht werden sollen. Immerhin lässt sich bereits aus dem Galaterbrief ableiten, dass die Mission eine Mission der Liebe zu sein hat. Die Riten spielen dabei letztlich keine Rolle mehr, wie Paulus dann noch einmal am Verhältnis Juden-Christen deutlich macht: "Denn weder Beschneidung gilt etwas noch Vorhaut, sondern nur eine Neuschöpfung" (Gal 6,15).
2. Johannes
In gewisser Weise lässt sich dieser Gedanke auch im Johannes-Evangelium wiederfinden: Der Prolog Kap. 1,1-14: Am Anfang war das Wort ... signalisiert die Zeit und Raum übersteigende Bedeutung des Mensch gewordenen Logos. Er existiert bereits präexistent. Ihm stehen verschiedenen Möglichkeiten offen. Indem sich der Logos in Zeit und Raum begibt repräsentiert er als Mensch Jesus die unmittelbare Nähe und Zusammengehörigkeit mit dem ewigen Losgos, mit "Gott". Hier kommen also universales und kosmologisches Denken unter soteriologischen Gesichtspunkten zusammenkommen. Der Logos, der als Licht in die Welt kommt, erinnert nun an den berühmten Lichtvers im Koran, so dass hier zwischen dem Johannesprolog und Sure 24,35 fast ein Gleichklang zu entstehen scheint: "Gott ist das Licht des Himmels und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische mit einer Lampe darin. Licht über dem Licht."
Das originale Gottes-Bild, ist gewissermaßen der Logos. Er ist gleichzeitig das Licht Gottes und das Licht in Gott. Im Judentum gibt es auch die Rede von einem Ur-Licht, das hinter der Welt in allen Dingen und Wesen leuchtet und sie zu Transparenten und Gleichnissen für Gott macht. Das hier im Koran angesprochene Licht bezieht auf die Erleuchtung, die Mohammed erhielt, m.a.W. die göttliche Inspiration durchleuchtete ihn als Offenbarung. Er gehört damit zu denjenigen Menschen, die das Licht im Sinne des Johannesevangeliums "erkannten". Dieses Licht erleuchtet jeden Menschen, seit es Menschen gibt. "Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt" (Joh  1,9). Alles Wahre, Gute und Schöne, das im Geiste und in den Herzen der Menschen aufleuchtet, stammt daher.
Nun ergänzt der Koran: Das Licht fällt wie aus einer Nische, das heißt - es macht selbst einen Schatten. Wir sind selbst wie eine Nische, die ihre Schatten auf die Dinge wirft. Das Ur-Licht strahlt in allen Dingen, aber die Menschen nahmen nur die Schatten wahr und die Dinge sehen sie "verschattet". Deshalb ist es notwendig, die Position zu wechseln, um vom Licht beschienen zu werden, m.a.W. es ist notwendig, die menschlichen Augen zu entschatten und lichtvoll zu werden. Das geschieht im täglichen Tun, dann nur so können  die Angeleuchteten das Leuchten des Ur-Lichts in den alltäglichen Dingen wahrnehmen. Weil die Welt aber ihre Augen beschattete, d.h. nicht offen hielt, konnten die so Beschatteten den Erlöser bzw. das Erlöser-Licht nicht sehen. Das hatte zur Folge, dass Der Weg des Mensch gewordenen Logos am Kreuz endete [2]. Nur jene, die den Logos als solchen erkannten und aufnahmen (Joh 1,10f), sahen darum die lichtvolle Herrlichkeit, die   als Erlöser/Offenbarer inkarnierend  in die Welt kam. Die auf solche Weise „sahen“ wurden Kinder Gottes (V. 12).
Diese besondere Sichtweise des Johannesevangeliums spielt bei der Auslegung von Kap. 3,14,16 wiederum eine Rolle. Dort überspringt die universale Weite des Lichts die herkömmlichen Fokussierungen auf bestimmte Glaubensweisen. Um es vorweg zu nehmen, der Logosgedanke bietet einen pluralistischen Ansatz deshalb, weil der Gedanke des Lichtes, das sich in Jesus inkarniert, immer wieder auf das göttliche Licht zurückweist. Wer also dieses göttliche Licht erkennt, aus welchem Gesichtswinkel auch immer, wer auf welche Weise auch immer "entschattet" wird, der findet das Heil, so wie jene Astrologen und Weise aus dem Morgenland, die sich nach Bethlehem aufmachten.
3.  Folgerungen zum heutigen Verstehen der Inkarnation
Aus diesen Überlegungen lassen sich m.E. nicht nur für Paulus und Johannes, sondern für alle neutestamentlichen Autoren gemeinsame Denklinien und Intentionen für die Inkarnation / Menschwerdung Gottes / des Göttlichen  ableiten:
  1. Gott befreit durch das Ereignis der Inkarnation Menschen aus den Fesseln ihres angstvollen und verzweifelten Alltags und signalisiert damit den Anbruch einer heilvollen Zukunft, die in den Evangelien als Reich Gottes bzw. universale Herrschaft Gottes beschrieben wird.  Damit wird eine Vision Realität, die den auf diese Hoffnung hin Lebenden Freude und Frieden schenkt.
  2. Diesen Neubeginn, die Erfahrung der ewigen Menschenfreundlichkeit Gottes in der Zeit, versucht Theologie mit ihren Sprachmöglichkeiten zu beschreiben. Es sind Aussagen zur Erlösung des Menschen, die er nicht selbst bewirken kann. Der Mensch bedarf also des Angenommenseins durch dei Barmherzigkeit Gottes. Das gilt für alle Menschen.
  3. An der historischen, mythischen und legendarischen Person Jesu wird das sog. Heilsereignis "Inkarnation" für die ganze Menschheit literarisch unterschiedlich festgemacht. Das zeigt der Vergleich von Paulus und Johannes mit Matthäus und Lukas beweist. Immerhin bleibt für alle unbestritten, dass Jesus als "Sohn Gottes"     (unabhängig von den Fragen der Präexistenz) durch sein Kommen in die Zwänge gesellschaftlicher und religiöser Normen gerät. Die historische Existenz beeinflusst das Leben Jesu von Anfang an. Theologisch wird hier schon der Weg von der Krippe zum Kreuz vorgezeichnet.
  4. Weil Jesus als Licht der Welt bzw. als göttlicher Logos in die Welt gesandt ist, zerbricht der Mensch gewordene Logos bisherige menschliche Verhaltensmuster (nach Paulus das Gesetz). Dieser menschlich erfahrbare Logos bringt denen in aussichtsloser Lage und Bedrängung Hilfe, Befreiung und Freude. Dies ist nicht auf ein Volk, sonder auf die gesamte bewohnte Welt, die Oikumene, bezogen, das heißt in der Konsequenz, dass mit der Inkarnation religiöse Grenzen überschritten werden (können).

4.  Interreligiöse Anklänge
Die theologischen Ansätze im Neuen Testament haben damit keineswegs exklusiven, bestimmte Menschengruppen ausschließenden Charakter, sondern wir entdecken einen inklusivistischen Ansatz, mit dem die biblischen Autoren versuchen, das Heil der Welt jedemann und jederfrau nahe zu bringen.[3]
In einem solchen inklusivistischen Ansatz lassen sich nun auch religionspluralistische Elemente entdecken, die in der Geschichte von den Heiligen Drei Königen - den Weisen, Magiern, Astrologen - aus dem Morgenland besonders augenfällig werden. Ebenso auffällig ist, dass Träume in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Die nicht-jüdischen und nichtchristlichen Weisen sind auch im Zusammenhang mit ihren Träumen in die eine Wirklichkeit eingebettet, in der Zeit und Ewigkeit, Immanentes und Transzendentes zusammenklingen.




[1]  Vgl. Alfred Oepke: Der Brief des Paulus an die Galater, ThHNT 9,. Berlin: EVA 1964, S. 88f und
               Heinrich Schlier: Der Brief an die Galater.
               Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament.
               Göttingen: V & R 1965 (4. durchgesehene Aufl. der Neubearb.), S. 195ff

[2] Vgl. Thomas Söding: Eine Karriere steil nach unten (Weihnachtsvorlesung, RUB, WiSe 2013/204)

[3]  Vgl. zum Ganzen: Kommentare aus "Bibelwissenschaft.de":
     --- Jesus als Gottessohn: hier
     --- Matthäus: hier  --- Lukas: hier
     --- Markus: hier 
         Markus 1,10-11: Wird Jesus zum Gottessohn adoptiert?
        James R. Edwards: The Baptism of Jesus
        According to the Gospel of Marc.
 (JETS 34/1 [March 1991, 43-57])
   
Ältere Kommentierungen:
§   Eleonore Beck: Gottes Sohn kam in die Welt. Sachbuch zu den Weihnachtstexten. 
Stuttgart: Kath. Bibelwerk (KBW) 1977, 188 S., Abb., Register
§   Hans Conzelmann. Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas. Tübigen: Mohr 1977
§   Walter Diqnath, Die lukanische Vorgeschichte. Handbücherei für den RU Nr. 8.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1971
§   Karl Gutbrod, Die "Weihnachtsgeschichten" des Neuen Testaments. Stuttgart: Calwer 1971
§   Susan K. Roll: Toward the Origins of Christmas. Liturgia condenda 5.  Kampen (NL): Kok Pharos 1995
§   Julius Schniewind, Das Evangelium nach Markus. NTD 1, Göttingen: Vandenhoeck 8 Ruprecht 1959
§   ders., Das Evangelium nach Matthäus. NTD 2, Göttingen: Vandenhoeck 8 Rprecht 1960, 9. Aufl.

Aus: Reinhard Kirste: Die Bibel interreligiös gelesen.
Interkulturelle Bibliothek, Bd. 7. Nordhausen: Bautz 2006,
S. 85-89, überarbeitet und aktualisiert
WiSe 2016/2017